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Francis Seeck, Brigitte Theissl (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus

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Francis Seeck, Brigitte Theissl (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus Unsere Stimmen gegen eure Privilegien

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Sachliteratur

Der umfangreiche Sammelband bietet vielfältige Perspektiven auf Klassismus und sollte jeden Marx-Lesekreis ergänzen.

Francis Seeck, Brigitte Theissl (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus.
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Francis Seeck, Brigitte Theissl (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

Datum 9. April 2021
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„What's classy if you're rich but trashy if you're poor?“ fragte ein_e Reddit-User_in 2015. Die unzähligen Antworten reichen von „Geld vom Staat kriegen“ über „in einem Hotel wohnen“ bis hin zu „gebrauchte Kleidung tragen“. Diese Antworten zeigen zum Teil die Doppelstandards in akademisierten linken Zusammenhängen, wenn es um die Auseinandersetzung mit Klasse und Armut jenseits von Theorieproduktion geht. Innerhalb feministischer Bewegungen ist der Begriff des Klassismus und die Auseinandersetzung mit Klasse als gesellschaftliche Strukturkategorie schon in den 1980er Jahren aufgekommen. Wegweisend zu nennen sind dabei Anja Meulenbelts Werk „Scheidelinien“ und das aktuell in neuer deutscher Übersetzung erschienene Buch „Die Bedeutung von Klasse“ der grossartigen bell hooks.

Der vor kurzem im Unrast-Verlag erschienene Sammelband „Solidarisch gegen Klassismus“ bietet nun 26 Texte zum Verständnis über individuelle und strukturelle Formen von Klassismus, fokussiert auf deutsche und österreichische Verhältnisse und Un_Sichtbarkeiten. Der Sammelband eröffnet vielfältige neue Perspektiven in Ergänzung zu Büchern wie „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon und „Ein Mann seiner Klasse“ von Christian Baron, welche die „Aufstiegsgeschichten“ von weissen Männern nachzeichnen und damit jedoch nur einen Teil jener, die mit Klassismus kämpfen müssen.

Die Zugänge und Themen sind dabei ebenso breit wie die gewählten Textformen. In Interviews, Gedichten, theoretischen Einführungen und Selbstdarstellungen geht es unter anderem um die Frage, wie eine Organisierung und Unterstützung gegen die Schikanen von Behörden aussehen kann – hier kommen die Erwerbsloseniniative BASTA! und die Solidarische Aktion Neukölln zu Wort – oder um Formen der solidarischen Umverteilung innerhalb linker Strukturen – betrachtet mit historischem Blick auf Prololesben und aus der Perspektive einer gemeinsamen Ökonomie in einer Kommune. Die Frage, welche intersektionalen Perspektiven sich in einer auch durch Rassismus und Behindertenfeindlichkeit (Ableismus) geprägten Gesellschaft zeigen und wie Klassismus in Bildungseinrichtungen, Soziale Arbeit und Kulturarbeit wirkt, wird in anderen Kapiteln hervorgehoben. Gemein ist allen Artikeln, dass sie einen Praxisbezug haben und sowohl Denkanstösse bieten, als auch Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

Diagnose: Kapitalismus

Oft wird Menschen, die sich mit Klassismus beschäftigen, vorgeworfen, sie würden sich nur auf Diskriminierungserfahrungen konzentrieren und damit eine marxistische Analysen der Klassengesellschaft aussen vor lassen. All diesen Personen sei Philipp Schäfers Artikel „Klassismus – (k)ein Thema in der Sozialen Arbeit?!“ (S. 209–21) ans Herz und auf den Schreibtisch gelegt. Klar verständlich und angereichert mit Beispielen aus der eigenen Praxis der Sozialen Arbeit wird hier erklärt, dass eine Beschäftigung mit Armut seit jeher Thema der Sozialen Arbeit ist.

Im Laufe der Zeit ging diese systemkritische Perspektive verloren und folgt mittlerweile dem Mainstream-Duktus, dass die Ursache von Armut nicht in einer ungleichen Gesellschaft zu suchen sei, sondern im individuellen Versagen von Menschen. Um die Wirkungsweise von Klassismus aufzuzeigen, sieht Schäfer es als notwendig an, die strukturelle (nach Karl Marx) und kulturelle Ebene (nach Pierre Bourdieu) in den Blick zu nehmen und dabei nicht als gegensätzliche, sondern als sich gegenseitig bedingende Ebenen wahrzunehmen: Kapitalismus ist dabei die Krankheit, die den Klassismus als ein Symptome hervorbringt (S. 213). Aufgabe der Sozialen Arbeit sollte es sein, Handlungsempfehlungen für eine klassismuskritische Praxis zu formulieren und damit auch immer wieder die Krankheit benennen, deren Symptome man versucht, abzumildern.

Solidarische Spielräume

Welche Handlungsmöglichkeiten sich in linken und kollektiven Kontexten zur Auseinandersetzung mit Klassismus finden lassen, beschreiben Charlotte Hitzfeld und Nadine Kaufmann vom Kollektiv Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. (S. 117–28). Abgeleitet aus den eigenen Annährungen des Kollektivs an das Thema Antidiskriminierung und Rassismus zeigen sie die Schwierigkeiten auf, sich in linken (Arbeits-)Kontexten mit der eigenen Klassenbiographie auseinanderzusetzen: „Mit der Sichtbarmachung der Differenzkategorie durch das Monitoring rutschte Klassismus für alle auf die Tagesordnung.“ (S. 212)

Die beiden Autor_innen geben dabei einen Einblick in die verschiedenen Formate zur Auseinandersetzung, welche von internen Fortbildungen über ein Skill-Sharing, einem Bücherregal mit entsprechender Literatur bis hin zu Selbstorganisierung von Klassismus betroffenen Kollektivista_s und antiklassistischer Kooperationspolitik reichen. Gerade der Ansatz, gezielt ausserhalb der eigenen akademisierten Blase neue Verbündete zu suchen, scheint so sinnvoll.

