In die Debatte schaltet sich nun der Sammelband „materializing feminism“ ein. Die Herausgeberinnen Friederike Beier, Lisa Yashodhara Haller und Lea Haneberg appellieren daran, den Fokus wieder mehr auf die „Bedingtheit der historischen und gesellschaftlichen Materialitäten“ (S. 11) zu setzen und versammeln dazu elf Beiträge, die sich mit der Verbindung von Geschlecht zu Staat, Kapital und Kolonialismus befassen. Sie schaffen es dabei, nicht in öde Gegenüberstellungen von poststrukturalistischen und marxistischen Theorien oder Klassen- und Identitätspolitik zu verfallen. Vielmehr werden die theoretischen Differenzen produktiv gemacht.
Soziale Reproduktionsarbeit
Auch wenn der Band unterschiedliche Ansätze versammelt und Widersprüche nebeneinander stehen, gibt es wiederkehrende Themen. Ein Fokus des Bandes lässt sich deutlich in der un- oder schlecht bezahlten sozialen Reproduktionsarbeit ausmachen. Hier bietet der Band eine kurze, aber prägnante Analyse des patriarchalen Kapitalismus, der auf der Auslagerung von Sorge- und Hausarbeit in das Private basiert. Einen wichtigen Beitrag dazu bildet der Artikel von Juliana Moreira Streva zu Identitätspolitik in Lateinamerika. Sie macht deutlich, „dass das patriarchalisch-kapitalistische System und die koloniale Expansion primär nicht nur auf unterbezahlter, sondern auch auf versklavter und gänzlich unbezahlter Arbeit basieren.“ (S. 142) Strevas Argumentation unterstreicht, dass eine leidenschaftliche Identitätspolitik keineswegs Klassenpolitik gegenübersteht, sondern eng mit ihr verwoben ist. Differenz wagenBesonders erhellend ist der Beitrag „anders zusammen zusammen anders – vom Differenzfeminismus lernen“ von Verena Letsch und Isabell Merkle. Denn darin räumen die Autorinnen mit Vorurteilen um den Differenzfeminismus auf und schaffen eine neue Perspektive, indem sie Differenz nicht nur im Bezug auf Geschlechterunterschiede denken, sondern die Verschiedenheiten von Frauen miteinbeziehen. Ihre Thesen entwickeln sie entlang des Buches „Wie weibliche Freiheit entsteht“, das Ende der 1980er Jahre von italienischen Autorinnen des Mailänder Frauenbuchladens verfasst wurde. Sie nutzen die Vorüberlegungen aus Mailand dazu, einen Differenzfeminismus zu entwickeln, der „keine einheitliche Identität Frau mit einer vermeintlich geteilten gesellschaftlichen Position, die Ausschlüsse produziert“ (S. 225) proklamiert, sondern die Ungleichheiten zwischen Frauen als Potential der Frauenbewegung begreift.
Der sozio-erotische Körper
Anna Stiedes Beitrag zum sozio-erotischen Körper ist eine Streitschrift voller Liebe für eine andere Welt. Es gelingt ihr, durchaus abstrakte Ideen praktisch zu denken und dadurch das Narrativ von einem Ende der Geschichte aufzubrechen. Eine andere Gesellschaft denkt sie durch den Körper, genauer: den sozio-erotischen Körper nach Franco Berardi, einem italienischen Postoperaisten. In Zeiten der digitalen Revolution ist es der Körper, in dem Raum und Zeit aufeinandertreffen. Die „Ideologie der Unendlichkeit“ (S. 201) des digitalen Kapitalismus zerfleischt uns. Unsere Körper kommen nicht mehr mit. Das führt zu Unwohlsein, Depressionen und Burn-outs bis hin zum Suizid. Eine leidenschaftliche Klassenpolitik, so Stiede, „muss daher die Raum- und Zeitachse in Einklang bringen.“ (S. 202) Dazu müssen wir einerseits erkennen, dass wir auf andere angewiesen sind, und andererseits lernen, die verinnerlichte Dichotomie von Geist versus Körper zu überwinden. Stiede plädiert dafür, unsere Gefühle nicht länger unseren Gedanken gegenüber zu stellen und „Musse, Lust, Begehren sowie die schwierigen Emotionen als politische Felder“ (S. 205) zu begreifen.Eine dekonstruktivistische Brille
Gudrun-Axeli Knapp fordert in ihrem Beitrag „Mut zur Kontroverse“ mehr Widerstreit in der feministischen Bewegung, speziell in den akademischen Kreisen. Sie fragt, wie es dazu kommen konnte, dass es heute selten noch artikulierten Widerspruch gibt, obwohl es doch eigentlich so viel zu besprechen gäbe. Aus der festgefahrenen Lage, die sie als das klassisch feministische und queerfeministische identifiziert, weist, so Knapp, nur der „zugewandte Widerstreit“ (S. 31) hinaus. Sonst gelange man in einen Teufelskreis, wenn man sich jeweils nur als neue „Avantgarden der Kritik“ (S.29) darstelle. Erst indem man sich gleichermassen nicht als Weisheit letzter Schluss begreife, könne man sich gegenseitig bereichern.Analog dazu fordert Bini Adamczak, deren Interview den Abschluss des Bandes bildet, Vereinfachungen des Poststrukturalismus und Marxismus zu überwinden und stattdessen mit einer dekonstruktivistischen Brille auf marxistisch-feministische Theorien zu blicken. Diesen Ansatz führt sie im Begriff des materialistischen Queerfeminismus zusammen. Ob dieser allerdings eine Antwort auf die derzeitige Kontroverse sein kann oder soll, wird offen gelassen. Durch die Vielzahl der Stimmen scheint es auch nicht die eine Lösung zu sein, nach der die Herausgeberinnen streben, sondern vielmehr der Anstoss zu einer neuen „Suchbewegung“ (Stiede, S. 195), die Unterschiede benennt und Gemeinsames sucht.
Allen, die sich also näher mit einem theoretischen Fundament und neuen Konzepten des materialistischen Feminismus befassen wollen, ist der Kauf dieses Bandes ans Herz gelegt. Zu beklagen ist lediglich, dass, obwohl die grundlegenden Theorien den Leser_innen zumeist erklärt werden, viele Beiträge durch die hohe Dichte an Fachbegriffen schwer zugänglich sind und dadurch ein eher akademisches Publikum angesprochen wird.