Was ist das eigentlich – eine Freundschaft?
Die Selbstverständlichkeit der kontinuierlichen Familienbeziehung und die Erfahrung der Freundschaft als etwas vorübergehendes, jugendliches benennt de Lagasnerie als Familismus, der staatlich und institutionell gefördert vorgibt, welche Lebensweise die richtige sei. Damit einher geht eine symbolische und institutionell geförderte Herabsetzung der Freundschafts- und Aufwertung der Familienbeziehungen, wie sie besonders während des Lockdowns 2021 zu spüren war.Ideologisch begründete Massnahmen sahen hier vor, dass Personen familiären oder partnerschaftlichen Bezugs in grösserer Anzahl und mit weniger Restriktion besucht werden durften, als solche Menschen, mit denen „nur“ eine Freundschaft verband. Dem entgegengesetzt ist, was de Lagasnerie als die Relationalität der Freundschaft versteht. Diese sei nicht ein Zusätzliches, sondern ein Anderes des herrschenden Familismus. Eine Familie gründen oder darauf hinzustreben, heisse, sich ins Private zurückzuziehen – Freundschaftsbeziehungen wiederum fänden im Öffentlichen statt und würden vor allem dem Rückzug ins Private entgegenstehen.
„Die Freundschaft verändert das Verhältnis zur Welt und die Art und Weise, wie man sich selbst denkt, weil sie eine physische Dezentrierung der Existenz gegenüber dem Heim und dem Privaten einleitet – gegenüber dem, was die Sprache so treffend als Zelle der Familie bezeichnet.“ (S. 136)
Durch das Buch hindurch stellt sich aber die Frage: Was genau unterscheidet die Freundschafts- von der Liebesbeziehung? Worin liegt der Unterschied zwischen dieser in sich geschlossenen Dreierkonstellation und dem Familien- oder Paarleben? Die Familien- und Paarbeziehung findet mehr in der Öffentlichkeit statt; sie lässt den Rückzug ins gemeinsame Wohnen nicht zu, sie fördert den intellektuellen Austausch und fordert die gegenseitige Anerkennung.
Entgegen herkömmlichen Theorien der Freundschaft, wie de Lagasnerie sie bei Georg Simmel, Cicero und weiteren findet, die Freundschaft als Geselligkeit oder Kreativität und als Gegensatz zu instrumentellen Beziehungen fassen, wie die Familie durch ihre soziale Strukturierung eine ist, hält er fest, dass die Freundschaft ihrer Struktur nach ein gemeinsames Streben und eine Steigerung des Selbst durch den Anderen bedeuten muss. Das heisst, dass die Freundschaft nicht bedingungslos funktioniert – da sie über einen anderen Zusammenhalt verfügen muss, als den ihr sozial und ideologisch eingeschriebenen.
Ihr Scheitern ist ihr inbegriffen und so müsse sie auf einer anderen Form des Zusammeneins aufbauen. Die Form der Familie, die sich gegenseitig bedingungslos, weil durch ideologisch aufgeladene Prämissen der Verwandtschaft hergestellte Unterstützung und Daseinsberechtigung verspricht, funktioniert in einer Freundschaft nicht: Hier muss immer wieder eine Entscheidung füreinander stattfinden, die für de Lagasnerie aus eben der gemeinsamen Arbeit und dem gemeinsamen Streben entsteht.
„Wenn sie zur Lebensweise wird, wenn sie zum Gegenstand einer spezifischen Kultur wird, die den Mittelpunkt der Existenz einnimmt, den Ort, in den die psychischen Interessen investiert werden, und nicht das ist, was nach der Familie, der Arbeit, den Nachbarn usw. übrig bleibt, könnte man die Freundschaft als Suche nach einem Ausserhalb interpretieren.“ (S. 63)
Worin aber besteht diese Suche nach dem Ausserhalb?
Familie gleich Kinder?
