Danach fragt auch der Sammelband „Mythos Partizan“. Die Herausgeber*innen und Autor*innen des Bandes, der aus einem Projekt der Hans-Böckler-Stiftung zum jugoslawischen Partisan*innenwiderstand im Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist, halten zwar fest, dass das jugoslawische Modell gescheitert ist: „Die sozialen und politischen Folgen des Zerfalls Jugoslawiens sind […] als Ausdruck des Scheiterns des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus nur durch eine genaue Untersuchung der unmittelbaren Vergangenheit zu verstehen.“ (S. 11).
Dennoch wollen sie nach uneingelösten Befreiungsversprechen in der jugoslawischen Vergangenheit suchen, an die neu angeknüpft werden kann. Doch wird dieser Anspruch eingelöst und trägt der Sammelband mit seiner Untersuchung der unmittelbaren Vergangenheit zum Verständnis der Gegenwart im ehemaligen Jugoslawien bei? Und was können wir aus dieser Untersuchung für zukünftige Befreiungsprojekte lernen?
Kritik des Geschichtsrevisionismus
Der Sammelband ist in vier Abschnitte gegliedert. Der erste Teil enthält Überblicksdarstellungen zur Geschichte Jugoslawiens und zur Geschichte der jugoslawischen Linken. Der folgende Teil behandelt den Zweiten Weltkrieg, der dritte Teil beleuchtet die Erinnerung an diesen, und schliesslich geht es im vierten Teil um gesellschaftliche Konflikte sowohl unter Tito als auch in den Nachfolgestaaten, neben Überblicksdarstellungen zur Linken insgesamt und zur LGBTIQ-Bewegung im Besonderen werden hauptsächlich Beispiele aus Serbien behandelt.Đorđe Tomić und Krunoslav Stojaković zeichnen die Entwicklung der jugoslawischen Linken vom utopischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs nach. Holm Sundhaussen verteidigt in seiner Darstellung der jugoslawischen Geschichte die königstreuen serbischen Tschetniks, ihre Kollaboration mit den Besatzern im Zweiten Weltkrieg sei nur „taktisch motiviert“ gewesen. Dieser These widerspricht hingegen Roland Zschächner im zweiten Teil und weist auf die ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen Tschetniks und faschistischen Besatzern hin. Der zweite Teil enthält ausserdem eine Darstellung des Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Jugoslawien und ein Interview mit serbischen Partisan*innen.
Danach wird im dritten Teil herausgearbeitet, wie die Geschichte des Zweiten Weltkriegs die jugoslawischen Nachfolgestaaten bis heute beherrscht. Dabei geht es um die Bewertung der antifaschistischen, kommunistisch geführten Partisan*innen, der Tschetniks sowie der faschistischen kroatischen Ustascha und anderer Kollaborateur*innen der Besatzungsmächte.
Kollaborateur*innen werden heute rehabilitiert, und die Partisan*innen werden, wo sie nicht offen abgelehnt werden, nationalistisch vereinnahmt. Dies wird anhand der Zeit von Milošević in Serbien illustriert, in der die Partisan*innen als rein serbische statt jugoslawische Bewegung dargestellt wurden, Beispiele aus den anderen Staaten fehlen. Detailliert belegt Mara Puškarević die Tendenz zur Rehabilitation anhand von serbischen Schulbüchern: Nicht nur der Tschetnik-Führer Mihajlović, sondern auch Milan Nedić, Ministerpräsident des von Nazi-Deutschland besetzten Serbien, werden dort sehr positiv dargestellt, Nedićs Beteiligung an Nazi-Verbrechen bleibt unerwähnt.
Am Beispiel Serbiens stellt Olivera Milosavljević die These auf, seit Mitte der 1980er Jahre hätten Historiker*innen eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung eines nationalistischen Geschichtsbildes inne; dabei hätten sie teils der politischen Elite gedient, teils selbst die Initiative ergriffen. Leider belegt sie diese Aussage nicht mit konkreten Beispielen.
Abgerundet wird der dritte Teil durch Beiträge zu Aspekten der Erinnerungspolitik wie den jugoslawischen Partisan*innendenkmälern und zur Rolle des Fussballs bei der Verbreitung nationalistischer Ideologie, kroatische Fans zeigen offen Ustascha-, serbische Fans Tschetnik-Symbolik.
Arbeiterselbstverwaltung, Praxis-Philosophie und '68er
Die jugoslawischen Kommunist*innen versprachen nach dem Bruch mit der Sowjetunion ein demokratischeres Sozialismusmodell, die Arbeiterselbstverwaltung. 1968 entstand in Jugoslawien eine Studierendenbewegung, die die Erfüllung dieses Versprechens forderte. Sie richtete sich sowohl gegen den weiter bestehenden Bürokratismus als auch gegen die zunehmende soziale Ungleichheit, die mit den marktwirtschaftlichen Reformen seit Mitte der 1960er Jahre einherging. Der 68er-Bewegung wurde jedoch genauso mit Repression begegnet wie der Gruppe von Philosoph*innen um die Zeitschrift Praxis. Es handelte sich hier um undogmatische Marxist*innen, die grossen Einfluss auf die '68er-Bewegung hatten.Insgesamt wird deutlich, dass die versprochene Selbstverwaltung an ihrer Beschränkung auf die betriebliche Ebene scheiterte. Auf höherer Ebene blieb das Machtmonopol der Partei in Kraft und stand immer in Konkurrenz zu den Entscheidungsbefugnissen der Arbeiterräte. Eine echte Selbstverwaltung, die durch basisdemokratisch gewählte Räte verschiedener Ebenen ausgeübt wird, bleibt also ein Projekt, das nach wie vor auf seine praktische Erprobung wartet.