Erich Mühsam wurde am 10. Juli 1934 im Konzentrationslager Oranienburg erhängt aufgefunden. Als offizielle Todesursache wurde Selbstmord angegeben. Diese Version wurde jedoch von allen Mitgefangenen bestritten. Ihnen zufolge war Mühsam von der SS-Wachmannschaft aufgeknüpft worden. Der russisch-amerikanische Anarchist Alexander Berkman kommentierte seinen Tod so: „Erich Mühsam, der Idealist, Revolutionär und Jude repräsentierte alles, was Hitler und seine Anhänger hassen.“
Erich Mühsams Tagebücher
Vom 22. August 1910, dem Beginn eines Sanatoriumaufenthalts in Châteaux d'Oex in der Schweiz, bis zum 20. Dezember 1924, dem Tag seiner Entlassung aus der Bayerischen Festungshaft, führte Mühsam ein Tagebuch. 42 Hefte waren es zum Schluss. Diese erlebten eine aufregende Geschichte. Zunächst wurden sie nach Mühsams Tod, gemeinsam mit dem Rest seines Nachlasses, von dem tschechischen Presseattaché Camill Hofmann nach Prag geschmuggelt. Dort wurden sie von Zenzl Mühsam, Erichs in die Tschechoslowakei geflüchteten Frau, in Empfang genommen. 1935 reiste Zenzl mit dem Nachlass nach Moskau, in der Hoffnung, dass die russischen Behörden eine Werkausgabe Erichs zusammenstellen und in mehrere Sprachen übersetzen würden.Stattdessen wurden die Papiere archiviert und Zenzl nach wenigen Monaten verhaftet. Die nächsten zwanzig Jahre verbrachte sie zum grössten Teil im Gefängnis oder in der Verbannung. Erst 1955 durfte sie in die DDR ausreisen unter dem Versprechen, sich nicht zu ihrer Zeit in der Sowjetunion zu äussern. Mühsams Nachlass blieb im Moskauer Gorki-Institut, doch wurden Mikrofilme an die Akademie der Künste in Ostberlin geschickt. Diese beinhalteten auch die Tagebücher, wobei die Bände 2-4 und 18-21 in der Sowjetunion abhanden kamen und bis heute verschollen bleiben.
Zenzl Mühsam starb 1962. Erst in den 1980er Jahren kam es in der DDR zu Plänen, Erichs Tagebücher editorisch aufzuarbeiten und herauszugeben. Bereits damals war Chris Hirte, Lektor im Verlag Volk und Welt, in diese Pläne involviert. Ein Beleg dafür, dass sich die jetzige Ausgabe der Tagebücher auf langjährige Arbeit und Erfahrung stützt. Zwar gelang es Hirte, einige Werke Mühsams in der DDR neu aufzulegen und 1985 mit „Erich Mühsam: Ihr seht mich nicht feige!“ eine der bis heute wichtigsten Mühsam-Biographien zu veröffentlichen, doch aus den Tagebuchplänen wurde nichts. Erst nach der Wiedervereinigung erklärte sich der Deutsche Taschenbuchverlag (dtv) bereit, eine kleine Auswahl ins Programm aufzunehmen. Der von Hirte betreute und 1994 erschienene Band „Tagebücher: 1910-1924“ beinhaltet rund 5% des Gesamtumfangs.
Nun hat Chris Hirte mit dem Berliner Verbrecher Verlag ein Verlagshaus gefunden, das willig ist, das Wagnis einer Gesamtausgabe einzugehen. Als Mitherausgeber konnte der Informatiker und Antiquar Conrad Piens gewonnen werden. Es wurde ein innovatives Konzept entwickelt, das eine Pionierarbeit in der Kombination von Print- und Onlinepublikation darstellt. Zum einen bekommen die Leser_innen ein schickes gebundenes und mit Leseband ausgestattetes Buch mit den transkribierten Tagebucheintragungen; hier stören keine eckigen Klammern, Auslassungszeichen oder Fussnoten, und man kann ungehindert in die Tagebuchwelt Erich Mühsams eintauchen.
