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Ernst Pfeffer (Hg.) 1961: Deutsche Lyrik unter dem Sowjetstern

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Ernst Pfeffer (Hg.) 1961: Deutsche Lyrik unter dem Sowjetstern BRD-Germanistik gegen DDR-Lyrik

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Sachliteratur

Die tendenziöse Sammlung von Gedichten aus der DDR diente vor allem der antikommunistischen Indoktrination von Schüler*innen.

Der Schriftsteller Erwin Strittmatter im Kulturpalast des EKB Bitterfeld.
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Der Schriftsteller Erwin Strittmatter im Kulturpalast des EKB Bitterfeld. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-63679-0006 - Schmidt (CC BY-SA 3.0 cropped)

Datum 10. November 2019
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In Zeiten des Kalten Krieges profilierte sich die westdeutsche Germanistik als engagierte Wissenschaft. Das Ergebnis ihres literarischen „Systemvergleichs“ stand allerdings von vornherein fest: Die Literatur der DDR – damals noch durchgängig als Sowjetische Besatzungszone (SBZ), Sowjetzone oder nur Zone tituliert – war minderwertig, weil Produkt sozialistischer Planwirtschaft. Das galt selbst für Grössen wie Bertolt Brecht oder Anna Seghers und umso mehr für jüngere Schriftsteller*innen, die im Westen überwiegend völlig unbekannt blieben. So konnte die 1961 erschienene Anthologie „Deutsche Lyrik unter dem Sowjetstern“ durchaus beanspruchen, eine Lücke zu füllen. Produziert wurde der schmale Band vom Verlag Moritz Diesterweg ausdrücklich „für den Schulgebrauch“.

Der Geist in der Zone

Die Vorbemerkungen und die Einführung des Herausgebers lassen für Zweifel keinen Raum: Die 70 Gedichte seien Beispiele von „Massenproduktion“ und „politischer Zweckpropaganda“, überwiegend geprägt von „Monotonie“ und „Einförmigkeit des Stils“. Ziel der Veröffentlichung: „Wir wollen ein Bild des Geistes vermitteln, der die Menschen der Zone umgibt.“ Wer die Sammlung heute ohne bürgerlichen Klassenhass liest, findet darin manches Juwel: sieben Werke von Brecht, darunter die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ und das „Lob des Kommunismus“, aber auch Lori Ludwigs scheussliche Hymne „Stalin ist tot – sein Herzschlag fehlt der Welt“ mit der jähen Wendung von der Trauer zum Optimismus: „Die Produktionsgenossenschaft bestellt / die grossen Felder: Seht doch: Stalin lebt / in seinem Werk, das unseren Weg erhellt.“ Dem Herausgeber sind das unterschiedslos Beispiele für bolschewistische Dogmatik.

Unübersehbar ist aber auch seine Verachtung für das, was man realsozialistische Alltagslyrik nennen könnte. Deren Hauptthema ist die Arbeit auf dem Land („Gründung der LPG“, „Pflüge, Traktor“) und in der Stadt. In seinem Gedicht „Mutti ist Schaffnerin“ schlüpft Max Zimmering (geboren 1909) in die Rolle des verständigen Kindes: „Meine gute Mutti ist / Schaffnerin seit Jahren. / Wer sie treffen will, der muss / mit der Achtzehn fahren.“ Dem Herausgeber gefällt das nicht. Im Anmerkungsapparat klärt er darüber auf, was seiner Meinung nach grundsätzlich schief läuft im Arbeiter- und Bauernstaat: „Die Propaganda für die Berufstätigkeit jeder Frau soll den Mangel an Arbeitskräften beheben, aber dient auch dem Ziel des Staates, die Erziehung der Jugend allein in seine Hand zu nehmen.“ (S. 102). Dass es den westdeutschen Frauen am heimischen Herd viel besser ginge, bedurfte aus Pfeffers Sicht keiner Erläuterung.

Einige wenige der ausgewählten Werke machen immerhin deutlich, dass auch im ostdeutschen Reich der Unfreiheit ideologische Streitfragen kontrovers diskutiert werden. „Wenn einer den Namen nennt, geifert er oder lacht“, schreibt Hasso Grabner in seinem Sonett über den Bergmann Adolf Hennecke, der am 13. Oktober 1948 in einer Schicht 387 Prozent der Norm erfüllte – nach dem Vorbild des sowjetischen Hauers Alexei Grigorjewitsch Stachanow, der 1935 die Norm um das Dreizehnfache übertroffen hatte. Damit begann die Hennecke-Bewegung – eine als sozialistischer Wettbewerb deklarierte Arbeitshetze, der die meisten Werktätigen aus gutem Grund distanziert bis ablehnend gegenüberstanden.

Marie soll nicht Traktor fahren

Wenn der Herausgeber in seinen Vorbemerkungen schreibt, einzelne Proben aus der Anthologie hätten „auf Nichtkenner der östlichen Welt, insbesondere auf die Jugend […] erheiternd gewirkt“, dann ist das durchaus glaubwürdig. Zu unfreiwilliger Komik kommt allerdings Humor als bewusst eingesetztes Mittel hinzu, insbesondere bei der Schilderung des keineswegs nur grauen Alltags. Siehe etwa Erwin Strittmatters Gedicht „Traktorenwäsche“, das mit den genial einfachen Zeilen beginnt: „Wenn Melk-Marie in kühler Früh / huscht zu den Küh'n und Ochsen, / dann öffnen wir auf der Station / geschwind die Traktorboxen“.

Der Traktor („mein lieber Schollenfresser“) muss sauber sein, damit er richtig funktioniert, denn: „Wir stehen ja im Wettbewerb mit Paul, Karlheinz und Walter“ – die Pflege und Bedienung der komplizierten Maschine ist offensichtlich Männersache: Melk-Marie soll lieber die Finger davon lassen und sich um das Viehzeug kümmern. Das ist im Sozialismus nicht anders als im freien Westen und für den strengen Herausgeber kein Gegenstand der Kritik; über Strittmatter, der etliche lesbare Werke geschaffen hat, schreibt er im Anhang: „Sein Stil ist urwüchsig und flüssig, er malt die Menschen nicht einseitig positiv oder negativ. Inhaltlich ist er ohne eigene Gedanken, nur Darsteller der Partei-Dogmatik.“ (S. 110)

Eigene Gedanken sucht man auch beim Herausgeber der Anthologie vergeblich. Ernst Pfeffer erweist sich als linientreuer kalter Krieger des reaktionären Adenauer-Staates. In der Wochenzeitung Die Zeit vom 16. Februar 1962 wurde das Buch als „hanebüchenes Machwerk“ verrissen. Im Grunde handelt es sich um einen Anhang zu dem unsäglichen Lexikon „SBZ von A bis Z“, auf das auch Pfeffer verweist: eine vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen herausgegebene dickleibige Kampfschrift, die in Millionenauflage kostenlos verteilt wurde. Antiquarisch sind beide Bücher auch heute noch kostengünstig (ab 1 Euro plus Versandkosten) erhältlich.

Jens Renner
kritisch-lesen.de

Ernst Pfeffer (Hg.): Deutsche Lyrik unter dem Sowjetstern. Eine Anthologie von Gedichten aus der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands für den Schulgebrauch zusammengestellt. Moritz Diesterweg, Frankfurt am Main/Berlin/Bonn 1961. 112 Seiten

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