Springen als Form des Widerstands
Der Bericht von Erna Klinger steht exemplarisch für zahllose jüdische Menschen, die durch einen Sprung aus den Deportationszügen der Nationalsozialisten fliehen wollten. Für ihr Sachbuch „Das eigene Schicksal selbst bestimmen. Fluchten aus Deportationszügen der ‚Aktion Reinhardt' in Polen“ hat Franziska Bruder 135 Zeugnisse dieser Springer_innen ausgewertet. Erschienen ist es in der Reihe antifaschistischer Texte des Unrast Verlags, in der die Historikerin bereits über den Aufstand der Gefangenen im NS-Vernichtungslager Sobibór oder über den kommunistischen Schriftsteller Stanislaw Wygodzki geschrieben hat, der das KZ Auschwitz überlebte.Bruder begreift die Ausbrüche aus den Zügen als eine von zahlreichen Formen des jüdischen Widerstands gegen die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Derlei Fluchten waren Teil der jüdischen Selbstbehauptung: Die Springer_innen unterstützen sich gegenseitig, Jüd_innen suchten entlang der Gleise nach Verletzten, und Partisan_innen nahmen die Überlebenden nach der Flucht in ihren Gruppen auf. Die historische Abhandlung würdigt auch jene Formen des unbewaffneten Widerstands, die in der Öffentlichkeit lange nur wenig berücksichtigt wurden. Bruder betont:
„Angesichts der unfassbaren Zahl von 1,5 Millionen ermordeten Juden im Rahmen der ‚Aktion Reinhardt' ist jede Geschichte, die noch erzählt werden kann, jeder Name von Springerinnen und Springern, der sich dem Vergessen entreissen lässt, der Erwähnung und Betrachtung wert.“ (S. 20)
Die individuellen Schicksale der Springer_innen bilden den Kern des Buches. Hierfür hat Franziska Bruder die Berichte von Überlebenden und Zeitzeug_innen aus dem Jüdischen Historischen Institut, Dokumente der Ermittlungsverfahren gegen NS-Täter sowie autobiografische Texte aus dem Archiv von Yad Vashem in Jerusalem akribisch ausgewertet. Der Umfang der dazugehörigen Darstellungen variiert aufgrund der verschiedenen Quellenlage deutlich. Teilweise umfassen die überlieferten Informationen nur wenige Zeilen, es finden sich jedoch auch Schicksale, zu denen Porträtaufnahmen sowie detaillierte Kenntnisse des Lebens vor und nach dem Sprung vorliegen. Eingerahmt werden die einzelnen Darstellungen von einer Analyse der sozialen Bedingungen für die Flucht und einer Abhandlung, die sich mit den Überlebensstrategien nach dem Sprung befasst.
Vorbereitung auf die Flucht
Zentral für die Möglichkeit zur Flucht war die Kenntnis der jüdischen Bevölkerung über die Existenz der Vernichtungslager, die erheblich durch eine gezielte Desinformation seitens des NS-Regimes erschwert wurde. Jüdische Zwangsarbeiter_innen, die entlang der Zugstrecken eingesetzt wurden, versuchten, die Deportierten auf ihre lebensbedrohliche Situation hinzuweisen. Und aus fast jedem Zug wurden Karten und Briefe geworfen, um die in den Ghettos verbliebene Bevölkerung vor den vermeintlichen „Arbeitslagern“ zu warnen. So dauerte es nur wenige Wochen, bis die jüdische Bevölkerung an Abfahrtsbahnhöfen und entlang der wichtigen Streckenabschnitte über den Zweck der Lager in Bełżec, Sobibór, Treblinka sowie in Auschwitz-Birkenau und Majdanek informiert war. Über jüdische Parteien und Jugendorganisationen wie Hashomer Hatzair wurde die Information verbreitet und von einzelnen Personen bestätigt, denen die Flucht aus den Lagern gelungen war. Die verbliebenen Bewohner_innen der Ghettos konnten sich, so gut es ging, auf ihre anstehende Deportation vorbereiten. Das wird an einem Gespräch auf dem Umschlagplatz von Warschau deutlich, von dem der Überlebende Marian Berland berichtet:„Ich habe ein gesamtes Werkzeugset dabei, das wir brauchen, um die Tür im Waggon zu öffnen. Ich habe eine Säge, einen Schraubenzieher, eine Zange und noch verschiedene andere Dinge.“ (S. 299)
Schon an derlei Vorbereitungen auf die Flucht wird klar, wie begrenzt die Möglichkeiten waren, die Jüd_innen für ihre Gegenwehr zur Verfügung standen. Selbst mit einer akribischen Vorbereitung waren die Überlebenschancen der einzelnen Springer_innen gering. Gemeinsam ist vielen der im Buch dargestellten Menschen der Wunsch, lieber durch den Sprung aus dem Zug zu sterben oder von einem Wachtposten erschossen zu werden, als am Zielort vergast zu werden. Die Wahl der Todesart wird so zur letzten verbliebenen Möglichkeit, Einfluss auf das eigene Schicksal zu nehmen.
Aus Opfern werden Menschen
Mit „Das eigene Schicksal selbst bestimmen“ liegt die bisher detaillierteste Ausführung zu dieser Form der jüdischen Selbstbehauptung im Nationalsozialismus vor. Auf über 500 Seiten macht Bruder deutlich, wie die jüdische Bevölkerung Polens in den frühen 1940er-Jahren mit den verbliebenen Handlungsoptionen umgegangen ist. Damit ergänzt sie die bestehenden Forschungen, darunter insbesondere eine Studie der Historikerin Tanja von Fransecky, die bereits 2014 ein Buch zur "Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden" vorgelegt hat. Gleichzeitig widerlegt sie die bisherige Annahme, dass vornehmlich junge Männer den Sprung aus fahrenden Zügen gewagt haben. Auch für Leser_innen ohne wissenschaftliche Vorkenntnisse sind ihre Darstellungen klar und verständlich.In der Publikation werden einige wenige der zahllosen Opfer des Nationalsozialismus wieder als einzelne Menschen sichtbar: Nachdem sich Erna Klinger die Nacht über im Sumpf versteckt hatte, kehrte sie am nächsten Tag nach Drohobycz zurück, wo sie denunziert und vorübergehend verhaftet wurde. In der Folge ging sie weiter nach Lemberg. Gemeinsam mit ihrem Kind konnte sie dort die Herrschaft der Nationalsozialist_innen überstehen und das Ende des Krieges erleben, indem sie ihre jüdische Herkunft hartnäckig abstritt. Ihr Bericht ist eine der 135 Lebensgeschichten aus Franziska Bruders Buch. Nicht alle davon sind detailliert überliefert, aber keine davon darf vergessen werden.