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Zurück am Tatort Stadion

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Diskriminierung und Antidiskriminierung in Fussball-Fankulturen Zurück am Tatort Stadion

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Sachliteratur

Den Herausgebern gelingt ein grosser Wurf in der Aufarbeitung von Diskriminierung in deutschen und europäischen Fussballstadien – mit kleinen Abzügen!

Fankurve des Lazio Rom bei einem Heimspiel. Die Ultragruppierung «Irriducibili Lazio» ist bekannt dafür, dass sie sich offen zum Faschismus bekennt. Lazio wurde vom italienischen Verband deswegen schon mehrfach mit Platzsperren oder Spielen unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestraft.
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Fankurve des Lazio Rom bei einem Heimspiel. Die Ultragruppierung «Irriducibili Lazio» ist bekannt dafür, dass sie sich offen zum Faschismus bekennt. Lazio wurde vom italienischen Verband deswegen schon mehrfach mit Platzsperren oder Spielen unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestraft. Foto: Andrew (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

Datum 27. Oktober 2015
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Vor dem Qualifikationsspiel zur europäischen Champions League zwischen Lazio Rom und Bayer Leverkusen spulte die medienerfahrene UEFA wie gewohnt ihr kulturindustrielles Bekenntnis gegen Rassismus ab. Bandenwerbung mit dem Slogan „no to racism“ und der mit üblichen Stars gespickte Anti-Diskriminierungs-Spot vermitteln wie bei jedem gross angelegten Medienereignis die kosmopolitische Gesinnung der obersten europäischen Fussballorganisation. Dass dies jedoch oftmals ein reines Lippenbekenntnis bleibt und dazu noch im krassen Widerspruch zur Realität in den Fussballstadien steht, musste man dann keine dreissig Minuten später erleben: Bei jeder Ballberührung von Bayers Karim Ballarabi, Wendell und Jonathan Tah beleidigten Lazio-Zuschauer die drei Leverkusener rassistisch mit „Affenlauten“.

Von den teilweise offen faschistischen Laziali ist man so etwas schon gewöhnt. Umso verwunderlicher, dass der Schiedsrichter es bei einer über die Stadionlautsprecher verkündeten Ermahnung beliess. Konsequent wäre ein Spielabbruch gewesen – „no to racism“. Doch so viel Konsequenz soll es dann doch nicht sein im Millionengeschäft Champions League.

Diskriminierende Repräsentationspraxen

Wenn es um Rassismus, Homophobie und Sexismus im Fussball geht, zeigt man gerne nach Italien oder auf die osteuropäischen Ligen. Seit der viel beachteten Ausstellung „Tatort Stadion“ des Bündnisses aktiver Fussballfans (BAFF), die zwischen 2001 und 2007 an über einhundert Ausstellungsorten gezeigt wurde, lassen sich aber auch im hegemonialen Diskurs die vielfältigen Diskriminierungsformen in deutschen Fussballstadien und in der dazugehörigen Fussballkultur nicht mehr wegdiskutieren. Dass dieses Feld mit einer Ausstellung und zahlreichen begleitenden Veranstaltungen aber nicht bestellt ist, zeigt die Materialfülle der Fortsetzung „Tatort Stadion 2“. Mit dem umfassenden Sammelband „Zurück zum Tatort Stadion.

Diskriminierung und Antidiskriminierung in Fussball-Fankulturen“ führen die Herausgeber Martin Endemann, Robert Claus, Gerd Dembowski und Jonas Gabler nun Diskussion um antirassistische und antifaschistische Gegeninitiativen und Handlungsalternativen in deutschen Fussballstadien fort. Dafür werden im ersten Kapitel („Denkort Stadion“) des Bandes auf satten 160 Seiten die unterschiedlichen diskriminierenden Repräsentationspraxen innerhalb der hiesigen Fankulturen aufgearbeitet. Den Auftakt (S. 14-26) machen Gerd Dembowski und Jonas Gabler mit einem Beitrag, der tiefgreifende Prozesse der Identitätsbildung reflektiert. In Fangesängen oder auf Kurvenbannern dokumentieren sich Rivalitäten zwischen den jeweiligen Fangruppen oft in der Abwertung des Anderen und in der Aufwertung des „Wir“:

„Die Unterschiede zwischen Beschimpfungen und Diskriminierungen werden nebensächlich, wenn verhandelt werden soll, wer das bessere ‚Wir' ist, es also darum geht, die anderen symbolisch ab- oder auszugrenzen. Eindeutig wird dies etwa bei offenem Sexismus, bei der Diskriminierung nicht-heterosexueller Orientierungen, bei Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus oder Ableismus, also Feindseligkeiten gegenüber Menschen mit Behinderung.“ (S. 17)