Hierbei geben die Autor_innen einen offenen und ehrlichen Einblick, dass die Auseinandersetzung als Gruppe stets eine Herausforderung bei laufendem Alltagsgeschäft bleibt, und wo gerade in Bezug auf finanzielle Teilhabe und Umverteilung noch Spielräume bestehen. Als Beispiele zum Ausgleich ungleicher Vermögen nutzt das Konzeptwerk beispielsweise die Möglichkeit einer Vermögensaufstockung durch das Kollektiv; ausserdem gibt es einen anonymen Solidaritätstopf, über den Geld geteilt wird, „ohne dass dadurch persönliche Beziehungen beeinflusst werden“ (S.124).

Aktive Desintegration

Julia Wasenmüller beginnt ihren Text „Migrantische Selbstorganisation gegen Klassismus und Rassismus“ (S.157–67) damit, warum sie ihn zu Beginn 2020 unbearbeitet zur Seite legen musste: Zu gross war nach dem Attentat in Hanau der Schmerz und das Wissen darum, dass Rassismus und rechter Terror Menschen tötet, die auf eine rassifizierende Art markiert werden. Und mit Ausbruch der COVID-19-Pandemie wurde sichtbar, wer die Menschen sind, die in schlecht bezahlten aber „systemrelevanten“ Berufen arbeiten, wie migrantisch und häufig nicht-weiss Niedriglohnbereiche und Pflegeberufe geprägt sind. Mit Blick auf ihre eigene Kindheit verschwimmt laut der Autorin, ob Erfahrungen durch Migration oder durch Klasse geprägt sind:

„Wollte ich nicht, dass deutsche Kinder mich besuchen, weil in der Küche ein Deko-Samowar stand oder weil wir kein Bücherregal im Wohnzimmer hatten?“ (S.158)

Die gesellschaftliche Spaltung in vermeintlich gute (aka weisse und christliche) und schlechte (aka BIPoC und muslimische) Migrant_innen wird auch von den weissen Migrant_innen selbst vorangetrieben, so Julia Wasenmüllers These. „Russlanddeutsche“ und Spätaussiedler_innen, also Personen aus der ehemaligen Sowjetunion mit „deutscher“ Herkunft, werden mit rassistischen und anti-slawischen Stereotypen konfrontiert, und zeitgleich buhlt die AfD um ihre Stimmen.

Sie zeigt auf, dass die Erfahrung, arm oder mit wenig Geld aufgewachsen zu sein, eine ist, die viele Migrant_innen teilen – ganz unabhängig von ihrer Herkunft. Hierbei spricht sie auch die immerwährende Existenzangst an, die sich in hohen Leistungsanforderungen und dem Druck, immer härter zu arbeiten, manifestiert:

„Wir werden Häuser in russlanddeutschen Siedlungen in deutschen Provinzkäffern erben. Wenn wir Glück haben. Wenn wir Pech haben, Schulden. Und wir erben jede Menge Skills, wie man sich unsichtbar macht, härter arbeitet als andere und sich dabei nicht beklagt“ (S.165)

Julia Wasenmüller ruft Migrant_innen zur Selbstorganisation auf und fordert solidarische Bezugnahme aufeinander, anstatt ein Abarbeiten an dem unerreichbaren Bild der vermeintlich „gut integrierten“ Migrant_innen, denen der Zugang zu sozialer Veränderung nur über Leistung ermöglicht wird.

Wichtige Message für eine unklare Zielgruppe

Unklar bleibt jedoch, an wen sich das Buch richtet: Sozial- und Kulturarbeiter_innen werden Reflexionen über die eigene Praxis finden; Menschen, die selbst Klassismuserfahrungen machen oder gemacht haben, sicher Parallelen zu dem Geschriebenen ziehen können. Generell aber scheint sich das Buch zum einen an akademisierte Menschen zu richten, die sich bisher wenig mit Klassismus beschäftigt haben, und zum anderen eher als Sensibilisierung an genau jene, die sich bisher aufgrund gesellschaftlicher Privilegien nicht mit dem Thema beschäftigen mussten – oder es nicht wollten. Hier geht der Anspruch der beiden Herausgeberinnen nicht immer auf, einen Sammelband zu veröffentlichen mit Erfahrungsberichten, „die überhaupt nicht akademisch geschrieben sind und sich einfach super schön lesen lassen und kein Schwurbel-Diskurs [sind.]“

Was den Sammelband besonders auszeichnet, ist sein Hauptschwerpunkt: eine Auseinandersetzung mit klassistischen Strukturen ohne einen voyeuristischen Blick, sondern immer selbstbestimmt und selbstermächtigend. Diese Perspektive ist so wichtig, dass sich einige Leerstellen in den Texten aushalten lassen, wie zum Beispiel der Einfluss von Ost-West-Perspektiven oder fehlende linke Gewerkschaftsperspektiven. Der Sammelband bietet schliesslich einen grossartigen und stabilen Startpunkt für die weitere Auseinandersetzung.

peps perdu
kritisch-lesen.de

Francis Seeck, Brigitte Theissl (Hg.): Solidarisch gegen Klassismus. organisieren, intervenieren, umverteilen. Unrast-Verlag, Münster 2020. 280 Seiten. ca. 19.00 SFr., ISBN: 978-3-89771-296-6

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.