Alle sich dem Thema widmenden Bücher haben natürlich ihre eigenen Schwerpunkte. „Marx und der globale Süden“ beansprucht primär, die Anwendung von Marx' Denken auf kolonisierte Gesellschaften sowohl nachzuzeichnen als auch zu fördern. Der Band hat jedoch eine weitere Zielsetzung, nämlich mit Postmoderne und Poststrukturalismus, der postkolonialen Theorie und den Subaltern Studies abzurechnen. Aufhänger dafür ist die „Universalismus-Debatte“, die 2013 mit der Publikation von Vivek Chibbers Buch „Postcolonial Theory and the Specters of Capital“ losgetreten wurde, einer scharfen Kritik der besagten Denkschulen. Das zweite Buch, das laut Herausgeber Felix Wemheuer als Inspirationsquelle von „Marx und der globale Süden“ diente (bzw. des dem Band zugrunde liegenden Workshops „Marx, Subaltern Studies and the Global South“, der im Mai 2015 an der Universität Köln abgehalten wurde), war Kevin Andersons „Marx at the Margins“, erschienen 2010 mit der Absicht, Marx' Bemerkungen zur „nicht-europäischen Welt“ (S. 8) zu dokumentieren.
Altbackenes aufgewärmt
Texte von Chibber und Anderson formen den ersten Teil des Bandes. Kurz gesagt, sie enttäuschen. Es gibt nichts gegen Kritik an postmodernem Gebrabbel einzuwenden, nichts gegen einen Fokus auf die Arbeiterklasse und nichts gegen den Versuch, „die Welt als Ganzes zu verstehen und nicht in unendlichen, unvergleichbaren Partikularitäten und Fragmenten scheinbar aufzulösen“ (Wemheuer in der Einleitung, S. 29). Aber durchaus gegen anderes.Erstens ist es ärgerlich, Altbackenes als neu zu präsentieren, vor allem, wenn dies im Kontext akademischer Hahnenkämpfe geschieht. Ja, Debatten wiederholen sich, und das soll auch so sein, wenn Probleme ungelöst bleiben, jüngere Generationen sich ihrer annehmen und veränderte gesellschaftliche Bedingungen neue Formulierungen alter Problemstellungen rechtfertigen. Aber so zu tun, als hätte man ein Schlachtfeld eröffnet, das es schon lange gibt, ist unlauter. Die Kritik, die Chibber an den von ihm verpönten Strömungen formuliert, ist im Grunde keine andere, als jene, die von Marxist_innen seit dem Aufkommen des Poststrukturalismus formuliert wird: Der Blick auf das Spezifische verunmöglicht den Blick auf die grossen Zusammenhänge und damit auch eine Theorie und Praxis, die gegen diese vorgehen kann. Die sich daraus ergebende Diskussion ist wichtig, und rundum befriedigende Antworten sind offenbar schwierig zu finden, aber die Argumente sind seit langem dieselben und Chibber fügt ihnen keine neuen hinzu.
Wenn Kevin Anderson zweitens zu belegen versucht, dass Marx gar nicht so eurozentristisch war, wie ihm das von postkolonialen Schmierfinken angeblich vorgeworfen wird, dann ist das irgendwie interessant, irgendwie aber auch scheissegal. Ich fühlte mich nach der Lektüre seines Textes vor allem darüber erleichtert, mich angesichts fehlender marxistischer Selbstdeklarationen an Debatten dieser Art nicht beteiligen zu müssen.
Drittens hinterlassen Chibbers Beiträge (ein Interview, ein Aufsatz) vor allem Fragezeichen. So beklagt er sich darüber, „wie tief die Linke gefallen und wie weit die intellektuelle Kultur heruntergekommen ist“ (S. 91). Gleichzeitig erklärt er in seiner Kritik an den Theoretiker_innen der Subalternen Sachen wie: „Ich teile die Ansicht, dass es einige gemeinsame Interessen und Bedürfnisse gibt, die Menschen in verschiedenen Kulturen teilen.“ (S. 61) Wer, um Himmels willen, tut das nicht? Menschen essen und schlafen ungeachtet ihres kulturellen Milieus, sie haben es gerne, wenn sie gerecht und freundlich behandelt werdet, und sie interessieren sich für ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen. Entweder wird hier mutwillig karikiert oder Schabernack getrieben oder Chibber muss wirklich vor der eigenen Haustür kehren, bevor er sich über die mangelnden intellektuellen Kapazitäten anderer beschwert.
