Élisée Reclus: Staat, Fortschritt, Anarchie Ein progressiver und emanzipatorischer Denker des Ganzen
Sachliteratur
Beim Verlag Matthes & Seitz ist kürzlich ein wunderbar Band mit drei Texten des französischen Geografen und Anarchisten Élisée Reclus erschienen.
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20. August 2024
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Die beiden Herausgeber Andreas Gehrlach und Stephan Zandt haben sich viel Mühe gemacht, in ihrer Einleitung in wenigen Seiten auf den Punkt zu bringen, warum Reclus ein unterschätzter Denker war, bei dem sich auch heute Inspiration finden lässt. (s.u.) Seine holistische Denkweise, seine Hoffnung auf die Gestaltung eines konvivialen – d.h. ko-existierenden – gesellschaftlichen Naturverhältnisses – weswegen er auch als ein Vordenker des Antispeziesismus gilt.
Gleichzeitig betonte er die Notwendigkeit einer sozialen Revolution und wollte sie im eigenen Lebensumfeld radikal vorwegnehmen. Dies macht ihn zu einer der wenigen Figuren, welche als Intellektuelle dennoch explizit anarchistische Ansichten vertraten – ohne daraus einen radical chic zu machen.
Deutlich wird dies unter anderem daran, dass Reclus seinen beiden Töchtern gestattete, ohne staatliche und kirchliche Eintragung zu heiraten und dies mit einer Anti-Ehe-Kampagne 1882 verband. Was inzwischen selbstverständlich klingt, erschien vor 140 Jahren dermassen skandalös und undenkbar, dass sich selbst zahlreiche radikale Sozialisten seinerzeit von Reclus distanzierten.
Es wird gesagt, dass sein Companion Peter Kropotkin aus diesem Grund fünf Jahre lang in Lyon inhaftiert wurde. (Möglicherweise stand dies aber ebenso in Verbindung mit militanten Streiks von Bergarbeitern.) Jedenfalls wird deutlich, das Reclus feministische Anliegen offen unterstützte, wie er auch – trotz der Verhaftung seiner Sprache in seiner Zeit – antirassistische Bestrebungen teilte und sich während seines erzwungenen Exils in den USA gegen die Sklaverei wandte.
Vom Autoren einer 19-Bändigen, bebilderten Universal-Geografie sind darüber hinaus bisher kaum Texte ins Deutsche übersetzt worden. Auf Englisch findet sich weit mehr. Insbesondere zu empfehlen ist das 2013 von John P. Clark und Camille Martin herausgegebene Buch Anarchy, Geography, Modernity. Selected Writings of Elisée Reclus.
Dieses umfasst 11 wesentliche Texte von Reclus, darunter auch die drei des neu auf Deutsch erschienen Buches. Darüber hinaus umreissen die beiden Autor*innen auf fast 100 Seiten die Bedeutung von Reclus, den sie damit wieder aktualisiert und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht haben.
Élisée Reclus: Staat, Fortschritt, Anarchie. Verlag Matthes & Seitz Berlin 2024. 173 Seiten. ca. SFr. 20.00. ISBN: 978-3-7518-3000-3.