Ein einziger Tatort
Diese Geschichte Afghanistans ist geprägt von ausländischen Militärinvasionen und -interventionen: Da waren die mehrmaligen kolonialen Eroberungsversuche der Briten im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die sowjetische Intervention 1979–89 und schliesslich die NATO-Invasion von 2001–21. Feroz geht auf all diese Konflikte ein, sein Schwerpunkt liegt allerdings auf der jüngsten Invasion. Der erste Teil widmet sich der Vorgeschichte dieses Krieges und seinen verschiedenen Akteuren. Im zweiten listet Feroz die „sechs grossen Vergehen des ‚War on Terror' in Afghanistan“ auf. Zum Abschluss folgen Gespräche mit Afghan*innen, die die politische Komplexität des Landes zu erahnen helfen; ausserdem geht der Autor auf die sogenannten Afghanistan Papers ein und zieht 20 Jahre nach Kriegsbeginn und inmitten des Abzugs der NATO-Truppen eine Bilanz.Feroz legt den Finger in viele offene Wunden und klärt akribisch über die westlichen Verbrechen im „War on Terror“ auf: Angefangen bei der Tatsache, dass der Einmarsch in Afghanistan entgegen aller Legenden keine von UNO oder Völkerrecht gedeckte Intervention, sondern ein illegaler Angriffskrieg der NATO war, über die massenhafte Ermordung von Zivilist*innen und das Auslöschen ganzer Dörfer – durch Drohnen, Kampfflugzeuge oder marodierende Truppen –, über systematische Folter und Entführungen angeblicher Verdächtiger inklusive deren gezielter Vertuschung bis hin zur Etablierung einer von der US-Regierung abhängigen „Kleptokratie“ (S. 51) aus korrupten Politiker*innen, Warlords, Geheimdienstlern und gekauften Stammesführern. Auch schreibt er über die durch den Krieg losgetretenen Fluchtbewegungen, im Zuge derer Millionen Menschen für viel Geld und unter Lebensgefahr ihre Heimat verliessen; oftmals, um dann in europäischen Flüchtlingsunterkünften zu verelenden oder mit der Behauptung, Afghanistan sei „sicher“, wieder dorthin abgeschoben zu werden.
Besonders scharf geht der Autor dabei mit den Strippenzieher*innen in Washington und mit der afghanischen Kompradoren-Bourgeoisie (also der von den Besatzungsmächten abhängigen Elite) um die ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai und Ashraf Ghani ins Gericht. Aber auch die BRD kommt nicht ungeschoren davon: Feroz benennt ihre Verbrechen, vom Kunduz-Massaker unter Leitung des mittlerweile zum General aufgestiegenen und mehrfach beförderten Georg Klein über das „‚Herzstück' des illegalen Drohnenkrieges“ (S. 146) in Ramstein. Aber auch das persönliche Eintreten Frank-Walter Steinmeiers (SPD) für eine faktische Generalamnestie sämtlicher NATO-Verbrechen in Afghanistan, das widerwärtige „Geschenk“ anlässlich Horst Seehofers (CSU) 69. Geburtstag in Form von 69 abgeschobenen Afghanen oder der staats- und kriegstragende Journalismus deutscher Leitmedien finden Erwähnung.
Feroz weist zudem auf die wenig beachtete Tatsache hin, dass das aufgrund seiner vielen rechtsradikalen Vorfälle bekannt gewordene Sondereinsatzkommando (KSK) der Bundeswehr ebenfalls in Afghanistan im Einsatz war. Der Autor vermutet, dass die Neonazis im KSK ihren Rassismus und ihre Gewaltgeilheit in Afghanistan und an Afghan*innen ungezügelt ausleben konnten.
Dass sie damit nicht alleine waren, zeigen zahlreiche Beispiele vor allem US-amerikanischer Soldat*innen, deren bestialische Morde und deren offen zur Schau gestellten antimuslimischen Rassismus der Autor detailliert nachzeichnet. Auch, dass dieser Rassismus nicht nur ein Problem von Rechtsradikalen ist, sondern quasi zur Essenz des „War on Terror“ gehört, legt Feroz eindrücklich dar.