Sinnvolles Verständnis von Universalismus
Keiner dieser Punkte ändert etwas daran, dass „Marx und der globale Süden“ wichtige Fragen aufwirft: Gibt es wirklich keine Arbeiterklasse mehr? Was bedeutet die Verlagerung der industriellen Produktion in den globalen Süden? Welche Rolle spielt der Marxismus in den betroffenen Ländern? Felix Wemheuers Einleitung, die diese Fragen – und andere – umreisst, ist sehr gelungen, zumal der Autor den verbalen Jongleuren der Postmoderne beweist, dass man komplizierte Zusammenhänge durchaus auch verständlich formulieren und vermitteln kann. Frech wird es jedoch am Ende, wenn Wemheuer meint, „die Dekonstruktion von Herrschafts- und Machtverhältnissen gelang den Postmodernen Theorien ohnehin nur auf dem Papier“ (S. 29). Bei aller Begeisterung für Marx und die Welt als ganze kann postmodernen Theorien nicht abgesprochen werden, viel zur Verbesserung der Lebensverhältnisse von LGBT-Personen oder rassifizierter Minderheiten beigetragen zu haben. Die metaphorische Kirche sollten auch Marxist_innen im Dorf lassen.Der zweite und dritte Teil des Buches entschädigen zum Glück für die Aussetzer des ersten. Im zweiten Teil werden interessante historische Fragen zu Sklaverei und ursprünglicher Akkumulation sowie zum Marxismus in Lateinamerika besprochen. Der dritte Teil bietet Fallstudien zu den Klassenverhältnissen in China, Indien und Südafrika. Anstatt sich in der Verteidigung von Säulenheiligen zu ergehen oder eitle akademische Scharmützel zu führen, nähern sich diese Texte den entscheidenden Fragen einer den Kapitalismus herausfordernden globalen Klassenpolitik und machen das Buch lesenswert. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge von David Mayer zu Lateinamerika und von Reinhart Kössler zu „Lohnnexus, Prekariat, globale Arbeiterklasse und soziale Kämpfe“.
Mayer formuliert die klügsten Gedanken des Buches zum Verhältnis von Marxismus und Universalismus. Er beschreibt den Marxismus als „globales Geflecht von wechselseitigen Referenzen (...), das polyzentrisch war und Transfer- und Austauschdynamiken umfasste“, beziehungsweise als „universalisiertes Phänomen, dem man nur durch eine globalgeschichtliche Sicht gerecht werden kann“. Er verweist auf die vielen mit dem Marxismus verbundenen „Grenzüberschreitungen“ und die Tatsache, dass ein zu starker Fokus auf regionale Marxismus-Adaptionen zu „Essentialisierung, (Selbst-)Exotisierung und Provinzialisierung“ (S. 149) führen kann . Zwar löst das nicht die Frage auf, ob in einer europäisch kolonisierten Welt nicht alles irgendwie eurozentrisch ist, aber es deutet ein auf dieser Grundlage sinnvolles Verständnis von Universalismus an.
Kössler analysiert ein solches Verständnis zwar etwas schleppend, aber präzise, mit Blick auf eine mögliche „globale Arbeiterklasse“, die es in gewisser Hinsicht gibt und dann doch wieder nicht. Zum etwa von Karl Heinz Roth verwendeten Begriff des „Multiversums“, der versucht, die Vielfältigkeit globaler Arbeitsverhältnisse einzufangen, schreibt er: „Dies ist zweifellos ein wertvoller Anstoss, die beschränkte Fixierung auf das klassische Proletariat zu überwinden. Es bleibt aber das Problem, dass die genaue Beziehung aller dieser Verhältnisse zum Kapital oder auch zueinander wenig geklärt ist.“ (S. 309)
Nicht nur diese Erkenntnis bestätigt, dass viel zu tun bleibt, um auf der Basis der vorliegenden Analysen effektive globale Widerstandsmöglichkeiten zu entwickeln. Unaufgeregte Diskussion und Kooperation dienen dem eher, als mit Chibber von „Armeen von Doktoranden“ zu fabulieren, die im Pluralisierungseifer Vorstellungen infrage stellen, die „fast zwei Jahrhunderte lang in der Linken allgemein anerkannt“ wurden (S. 69, 71). Als wäre das ein Argument für irgendwas.