Daher fordern Dembowski und Gabler einen „Raum zur Reflexion des eigenen Handels“, in dem die Denkform „Wir gegen die Anderen“ in der Praxis auf ihre diskriminierenden Effekte hin befragt wird. Dass dies im Stadion so selten gelingt, hat laut Dembowski und Gabler vor allem zwei Gründe. Es liegt einerseits an der „Sprache des Körpers“, welche sich in der Darstellung von körperlicher Härte und Fitness sowie einer demonstrativen Gewaltakzeptanz in Fangruppen ausdrückt, und andererseits an der Affinität zu „alten Werten“ wie der „aggressiven Auslegung von ‚Wir – die anderen', einer althergebrachten (hegemonialen) Männlichkeit, von Weisssein, autoritärem Denken (…)“ (S. 21).

Auf diesen einführenden Beitrag folgen 13 weitere, welche Rassismus, Homophobie und Männlichkeit, Sexismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Nationalismus, Ethnizität und Weisssein in deutschen Fankurven ausführlich darstellen und analysieren. Besonders lesenswert ist dabei das Interview mit dem ehemaligen französischen Nationalspieler und Weltmeister Lilian Thuram, der zu Recht darauf hinweist, dass Rassismus ein gesellschaftliches Problem ist und durch die Geschichte des Kolonialismus auch nicht losgelöst von ökonomischen und politischen Machtverhältnissen begriffen werden kann. Eine sozialhistorische Leerstelle füllt der kurze Beitrag von Diethelm Blecking zur „Migrationsgeschichte“ des deutschen Fussballs.

Knapp, aber dennoch anregend für die Kontrastierung mit eigenen Eindrücken und Erfahrungen ist die Darstellung von drei Prozessen und Phasen der Fussballhistorie. Seit der Professionalisierung des deutschen Fussballs ab 1963 finden sich immer mehr Fussballer ohne deutschen Pass im Aufgebot der Profiklubs – durch das „Bosman-Urteil“, welches die Ausländerbeschränkung im europäischen Profifussball ad acta legte, wurde diese Dynamik beschleunigt. Eine weitere Facette dieses Prozesses ist die Selbstorganisation von MigrantInnen in eigenen Fussballvereinen, wie sie vor allem im Amateurbereich anzutreffen ist; eine von den Sporteliten zunächst nicht gern gesehene Entwicklung:

„Dieser Prozess lief diametral den Interessen des organisierten deutschen Sports entgegen, der auf Einzelmitgliedschaften der Zuwanderer in den Vereinen setzte. Erst nach einem längeren konfliktreichen Diskussionsverfahren machte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und der DFB ihren Frieden mit dieser inzwischen stagnierenden Entwicklung“ (S. 157).

Die dritte Phase der „Migrationsgeschichte“ wird mit dem krachenden Scheitern der DFB-Elf bei der WM 1998 in Frankreich eingeläutet: Fortan bemüht sich ein Heer von Scouts in Sichtungsprogrammen um Nachwuchstalente aus den migrantischen communities. Früchte tragen diese Bemühungen dann zur WM 2010, als mit Dennis Aogo, Serdar Taşçi, Jérôme Boateng, Mesut Özil und Sami Khedira Perspektivkräfte aus diesen Nachwuchsprogrammen im Kader stehen und teilweise zu wichtigen Akteuren der Weltmeister-Elf 2014 werden.

Organisierte Reaktion im Fussballstadion

Der zweite Teil des Sammelbandes („Kampfort Stadion“) beleuchtet sehr informiert die Überschneidungen von neonazistischen Strukturen und den jeweiligen Fussballszenen. In ihrem Beitrag entfalten Pavel Brunssen und Robert Claus ein Modell, welches die verschieden Akteure (Fanprojekt, Vereine und Verbände et cetera) und ihre jeweiligen Einflussmöglichkeiten auf die lokale Fanszene im Stadion greifbar macht. Am Beispiel von Werder Bremen („good practice“) und Alemannia Aachen („not-so-good-practice“) zeigen sie auf, welche Möglichkeiten eine konkrete antifaschistische Praxis in Fussballstadien hat und wie diese erfolgreich genutzt beziehungsweise nicht umgesetzt werden. Dem durchaus ambivalenten politischen Potenzial der in letzter Zeit vielfach in medialen Verruf geratenen Ultra-Szene widmen sich Peter Römer und Patrick Gorschlüter.