Zum anderen gibt es auf der Website www.muehsam-tagebuch.de eine begleitende Onlineausgabe, die an Forschungsmöglichkeiten nichts zu wünschen übrig lässt: so finden sich ein ständig aktualisiertes Register, Links zu informativen Webseiten, und, besonders beeindruckend, Scans der Originaltagebücher, sodass Mühsams Handschrift bestaunt und mit der Transkribierung verglichen werden kann. Die Edition bietet damit das Beste beider Publikationswelten und kann bereits jetzt als wegweisend gelten. Abgeschlossen soll das Projekt im Herbst 2018 mit Band 15 werden. Bis dahin ist in jedem Frühjahr und Herbst ein neuer Band geplant. Viel Glück! Band 2 ist soeben erschienen…
Familie, Geld, Liebe, Politik
Die historische Bedeutung von Mühsams Tagebüchern liegt auf der Hand. Sie erlauben einen intimen Einblick in das Leben einer der interessantesten und produktivsten Persönlichkeiten am Rande der deutschen Gesellschaft von 1910 bis 1924 – eine Zeitspanne, die den Ersten Weltkrieg, das Ende des Kaiserreichs, die Novemberrevolution, die Gründung der Weimarer Republik und den Beginn der nationalsozialistischen Bewegung umfasst.Mühsam ist ein liebenswürdiger und rastloser, gelegentlich auch kauziger Zeitgenosse. Er ist ein anregender Autor und seine Tagebucheintragungen sind – genauso wie seine Artikel – nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam.
Eine der besonderen Qualitäten persönlicher Textformen wie Tagebüchern oder Briefen ist es, uns Personen in einer Art und Weise näherzubringen, die offizielle Publikationen nur selten ermöglichen. Mühsam selbst war sich dessen bewusst. Am 3. Oktober 1910 schreibt er:
„Über den Wert von Tagebüchern entscheidet nicht das Talent des Verfassers – denn die Zusammenhanglosigkeit der Bemerkungen hindert doch die Entstehung eines literarischen Meisterwerks –, sondern der Rhythmus der allgemeinen und persönlichen Ereignisse, die registriert werden.“
Wahrhaft erstaunlich ist, dass alle tragenden Themen der Tagebücher Mühsams bereits im ersten Eintrag Erwähnung finden:
- das schwierige Verhältnis zu seinem Vater: „Immer wieder die gleiche Taktik: wir vermeiden Anstössiges, wir vermeiden, mit einander allein zu sein, wir gehen vorsichtig umeinander herum. Er sucht manchmal Gelegenheit zu spitzen Anzüglichkeiten. Ich halte das Maul.“
- seine Geldsorgen: „Meine Geschwister haben mir ganze 300 Mk bewilligt (mit was für Opfergeschrei!)…“
- seine Liebschaften: Nicht weniger als vier Frauen, mit denen Mühsam mehr als freundschaftliches Interesse verband, werden genannt: Frieda Gross, Lotte Pritzel, Uli Trotsch und Spela Albrecht.
- die Politik: „Unsre Zeit ist [im Vergleich zum Vormärz] nicht minder armselig, unsre Regierungen nicht minder jämmerlich, unsre Politik nicht minder chikanös, knechtschaffen und vormärzlich.“ Schaubühnen, Zeppeline und Badeausflüge
Auch der Zeitzeugencharakter kommt in Mühsams Eintragungen nicht zu kurz. Etwa wenn er von einem Besuch am Oktoberfest berichtet, an dem 1910 offenbar noch „menschliche Monstrositäten“ ausgestellt wurden, zum Beispiel „Zwergmenschen“ oder ein Mann, der als „halb Mensch, halb Kamel“ präsentiert wurde: „Er hatte nämlich Beine und Füsse, die von einer gelb-braunen Hornmasse überwachsen waren, ganz von der Farbe von Kamelbeinen.“
Interessant auch Mühsams Beobachtung angesichts des im September 1910 in einem Lagerbrand zerstörten Zeppelins Nummer 6: „Unter 7 Ballons der fünfte, der zerstört ist: Aber die guten Deutschen sind so Zeppelin-begeistert wie nur je. … Ein sonderbares Volk, das sich immer an der verkehrten Stelle begeistert.“
Schliesslich finden sich eine Reihe aussagekräftiger Anekdoten, etwa wenn Mühsam anmerkt, dass er bei einem Badeausflug nach Herrsching am Ammersee im August 2011 der einzige in der Ausflugsgesellschaft ist, der schwimmen kann. Lapidar stellt er fest: „Natürlich brillierte ich vor den Weibern nach Kräften mit dieser Kunst.“
Besondere Momente in Tagebüchern sind immer solche, die sich als Prophezeiungen erwiesen haben. In Mühsams Fall beginnt dies mit dem allerersten Satz: „Bei strömendem Regen war ich eben unten im Dorf, um mir dies Heft zu kaufen. Es soll mein Tagebuch sein.“ Weiter ist vor allem der Eintrag vom 3. Oktober 1910 erwähnenswert:
„Ob sich in 80 oder 100 Jahren mal jemand findet, der meine Tagebücher der öffentlichen Mitteilung für wert halten und herausgeben wird, kann ich nicht wissen. Niemand, der aus dem Tagesgeschehen und -Erleben heraus Notizen schreibt, kann deren Kulturdauer ermessen.“
Mühsam-Begeisterung überall – oder?
