„[k]önnen wir auf diesem Planeten leben, ohne in ständigem Terror nur mühsam seinen Katastrophen entgegenzuarbeiten, können wir hier so bleiben, dass wir auch frei bleiben, dass wir Zeit im Überfluss geniessen, dass wir hinaufschauen können in einen Himmel, in dem Schwalben tanzen?“ (S. 24)
Eine Fülle gelebter Freiheitsvorstellung
Das Ziel des Essays ist schnell ausgemacht: sich den Freiheitsbegriff wieder anzueignen – und zwar als einen, der unbedingt zeitlich gedacht werden muss. Freiheit als „Fülle erfüllter Zeit“ (S. 145), als Kreislauf, auch im Zusammenspiel mit ökologischen Zyklen, wobei die Zeit als „Wesenskern der von ihr geformten Dinge“ (S. 123) zu verstehen ist. Eva von Redecker entwirft eine Freiheit, die sich nicht nur auf den Moment bezieht, sondern sich auf das Kommende richtet: „Das Bleiben verlässt das räumlich imaginäre der liberalen Freiheit und bezieht sich auf die Möglichkeiten der Zukunft. Auf der räumlichen Achse mag keinerlei Freiheit im Bleiben liegen. Aber auf der zeitlichen alle.“ (S. 12f.)Eva von Redecker betont die Wichtigkeit der „Bleibefreiheit“ ohne Hang zur Transzendenz. Ihr Blick gilt vielmehr den kapitalistisch eingehegten Menschen, die aus dem Wenigen an eigener Zeitverfügung heraus versuchen, sich Freiräume zu schaffen. Der doppelt freie Lohnarbeitende ist das Resultat einer Konzeption von Freiheit, die nur vermeintlich ein emanzipatorisches Versprechen ausdrückt, aber letztlich Unfreiheit ist – für das Subjekt selbst, aber auch für das Zusammenleben auf diesem Planeten insgesamt. Alles soll Besitz werden, auch Freiheit: „Wenn Freiheit heisst, in eingegrenzten Sphären die Willkür des Eigentümers walten lassen zu dürfen, dann hat sie immer ein Objekt. Es muss etwas geben, worüber das Subjekt verfügt, um sich im je gegebeben Moment als frei zu erfahren.“ (S. 46)
Die liberale Vorstellung von Freiheit bedeutet, von nichts und niemandem begrenzt zu sein. Freiheit als „Selbstbesitz“ (S. 44). Jede:r soll demzufolge die je eigene Freiheit verteidigen können, mit dem Imperativ, dort inne zu halten, wo des/der Nächsten Freiheit beginnt. Damit einher gehe aber auch eine „latente Unzufriedenheit“ (S. 27) mit einem inhärenten Verlangen nach Eskalation, maximalem Besitz von Freiheit. Eva von Redecker bezieht sich hier auf politische Entwicklungen der letzten Jahre, die sich in der Verwendung des Freiheitsbegriffs manifestieren: Die Freiheit erfuhr eine reaktionäre Intensivierung und Engführung von rechts. Sie ist die derzeitige „Gallionsfigur der Verwüstung“ (S. 28) im Kampf gegen die Maskenpflicht in der Coronapandemie, gegen Refugee-Camps, Tempolimits oder geschlechtergerechte Sprache.
Reaktionäre Freiheit und darüber hinaus
Eva von Redecker erkennt gleichzeitig eine eigenartige Indifferenz, die sich – insbesondere gegenüber dem fortwährenden Verlust unserer natürlichen Lebenswelt und der immer weiter voranschreitenden ökologischen Krise – um uns herum einstellt: Nach uns die Sintflut, scheint es zu heissen. Gleichzeitig werden diejenigen, die sich gegen die drohende Katastrophe einsetzen, im Namen der Freiheit bedroht und angegriffen. Auch hier artikuliert sich also keine progressive Forderung nach Freiheit, sondern eine reaktionär-autoritäre. Von Redecker sieht darin „das offene Zutagetreten eines Bruchs, der den liberalen Freiheitsbegriff von Anfang an durchzieht“ (S. 11). „Das Gefühl einer einstürzenden Welt ist omnipräsent“, schreibt sie, und von diesem „Standpunkt der Zukunftslosigkeit“ sei dann auch die reaktionäre Antwort darauf zu verstehen: „raffende, rabiate Selbstbehauptung“ nach dem Motto „Das bisschen Zerstörung lass ich mir nicht nehmen!“ (S. 18).Die Philosophin hat es natürlich geschafft, sich mit diesem feinfühligen politischen Essay voller kluger Gedanken und poetischer Beschreibungen Feinde zu machen. Ein „zusammengeklebtes Pixibuch des woken Zeitgeistes“ nennt es etwa ein (vermutlich klebstofffeindlicher) Rezensent bei Amazon, nur um es künftigen psychopathologischen Lehrbüchern als Anschauungsmaterial zu empfehlen. An ihn und andere richtet sich daher wohl die Beobachtung der Autorin: „Manche steigen aus der Vernunft aus und proklamieren Phantombesitz-Freiheit“ (S. 41). Es scheint, als erzürne manche Menschen nichts mehr, als andere, die „frei und bleiben“ wollen: in Deutschland, auf der Strasse (klebend), am Leben.
