Vom Liberalen zum Anarchisten
Geboren in Mailand erlebte der kleine Luigi Bertoni im zarten Alter von neun Jahren auf den Schultern seines Schweizer Vaters die Ankunft des anti-österreichischen Freiheitskämpfers Giuseppe Garibaldi. Mit 14 zog er ins Schweizer Tessin und machte eine Lehre als Schriftsetzer. Mit 18 hat er bereits selbst eine Waffe in der Hand, als bei einem Aufstand das Rathaus von Bellinzona gestürmt wurde. Der Polizeichef stirbt und Luigi wartet die Repression gegen die liberalen Anstifter dieser Aktion gar nicht ab, sondern zieht nach Genf, wo er bald in Kontakt mit dem organisierten Anarchismus kommt.Nach der Spaltung der 1. Internationale gründeten im September 1872 die Uhrmacher des Jura zusammen mit belgischen, französischen, spanischen (u.a.) Föderationen in St. Imier die anti-autoritäre Internationale. Das war der Startschuss für eine umfassende Verbreitung anarchistischer Ideen in der Schweiz, zu der Bertoni später so viel beitragen sollte. In dieser unruhigen Zeit voller Streiks und Verhaftungen liest Bertoni Klassiker des Liberalismus und des utopischen Sozialismus. Ab 1893 arbeitet er regelmässig bei verschiedenen Zeitungsprojekten und später bei der Gewerkschaft der Schriftsetzer in Genf mit. Es war die Ära der Tyrannenmorde.
Luigi Lucheni richtete 1898 am Genfer See die im Volk verhasste Kaiserin Elisabeth Habsburg hin, kurz darauf erfreute Gaetano Bresci die fortschrittliche Weltöffentlichkeit mit dem gelungenen Köigsmord in Italien. Doch die Reaktion von Polizei und Justiz liess nicht lange auf sich warten. 1900 stand Bertoni zum ersten Mal wegen einer angeblichen Huldigung des Anschlags von Gaetano Bresci vor Gericht.
Viele weitere Prozesse werden ihn sein Leben lang begleiten, bei seinem ersten wurde er erstaunlicherweise freigesprochen. Zwei Monate danach wird eine der langlebigsten und international wichtigsten anarchistischen Zeitungen gegründet: das zweisprachige Blatt Le Réveil/Il Risveglio erschien während der kommenden Jahrzehnte alle zwei Wochen und wurde einige Jahre auch auf Deutsch unter dem Titel Der Weckruf publiziert. Bertoni sollte Zeit seines Lebens als Redakteur, Agitator und Theoretiker diesem Projekt treu bleiben.
Entlang dieses Spannungsbogens erzählt das Buch von den anarchistischen Kämpfen anhand der zahllosen von Bertoni veröffentlichten Kommentaren, Reden und Debattenbeiträgen. Vor dem ersten Weltkrieg war die broad anarchist tradition eines anti-autoritären Syndikalismus weltweit eine der dynamischsten Fraktionen der ArbeiterInnen-Bewegung, wie eine weitere wichtige Neuerscheinung des Jahres 2014 belegt hat (Schwarze Flamme. Revolutionäre Klassenpolitik im Anarchismus und Syndikalismus von Lucien van der Walt und Michael Schmidt). In der Schweiz war diese Strömung entlang des sogenannten Rösti-Grabens organisiert. In der West-Schweiz stellte sie die grössten Gewerkschaften und die militantesten Demos und Streiks. In der deutsch-sprachigen Schweiz kamen die Anarchisten gegen die Sozialdemokratie nicht an. Von da her ist Die Stimme der Freiheit die ideale Ergänzung zu Fritz Brupbachers Zürich während Krieg und Landesstreik für ein umfassendes Porträt der Schweizer ArbeiterInnenbewegung. Brupbachers Broschüre wurde 2013 von der Libertären Aktion Winterthur neu aufgelegt und behandelt denselben Zeitraum aus der Perspektive eines mit der Sozialdemokratie hadernden und mit der Revolution sympathisierenden, deutsch-schweizer Arztes.