De Lagasnerie kehrt nach diesem Versuch der Freundschaftsdefinition zurück zur eigenen biographischen Erzählung der Freundschaft mit Eribon und Louis – und beschreibt diese Differenz in einerseits der Öffentlichkeit des freundschaftlichen Austauschs in Cafés und anderen öffentlichen Orten, die nicht das eigene Zuhause sind, und andererseits der Gemeinsamkeit, auf der das Miteinander der drei basiert: Das Schreiben und der intellektuelle Austausch.Spätestens hier allerdings kippt der Text in die Beschreibung eines gemeinsamen Lebens, das genau auf dieser Gleichförmigkeit beruht und die eigene Lebensperspektive als Beispiel setzt, das in seiner Singularität dieses Zusammenlebens dreier wohlsituierter Männer aber wenig Anhaltspunkt für eine Überführung in ein theoretisches Allgemeines bietet. Das Biographische bleibt genau an dem Punkt stehen – eine Erzählung über sich. Es fehlt eine grundlegende Charakterisierung der Familie – an vielen Punkten wird die (in sich geschlossene) Paarbeziehung und die Familie gleichgesetzt, als Form des Zusammenlebens, die auf den Rückzug ins Private und Häusliche ausgerichtet ist und somit alle anderen Beziehungsformen verdrängt. In einer hegemonialen Zeitschiene wäre somit die Jugend und das junge Erwachsenenalter auf die Freundschaft ausgerichtet, die aber mit Eintritt in das „richtige“ Erwachsenenleben der privaten Zweierbeziehung (mit Kindern) weichen würde.
Soweit ist die Kritik nachvollziehbar und in vielen Überlegungen zur Aufbrechung traditioneller Familienstrukturen enthalten. Dem Buch fehlt es jedoch grundlegend an Ansätzen, ausserhalb der eigenen Biographie dieser vorherrschenden Familienstruktur etwas entgegenzusetzen.
Kritik des Familismus?
Treffend beschreibt de Lagasnerie, wie während Corona die Zwänge des auf Familie ausgerichteten Systems erlebt wurden: Die absurdesten Regeln wurden aufgestellt, in denen Blutsverwandte ohne Probleme besucht werden durften, die beste Freundin aber nicht – und Partnerschaften nur, wenn sie irgendwie als solche abgesteckt und benannt werden konnten.Die Kritik dieses Familismus bleibt aber stecken im reinen Entgegensetzen der Freundschaft, ohne auf den Zusammenhang zwischen den Konzepten der Familie, des Selbst, der Staatsbürgerschaft und der (National)Staatlichkeit hinzuweisen oder die Ideen und politischen Entwürfe eines anderen Zusammenlebens, die zahlreiche Feministinnen entworfen haben, auch nur in Betracht zu ziehen. Kinder selbst statt Familienpolitik scheinen ihm der Grund dafür, dass es einen Familismus und den Rückzug ins Private gibt. Familismus als Ideologie, die die bürgerliche Kleinfamilie als naturgegebene „Leitform“ einer Sozialstruktur bezeichnet, wird nichts entgegengesetzt. Besonders die Gleichsetzung von Familie als Familismus und dem Kinderhaben stösst hier auf.
De Lagasnerie möchte lieber ausschlafen, statt Menschen mit Kindern zuzugestehen, dass es hart erkämpft ist, Räume für Personen mit Pflegeaufgaben zu öffnen. Dass universitäre Räume Rücksicht auf Personen mit Kindern nehmen, sieht er kritisch:
„[D]ie Leitung bestand darauf, dass die gemeinschaftlichen Seminare am Vormittag stattfanden, mit der Begründung, dass dies die Lösung sei, die den Institutsmitgliedern mit Kindern am besten entgegenkomme, und dass sie, auch wenn sie in der Minderheit waren, es schafften, eine Position einzunehmen, in der sie sich die Macht über die Zeit der anderen aneignen konnten.“ (S. 71)
Interessant wäre es hier gewesen, eine Gegenposition zur blossen Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu finden, die nicht in ein biographisches Geplänkel über die Schönheit des in Cafés Lesens und gemeinsamen Reisens endet. Dafür reicht die Zusammenführung von Theorie und Biographie hier aber nicht.
Dieses Leben ausserhalb, das de Lagasnerie hier vorstellt, hat an utopischer Kraft nicht viel zu bieten. Die Beschreibung der Freundschaft der drei Männer mit universitärer Festanstellung liest sich stellenweise wie ein Pariser Klischee – lange Cafébesuche mit intellektuellen Gesprächen, gemeinsame Reisen, abendliches Essen in Restaurants und spätes, bitte von Kindern ungestörtes, Aufstehen. Was de Lagasnerie an Theorie aufmacht, geht im Biographischen verloren – oder wird nicht genug entwickelt, um ein politisches Potenzial zu entfalten.