Franz Jung, 1888 in Neisse/Oberschlesien geboren. Autor, Börsenjournalist, Bohémien, Wirtschaftsanalytiker und revolutionärer Aktivist. Mitinitiator der Dada-Bewegung, Teilnahme an den revolutionären Kämpfen nach 1918 und an der Entführung eines Schiffes nach Russland, um mit Lenin über die Revolution zu diskutieren. In der frühen Sowjetunion als Organisator der Hungerhilfe und beim Aufbau einer Fabrik tätig. Nach 1933 von den Nazis verhaftet, illegale Tätigkeit in Genf, Wien, Budapest. 1944 Flucht nach Italien, 1947 Exil in den USA. Ende der 1950er Rückkehr nach Europa. 1961 erscheint die Autobiographie „Der Weg nach unten“. Jung stirbt 1963 in Stuttgart.
Hier als Einstimmung das Vorwort zum Buch:
Franz Jung, Rhythmusgitarre oder: Nichts geht verloren!
Franz Jung erschien mir vor gut 50 Jahren in der staubigen Hölle einer Universitätsbibliothek, kein guter Ort für ihn – und auch für mich nicht, wie sich später herausstellen sollte. Er grüsste aus Murmansk, wohin er mit einem Genossen 1920 ein Schiff entführt hatte, um mit Lenin über die oppositionelle Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands zu verhandeln. Eine grosse Sache, dachte ich, direkte Aktion im Dienste der Weltrevolution. Später sah ich das berühmte Foto, auf dem die Sozialdämmerkraten Ebert und Noske 1919 in schlabbrigen Badehosen an der Ostsee im knietiefen Wasser stehen, und verstand, warum es mit der deutschen Revolution niemals klappen konnte. Franz Jung sah in Badehosen besser aus.Lehre Nr. 1: Es wird das gemacht, was gerade gemacht werden muss. Jung war überall, wo es einen gefährlichen und unangenehmen Schritt zu tun gab, auch wenn es von vornherein vergebene Liebesmüh war, etwa das Verhandeln mit Lenin.
Dann erschien mir Franz Jung immer öfter. Als Schriftsteller, der den literarischen Expressionismus auf dem Boden der zwischenmenschlichen Beziehungen festnagelte. Später sagte er: „Ich habe den Ehrgeiz überwunden, als Schriftsteller anerkannt zu werden, als Geschäftsmann, als Liebhaber ...“ Bei mir hiess das Liebeskummer und die Unmöglichkeit, zueinander zu kommen. Auch die schemenhafte Liebe zum Proletariat war vor allem Enttäuschung.
Lehre Nr. 2: Lass dich trotzdem von deiner Gefühlswucht treiben.
Die erste Revolte ist selbstverständlich die gegen den Vater. Franz Jung senior, ein respektabler, bekannter Bürger der oberschlesischen Stadt Neisse, muss den völlig betrunkenen Sohn vor allen Leuten nach Hause schleppen. Was für eine Schande, was für eine Scham!
Lehre Nr. 3: Am Anfang ist der Sprung hinaus aus der Langeweile, aus dem Behausten, aus der Gehemmtheit. Der Alkohol, der Rausch allgemein, hilft dabei.
Seit dem engeren Kontakt mit Franz Jung verwende ich das Wort „Revolution“ nicht mehr, sondern sage „Revolte gegen die Lebensangst“. Und wenn Jung dann mit der „Technik des Glücks“ kommt, dann möchte ich angesichts seines Lebens fast mit einer „Technik des Unglücks“ kontern. Er war viermal verheiratet und grösstenteils ein lausiger Vater. „Mein Vater war ein Zerstörer“, sagt Peter Jung, Sohn von Franz Jung und seiner dritten Frau Harriet Scherret, in seinen Erinnerungen Ein Koffer aus Eselshaut.
Lehre Nr. 4: Mehr Tempo, mehr Glück, mehr Macht!
Ein Freund schrieb einst einen Artikel, in dem er Franz Jung zum Mann des Jahrhunderts ernannte, das war 1980. Wir waren alle der Meinung, dass Jung ein Punk war, noch bevor er bei Dada mitmischte. Und wenn er schon Punk war, dann war er auch in einer Band und spielte die Rhythmusgitarre. Denn der Rhythmus war seine Sache, sonst hasste Franz Jung Musik: „Verwechseln Sie nicht Musik mit Rhythmus. Der Rhythmus steckt in den Knochen, im Blut, im Organismus, in der Lebenserwartung und im Zusammenbruch dieser Erwartung“, schreibt Jung in seiner Autobiographie Der Weg nach unten.
Lehre Nr. 5: Nichts geht verloren! Aber alles Schwindel von Anfang an! Das sagt Franz Jung immer wieder. Sein Werk hat mehr mit Erahnen als mit Verstehen zu tun. Man muss sein Fan sein, nicht Adept, nicht Jünger, nicht Schüler.
Peter Jung erzählt auch, dass sein Vater lebenslanger Anhänger des Berliner Fussballvereins Minerva 93 war. Der hatte in den 1930er Jahren seine besten Zeiten.
Mit dem politisierenden Marxismus hatte Franz Jung nicht viel am Hut, aber er mochte laut seinem Sohn Peter die Marx Brothers (echte Brüder namens Groucho, Chico, Harpo) und ihre anarchistischen Klamaukfilme, etwa die Kriegssatire Duck Soup.
Lehre Nr. 6: Man muss einen Menschen erst einmal in seiner spielerischen Begeisterung sehen, bevor man ihn mögen kann und sich ihm ausliefert.
Franz Jung war ein Mann, der zweifelhafte Geschäfte in und mit einer verrotteten Welt machte. Er brachte in der frühen Sowjetunion Fabriken wieder zum Produzieren und arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg, aus dem KZ entlassen, in Italien als Bäcker. Der Schweizer Dichter und Philosoph Adrien Turel, Mitarbeiter bei Jungs Zeitschrift Der Gegner und in den frühen 1930er Jahren kurzfristig bei Jungs zweiten Frau Cläre wohnend, meinte, dass Franz Jung ein begabter Nationalökonom, aber viel zu nervös gewesen sei. Cläre Jung war übrigens diejenige, die den Laden zusammenhielt. Sie war in Berlin das emotionale, pragmatische und informelle Zentrum des Jung-Clans.
Lehre Nr. 7: Wer möchte heute jemandem den Geschäftemacher vorwerfen, da dies völlig normal geworden ist.
Ganz am Ende seiner Autobiographie erzählt Franz Jung von frühmittelalterlichen Ketzern in Südfrankreich, den Albigensern, die ihre Alltagssorgen auf einen Rosenstrauch an der Rückseite ihres Hauses übertragen hätten: die Wünsche, die Ängste, Krankheiten, alles das, wovon sie nicht verstehen konnten, dass es sie traf. Täglich hätten sie im Anblick des Rosenstrauchs verweilt, bis die Magie der Wachstumskraft und des Blühens auf sie übergegangen seien. Nun, ich habe vor meinem Küchenfenster sogar zwei Rosensträucher.
Wer keinen solchen am Haus hat, lese einfach Franz Jung. Das hilft auch.
Letzte Lehre: Befolge keine Lehren!
Buchvorstellung und Lesungen in der Schweiz:
8.11.2024 Zentrum für Anarchie Aarau
9.11.2024 Theater Basel, Alte Billettkasse