In der Collage, die Eva von Redecker hier also zusammengeklebt hat, versammelt sie antike und zeitgenössische (Natur-)Philosoph:innen, feministische Denker:innen, Existenzialist:innen, Marxist:innen, Naturwissenschaft:lerinnen, Vertraute. Der Essay ist stellenweise fragmentarisch und knapp, aber diese Räume lassen Lesenden die Freiheit, eigene Gedanken, theoretische Bezüge, politische Kämpfe einzuarbeiten: „Das Unfertige ist eine Verheissung“, schreibt Eva von Redecker, um andernorts fortzufahren, die „im inneren Dialog geteilte Zeit erlaub[e es] […], die Perspektiven anderer miteinzubeziehen“ (S. 95).
Es ist also eine Bleibefreiheit mit sich selbst und eine kollektive Dimension von Freiheit zugleich. Letztere wird auch an vielen anderen Stellen deutlich, wenn die Autorin auf Klassenverhältnisse, Machtasymmetrien und Kämpfe sozialer Bewegungen verweist. In Protesten gegen Umweltzerstörung, gegen Gentrifizierung oder – sehr deutlich – für Bleiberechte, überall auf der Welt, wird Freiheit multidimensional, räumlich, zeitlich und vor allem gemeinsam mit Menschen und der sie umgebenden Welt, gedacht. Es gelte wegzukommen von der Freiheit als Eigentum, das nach aussen verteidigt werden muss, denn letzlich sei Freiheit als Vorrat unendlich, schreibt Eva von Redecker. Das Gegenteil anzunehmen sei eine „Marsmännchenfreiheit“ (S. 25), denn da könne man sich nur einen leeren Planeten wünschen, auf dem man ganz alleine „frei“ ist.
In Bewegung bleiben
In der heutigen Zeit muss zunächst der Gedanke an eine Freiheit angesichts der Flucht von Millionen Menschen vor Erdbeben, Überschwemmungen, Kriegen, Okkupation, genozidaler Gewalt, grundlegend anders ausbuchstabiert werden. Bei einem Sich Bewegen-Müssen als Zwang, den derzeit mehr Menschen auf der Erde erleiden müssen als je zuvor, bleibt von Freiheit keine Spur zurück. Aber auch Bleiben-Müssen ist von dieser Warte aus als etwas zu verstehen, was Eva von Redecker als „Nullpunkt der Freiheit“ (S. 10) bezeichnet.Dies gilt vor allem dann, wenn die Orte Freiluftgefängnissen gleichen, die freie Entfaltung und jedwede Form von Bewegung verunmöglichen. Es ist hier das Bleiben-Können, das einen Horizont von Freiheit bereitet: „Bewegungsfreiheit [ist] auch nur Freiheit, wo das Bleiben möglich wäre“ (S. 16). Das zeitliche Verständnis der Bleibefreiheit trägt diesem Aspekt Rechnung. Nicht zuletzt auch, weil es das Bleiben auf dem Planeten insgesamt als endlich begreift, während unser Wunsch, bleiben zu wollen, allen voran am Leben, unendlich sein kann.
Auch in Istanbul sind es die Störche. Tausende dieser majestätischen Vögel, die Ende August in grossen Formationen über die vorgelagerten Inseln im Marmarameer ziehen; aus dem Norden Europas über Rumänien und Bulgarien kommend, weiter über Zentralanatolien hinweg, den Jordan entlang zu ihren Überwinterungsstätten entlang des Nils. Sie überfliegen dabei die (Nicht-)Orte, an denen die Grenzen auf dem Boden immer höher gezogen, immer unpassierbarer und tödlicher für Menschen werden, die in Bewegung sind, aber umso dringlicher eine Bleibe benötigen.
Die Bewegungsfreiheit der Störche scheint von der Festung Europa unberührt. Die grenzenlose Bewegung der Zugvögel ruft eine Sehnsucht – sowohl eine „nach Aufbruch oder nach Bleibe“ (S. 147) wie auch ein politisches Drängen – hervor, dass Menschen sich ebenso frei, ebenso ungehindert bewegen können. Jetzt und in Zukunft. Und danach, dass wir als Menschen uns ebenso eingebunden fühlen wie die Störche (und die Schwalben), in eine sich ständig neu formende, gleichzeitig tragende Struktur von anderen lebenden Wesen – eine solidarische Bewegung, ein gemeinsames Ziel, ein sich gegenseitig Anvertrauen und Regenerieren.