Antikommunistischer Makel
Eine andere Wunde, die Feroz offenlegt, ist die des auch unter (nicht nur westlichen) Linken durchaus vorhandenen orientalistischen und islamfeindlichen Chauvinismus. Er schiesst dabei allerdings über das Ziel hinaus und attestiert letztlich fast der gesamten politischen Linken wie auch der damaligen Sowjetunion und den Kommunist*innen der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) Orientalismus, Rassismus und Imperialismus. Tatsächlich ist Afghanistan eines der wohl kompliziertesten und widersprüchlichsten Kapitel in der Geschichte der linken und kommunistischen Bewegung. Feroz' Anklagen tragen letztlich wenig zu dessen Verständnis oder Klärung bei; auch, weil er eine mitunter platt antikommunistische Attitüde zur Schau trägt.So taten Feroz zufolge die Kader der DVPA vor der Machtübernahme nichts anderes, als junge Afghan*innen zu „indoktrinieren“ (S. 73) und später alle, die ihnen zwischen die Finger kamen, zu foltern; ihr gesamtes Handeln war angeblich eine billige Kopie sowjetischer Vorbilder und ihre Anhänger*innen wurden allesamt einer „Gehirnwäsche“ (S. 72) in der UdSSR unterzogen. Zu diesen provokant-reisserisch formulierten Charakterisierungen kommt hinzu, dass Feroz dabei historische Fakten verdreht und verfälscht: So stellt er etwa die Machtübernahme der Kommunist*innen 1978 und die sowjetische Militärintervention im Jahr darauf als Reaktion auf einen Eklat zwischen dem damaligen afghanischen Präsidenten Mohammed Daoud Khan und Leonid Breschnew dar.
Das widerspricht jeglicher historischer Wahrheit. Der Staatsstreich hatte innenpolitische Gründe: Daoud versuchte, die DVPA zu zerschlagen und diese trat die Flucht nach vorn an, indem sie den autokratisch herrschenden Präsidenten stürzte und so, quasi aus Versehen, die Staatsmacht eroberte. Die Sowjetunion ihrerseits hielt Afghanistan für noch lange nicht „reif“ genug für den Sozialismus, war stets um ein konstruktives nachbarschaftliches Verhältnis zu den feudalen und bürgerlichen Regierungen in Kabul bemüht gewesen und wurde von dem Umsturz durch die DVPA kalt erwischt. Aus diesen Gründen verhielt sich die KPdSU-Führung zunächst relativ distanziert gegenüber dem „kommunistischen Regime“ in Kabul und lehnte lange und wiederholt Bitten der DVPA um militärische Beihilfe gegen die Mujahedeen-Rebellen ab; sie war sich durchaus bewusst, dass eine solche Intervention sowohl die afghanische Regierung als auch die Sowjetunion Sympathie in der afghanischen Bevölkerung kosten würde.
Ausserdem reproduziert der Autor die in der westlichen Literatur, aber auch unter manchen Afghan*innen verbreitete Legende von der „goldenen Ära der Demokratie“ (S. 136), die durch den von den Kommunist*innen unterstützten Putsch Daouds 1973 beendet worden sei. Dass es mit dieser „goldenen Ära“ nicht weit her war, deutet Feroz selbst an anderer Stelle an, wenn er schreibt, dass parallel zu den ersten Wahlen in der nun konstitutionellen Monarchie „Armut und Hungersnöte“ herrschten, „während die Kabuler Bourgeoisie in einer Art Parallelwelt lebte“ (S. 24).
Über diese Andeutungen geht er allerdings nicht hinaus. Tatsächlich war Afghanistan damals eines der ärmsten Länder der Welt; 85 Prozent der Afghan*innen lebten als Kleinbauern, Tagelöhner, Viehzüchter usw. am Existenzminimum. Fünf Prozent der Bevölkerung dagegen verfügten über die Hälfte des Bodens. Sie herrschten in ihren Regionen als unabhängige Despoten und verfügten unter anderem über eigene Gefängnisse. Das war der soziale Kontext, in dem die Kommunist*innen begannen, sich zu organisieren und schliesslich – an der Macht – zu versuchen, tiefgreifende soziale Reformen durchzusetzen.