Die Reaktionen auf den ersten Verbrecher-Band von Mühsams Tagebüchern waren euphorisch. Ein Indiz dafür ist, dass das mir vorliegende, bald nach dem ursprünglichen Erscheinungstermin bestellte Rezensionsexemplar bereits die stolze Auszeichnung „zweite Auflage“ trägt. Ein weiteres Indiz sind die Preise, die der Band einheimste: Buch des Monats August der Darmstädter Jury, SWR-Bestenliste im September, Top Ten der Hotlist Online 2011. Auch die Presse überschlug sich vor Begeisterung, von der taz („Herausragend“) bis zur Welt („Mühsam macht Spass“).Zu Anarchist_innen sind die Rezensent_innen freilich nicht geworden. Sie fokussieren lieber auf andere Aspekte von Mühsams Leben. Vor allem die Liebe und den Sex. Daran liessen schon die Überschriften keinen Zweifel: „Der Anarchist und die Mädchen“ titelte etwa Der Spiegel, während sich die Süddeutsche Zeitung nicht lange mit Andeutungen aufhielt: „Ich trank viel und küsste alle Mädchen und Frauen“ wurde Mühsam dort im Grossformat zitiert.
Der Fokus auf den „unermüdlichen Liebhaber“ (noch einmal Der Spiegel) und „das Leben der Boheme“ (taz) ist einerseits natürlich harmlos. Andererseits verweist er jedoch auf ein grösseres Problem, nämlich die – wenig überraschende – Entpolitisierung Mühsams. Dieser mangelt es nicht an Deutlichkeit. Die FAZ verarbeitete ein Mühsam-Zitat gar in die Schlagzeile „Ein Anarchist in Anführungszeichen?“ Die Frage scheint Programm.
Es wäre öde, sich hier darüber zu beklagen, dass bürgerliche Blätter Anarchist_innen nie gerecht werden. Erstens wissen wir das und zweitens ist der Gestus eigener Deutungshoheit kaum sympathisch. Zudem sollten wir uns darüber freuen, dass Mühsam die erwähnte Aufmerksamkeit überhaupt zukommt, und sowohl die Herausgeber als auch der Verleger haben sich die Lobeshymnen redlich verdient. Trotzdem sagt die Rezeption viel über den medialen Umgang mit dem Anarchismus im Allgemeinen aus – ein Umgang, der ausserordentliche Kontinuität beweist.
Zu seinen Lebzeiten wurde Mühsam von vielen bürgerlichen Blättern boykottiert. Dies war angesichts der Tatsache, dass Mühsams Einkommen vor allem auf der Veröffentlichung von Gedichten in diesen Blättern beruhte, durchaus eine ernste Angelegenheit. Darüber hinaus ist es charakteristisch, dass die Mühsam heute feiernden Feuilletons den gegenwärtigen Anarchismus vollständig ignorieren. Dies führt uns zu dem Schluss, dass Anarchist_innen unter genau zwei Bedingungen zu Lieblingen der bürgerlichen Presse werden können: 1. Sie sind seit langem tot. 2. Ihre anarchistische Identität ist als exotischer Aufputz willkommen, ansonsten aber nicht der Rede wert.
Ein bisschen Anarchismus schadet nicht
In diesem Kontext kommt bereits Freude auf, wenn bei der Präsentation der Mühsam-Tagebücher auf WDR 3 von der „Mär vom Terroristen, die bis heute fälschlicherweise Bild und Alltagsverständnis des Anarchismus prägt“ gesprochen wird. Allerdings drängt sich auch hier die Frage auf: Impliziert dies irgendeine Anerkennung der Kritik am Staat, am Kapitalismus, am Patriarchat?Derartige Themen werden in der Rezeption der Mühsam-Tagebücher noch nicht einmal berührt. Und das ist schade. Denn schliesslich gehört es zum Bemerkenswertesten an Mühsams Leben und Denken, dass er Anfang des 20. Jahrhunderts vieles vertrat, was heute zu Standards breiter zivilgesellschaftlicher Kreise gehört, etwa Antifaschismus, Antimilitarismus, antiautoritäre Erziehung oder die Legalisierung von Abtreibung und Homosexualität. Mühsams Engagement in diesen Fragen – und in vielen mehr – bestätigt eine der wichtigsten Funktionen des Anarchismus: seine Vorreiterrolle in sozialen Kämpfen, die zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse aller beitragen.
Erich Mühsam gehört zu jenen, die als Idealist_innen belächelt, als Unruhestifter_innen verunglimpft oder als Verbrecher_innen verfolgt werden, weil sie Barrieren überwindbar machen und neue Existenzweisen und Gesellschaftsformen ermöglichen. Es wäre schön, wenn dies in aller Begeisterung für die Liebesabenteuer Mühsams nicht vergessen würde.