Anti-Diskriminierung und linke Themen finden sich in Teilen der Ultragruppierungen auf der Agenda, doch ist dies bei weitem kein Konsens zwischen den verschiedenen Gruppen: Die Bandbreite der Selbstpositionierungen reicht von linken über „unpolitische“ bis hin zu explizit rechten Ultras. Allgemein halten die beiden Autoren aber fest, dass „es inzwischen keine Gruppierung mehr [gibt], die sich der Politik entziehen kann, so sehr sie es auch will.“ (S. 207) Das zentrale Konfliktfeld wird dabei durch eine Vielzahl von Themen aufgespannt: „Fanpolitische Anliegen, Kritik an Verband, Polizei und Medien, Diskriminierung und Antidiskriminierungsarbeit, Machtkämpfe in der eigenen Kurve um den Stellenwert von Politik – all dies findet man Woche für Woche in den deutschen Stadien“ (S. 207).

Situation in Europa

Mit dem dritten Teil („Tatort Europa“) bewegen sich die Herausgeber auf internationalem Parkett und gewähren einen weitreichenden Einblick in teils „unbekannte“ Fussballkulturen. Holger Raschke zeigt in seinem Beitrag zu den Fanszenen im ehemaligen Jugoslawien, wie nach den Kriegen das Fussballstadion zu einem „Gedenkort“ wurde, an dem symbolisch oder durch Ehrenmäler an die Opfer des Krieges erinnert wird. Diese Erinnerungskultur ist jedoch auch stark nationalistisch geprägt und liefert das mythologische Material, um alte Feindschaften zwischen Nation und Vereinen im ehemaligen Jugoslawien fortzuschreiben: „Viele Fangruppen reproduzieren und verkörpern geradezu idealtypisch die aggressiven, nationalistischen und extrem rechten Einstellungsmuster, welche sich im Zuge der Kriege etabliert und verschärft hatten“ (S. 290). Abgerundet wird die Europatour durch Beiträge zu Diskriminierung und Anti-Diskriminierungsarbeit in England und Frankreich sowie zur politischen Situation der Fankultur in der Türkei.

Den Abschluss („Gegenorte“) des opulenten Sammelbandes machen fünf Beiträge, die das konfliktreiche Feld der Antidiskriminierungsarbeit im deutschen und europäischen Fussball anhand bestehender Projekt- und Aktionsstrukturen ausführlich darstellen. Gerd Dembowski bleibt nach seinem theoretischen Aufschlag zu Beginn mit einem kritischen Beitrag zur Geschichte und Perspektive sozialpädagogischer Fanprojekte der Ausklang vorbehalten. Den Herausgebern ist mit dem Sammelband zweifelsohne eine Art Vermessung des Feldes gelungen. Die geballte Info der 29 Beiträge findet man so im deutschsprachigen Raum meines Wissens kein zweites Mal – „state of the art“ also! Wer sich mit diskriminierenden Repräsentationspraxen und kritischer Sozialarbeit in Fankurven beschäftigen will, wird hier mit Sicherheit fündig werden.

Schade ist jedoch, dass trotz des Oberthemas (Anti-)Diskriminierung nur recht selten darauf eingegangen wird, welche Rolle eine Antira- und/oder Antifa-Bewegung in diesem Rahmen spielen kann beziehungsweise überhaupt soll. Etwas bitter stösst auch die fehlende gesellschaftstheoretische Rahmung auf: In welchem Verhältnis steht zum Beispiel gesamtgesellschaftlicher Rassismus zu rassistischen Kurvenbannern? Reicht es, wenn das Stadion „diskriminierungsfrei“ ist? Fragen, die zwar angeschnitten werden, aber doch dann hintenüberfallen. Auch das Stadion als Ort des ökonomischen Ausschlusses bleibt aussen vor. In den letzten 50 Jahren haben die Professionalisierung und Finanzialisierung des deutschen Fussballs zu einem Ausschluss ganzer Klassen geführt, die keine Mittel haben, 20€ für eine Eintrittskarte hinzublättern. Auch der Fussball gehorcht mittlerweile weitgehend den Imperativen des Neoliberalismus.

Jens Zimmermann
kritisch-lesen.de

Gerd Dembowski, Jonas Gabler: Zurück am Tatort Stadion. Verlag die Werkstatt, Göttingen 2015. 384 Seiten, ca. SFr 22.00. ISBN 978-3-7307-0131-7

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.