Damit weisst Feroz den afghanischen Kommunist*innen letztlich die Rolle der eigentlichen Schurken zu – oder in den Worten des Autors: „Es waren die Agenten Moskaus, die Afghanistan bewusst ins Chaos stürzten.“ (S. 80) Seiner Darstellung zufolge beendeten sie 1973 den Weg zur Demokratie, übernahmen 1978 im Auftrag Moskaus die Macht, stürzten das Land dadurch in einen letztlich Jahrzehnte währenden Krieg und öffneten 1979 schliesslich die Tore für die „russischen Invasoren“. Es gibt sicher genug zu kritisieren an der Kriegsführung der Roten Armee und per se an diesem Krieg.
Afghanistan eignet sich aber eben nicht, um der Sowjetunion eine Art von „Imperialismus“ zu attestieren, der mit dem der USA zu vergleichen wäre. Bezeichnenderweise relativiert Feroz zudem die Rolle, die die USA vor allem gemeinsam mit Pakistan und Saudi Arabien dabei spielten, die Mujahedeen gegen das pro-sowjetische Kabuler Regime aufzurüsten. Proklamiertes Ziel war es, die UdSSR dazu zu veranlassen, in die Kämpfe im südlichen Nachbarland einzugreifen und ihr ein eigenes „Vietnam“ zu bereiten. Auch nach dem Sturz der DVPA Anfang der 1990er mischte Washington sich in das Geschehen in Afghanistan ein und unterstützte nach Gutdünken Bürgerkriegsparteien. Insofern liesse sich entgegen Feroz' Narrativ überzeugender argumentieren, dass es vielmehr die NATO in Form der USA war, die in Afghanistan bereits seit mehr als 40 Jahren, und nicht erst seit 20, Krieg befeuerte und sich alle Mühe gab, das Land ins Chaos zu stürzen.
Investigativjournalismus, aber keine Analyse
Damit stösst man auf die Schwäche des Buches: Analytisch hat es wenig Tiefgang. Die sowjetische Sorge um ihre Südflanke im Kalten Krieg wird auf eine Stufe gestellt mit dem Expansionsstreben Grossbritanniens oder der USA, die zehn- bzw. hunderttausende Soldaten ans andere Ende der Welt schickten, um ein Land zu unterwerfen. Zwar attestiert Feroz der NATO zurecht, dass sie den Afghan*innen weder Demokratie noch Frauenrechte gebracht habe. Doch ob sie daran nun gescheitert ist, dies „bewusst in Kauf genommen“ (S. 20) hat oder aber genau gegenteilige Interessen verfolgte – in dieser Frage ist man nach der Lektüre wenig schlauer.Zwar fällt hier und da der Begriff des „militärisch-industriellen Komplexes“, doch eine wirkliche Erklärung, die mit ökonomischen, geo- und weltmachtpolitischen Kategorien arbeitet, fehlt völlig. Fragen nach dem grösseren strategischen Zusammenhang zwischen den Kriegen in Afghanistan und im Irak werden ebenso wenig gestellt bzw. beantwortet wie die Frage, ob am Hindukusch nun Handelsinteressen verteidigt wurden oder es doch mehr um die Einkreisung des Iran ging. Auch die vor dem aktuellen Hintergrund besonders zu Denken gebende Tatsache, dass die NATO in Afghanistan 20 Jahre lang an der Südflanke Russlands und im Grenzgebiet zu China stationiert war, findet leider keine wirkliche Erwähnung. Über die afghanischen Kompradoren erfährt man indes viel Spannendes. Doch welche politischen und wirtschaftlichen Akteure im Westen standen hinter diesem Krieg? Auch diese Frage, die entscheidend ist, um den „War on Terror“ richtig einschätzen zu können, wird leider weder aufgeworfen noch beantwortet.
So bleibt das Buch eine lesenswerte und wichtige investigativ-journalistische Arbeit über die Auswirkungen des Krieges vor Ort, die mit vielen Mythen um den angeblich „guten Krieg“ in Afghanistan nachhaltig aufräumt, die das Grauen dieses westlichen Terrors eindrücklich skizziert und die den Opfern eine kleine Bühne bietet, auf der sie ihre Stimme erheben können. Um diesen Krieg in seinem regionalen und globalen Kontext oder auch um die Geschichte Afghanistans zu begreifen, braucht es allerdings mehr, als dieses Buch liefert.