Friedemann Karig: Was ihr wollt Ein Versuch über zivilen Ungehorsam
Sachliteratur
Zugegeben, ich gehe an Bücher, welche ein Bestseller-Logo des Spiegel tragen, nicht unbedingt interessiert heran.
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18. Oktober 2024
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Somit ist das Buch Ausdruck einer latenten Polarisierung dahingehend, dass das Bürgertum einerseits eklatant reaktionär wird und sich andererseits zaghaft darauf besinnt, dass alle politische und sozialen Errungenschaften von Menschen erkämpft und der Herrschaft abgetrotzt wurden. So führt auch erst die offensive Anfechtung der hegemonialen – als demokratisch verstandenen – Ordnung dazu, dass sich die Demokratie ihrer selbst bewusst wird und sich politisieren muss. Hierbei gilt es dem Selbstverständnis nach etwas zu „schützen“ und sich als „schweigende Mehrheit“ für den Status quo einzusetzen, wobei völlig ignoriert wird, dass die viel beschworene Demokratie sich selbst an ihren eigenen antidemokratischen Elementen zerlegt.
Im Wesentlichen erläutert und skizziert Karig, warum wir über friedlichen Protest nachdenken und diesen als Bestandteil der Demokratie begreifen sollten. So sei in Demokratien „Protest aller Art zuerst ein Akt demokratischer Selbstermächtigung, und damit zugleich stets Ausdruck einer zumindest impliziten Zustimmung zum System. Ausnahmen sind extremistische Proteste, die sich demokratischer Mittel bemächtigen, um die Demokratie oder ihre grundlegenden Werte an sich anzugreifen“ (S. 17). – Wer allerdings die diskursive und juristische Macht hat, etwas als „extremistisch“ zu bezeichnen, diese Frage blendet Karig aus, auch wenn er sich zurecht über die Kriminalisierung der Klimabewegung aufregt. Damit wird ersichtlich, dass er sich zu den Guten rechnet und sein eigenes Leben nach ethischen Kriterien ausrichten möchte.
Dies ist ein nachvollziehbarer Ansatz, der allerdings einer bürgerlichen Logik entspricht, weil er die Sichtweisen derjenigen, welche schon immer unter der bestehenden Herrschaftsordnung gelitten haben, ausblendet und ein problematisches „Wir“ generiert. Dem entspricht auch, dass dem Autoren manche Ungleichheiten nicht passen mögen und er sich gegen „Diskriminierung“ wendet, von der Realität der Klassengesellschaft auch in der BRD aber offenbar noch nicht viel mitbekommen hat.
In Was ihr wollt wird auf bekannte Beispiele von Protestbewegungen verwiesen, darunter insbesondere jene gegen „Rassen“-Trennung um Martin Luther King, die antikolonialen Kämpfe der sozialen Bewegungen um Gandhi, die Proteste gegen das Apartheitsregime in Südafrika, die sogenannte „friedliche Revolution“ am Ende der DDR sowie die „farbigen“ Revolutionen. Hinsichtlich letzteren verweist Karig insbesondere auf die Rolle der Gruppierung Otpor!, deren Ansatz im Protest gegen das autokratische Regime von Slobodan Milošević so beeindruckend war, dass er in die Ukraine, nach Georgien und – erfolglos – nach Belarus und Ägypten exportiert wurde. Von dort aus geht es zur wohlwollenden Bezugnahme auf Fridays for Future und Die letzte Generation, da Klima auch das Herzensthema des Autoren ist.
Informiert durch sozialwissenschaftliche Literatur zum Thema (z.B. Mau/Lux/Westheimer 2023), begeistert sich Karig für Sozialtechnolog*innen, die professionellen Protest thematisieren und organisieren (s. z.B. Erica Chenoweth – Why Civil Resistance Works). Er schreibt „Protest, zumal in Form von Massendemonstrationen, scheint meist kein Rennen, sondern ein Tanz – vor und zurück, seitwärts, im Kreis. Er zeigt Regierenden, womit sie zu rechnen haben, was die Leute bewegt. Zwingen aber kann er sie zu nichts.
Sosehr ich hier versuche, objektive Mechanismen von Protest festzustellen, so ehrlich muss ich zugeben: Es gibt keine direkte Kausalität, keine magischen Zahlen, keine kritische Masse, die man erreichen muss, und dann wird alles gut“ (S. 31). – Da es gleichwohl den Anschein macht, als wäre der Wunsch nach dem heiligen Gral des perfekt abgestimmten Protests beim Autoren stark vorhanden wäre, überrascht es nicht, dass dieser auch dem Bewegungs-Management vieles abgewinnen kann.
Er reproduziert damit die Konzeption des „Aktivismus“, welche gewollt im Rahmen des bestehenden politischen Systems verbleibt und auf Verbesserungen desselben abzielt. Karig gibt zwar vor, dafür strategische Gründe zu haben, wenn er schreibt: „Letztendlich ist jeder Protest […] Teil des Systems, gegen das er protestiert. Er trägt selbst als Störenfried eines Systems immer auch zum Fortbestand desselben bei, da er sich seiner Medien und Sprache bedienen muss. In der Ökologie der Aufmerksamkeit muss eben auch Protest, so provokant und forsch er auftreten mag, sich möglichst präzise an das diskursive System anpassen, das er verändern will“ (S. 101).
Tatsächlich zeigt sich in seiner Argumentation aber vor allem eines: Dass es grundsätzlich Alternativen zur bestehenden Gesellschaftsform gibt, für welche protestiert werden könnte, kommt ihm nicht in den Sinn.
Friedemann Karig: Was ihr wollt. Ullstein Hardcover 2024. 192 Seiten, ca. 29.00 SFr, ISBN 978-3-550-20166-0.