Westschweizer Anarchismus
Spektakulärer und über den lokalen Kontext hinausweisender geht es jedoch in der französisch-sprachigen Schweiz zu. Bottinelli schafft es, die wichtigsten Debatten und Ereignisse mehrerer Jahrzehnte zusammenzufassen und mit originellen und unerwarteten Details zu verknpfen, sodass man kaum merkt, dass es sich eigentlich um eine Lokalgeschichte der Städte Lausanne und Genf dreht. Ob des jungen Mussolinis Übersetzungen von Kropotkins Werk gelungen sind, welcher als Pariser Anarchist aus der Schweiz ausgewiesen wurde, weil er 1912 einen Vortrag über die Bonnot-Bande hielt, und wie viele Arbeiter Bertoni mit einer Demo empfingen, als er einmal wegen Plakatierens vier Tage im Häfen sass: Solch spannende Schmankerln wechseln sich mit der Darstellung gerade heute wieder relevanter inhaltlicher Diskussionen ab.Auch die lebhaften Beschreibungen der Aktivitäten der Genfer Maurer-Gewerkschaften, vom Kampf um leistbaren und guten Wohnraum, bis hin zum Kampf gegen Streikbrecher und der Zerstörung von Bauwerken von Firmen, die Arbeiter unter dem Kollektivvertrag angestellt haben, könnten für LeserInnen inspirierend sein, die an den sozialpartnerschaftlichen Klassenfrieden in Österreich gewöhnt sind. Hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre, so Bertonis Kritik an den grossen Verbänden, führen ihre Organisationen immer in den Dienst der Kapitalherren. Der einzige Schutz vor der Tendenz zum Korporatismus wäre eine aktive Beteiligung von AnarchistInnen an den Gewerkschaften.
Das gepflegte Bild der Schweiz, der ältesten Demokratie der Welt, gerät von Seite zu Seite mehr ins Wanken. Eingeklemmt zwischen dem italienischen und dem deutschen Faschismus, unter den Folgen der Wirtschaftskrise der grossen Depression leidend, wurde die Repressionsschraube von Jahr zu Jahr fester angezogen. In der dramatischen Blutnacht von Genf wurden am 9. November 1932 bei einer antifaschistischen Demonstration 13 camarades von Militärrekruten erschossen. Gewerkschaftliche Aktionen, Streiks und Demos wurden immer mehr erschwert bis es 1940 endgültig aus war mit den bürgerlichen Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheiten und Le Réveil/Il Risveglio nicht mehr legal erscheinen konnte. Bertoni nimmt noch am Kampf gegen den Faschismus in Spanien vor allem durch Spendensammlungen teil, doch der zweite Weltkrieg stürzt die Bewegung auch in der Schweiz in die Resignation. Am Ende seines Lebens bleibt Luigi Bertoni zwar ungebrochen, beklagt aber die Isolation des Anarchismus und die Revolutionsmüdigkeit der jungen Generationen.
Das Buch
Gianpiero Bottinelli veröffentlichte dieses unbedingt lesenswerte Buch bereits 1997 auf Italienisch. Erst 2012 erschien eine erweiterte französische Ausgabe beim Flaggschiff des Schweizer Verlagswesens im Bereich Anarchismus, nämlich bei Éditions Entremonde.Nun liegt endlich eine Version in unserer Schriftsprache vor, verantwortlich zeichnet der junge A Propos-Verlag aus Bern, wo es 2014 erschien. Bei einem Schweizer Buch mag die Erwartungshaltung da sein, nebenbei ein paar originelle Delikatessen aus dieser gebirgigen Sprachregion aufzuschnappen, um so mehr schmerzt es, stattdessen über einige strenge Teutonismen (also Wörtern, die typisch für die Varietät des deutschen Deutsch sind) zu stolpern. Ansonsten stimmen aber Form und Inhalt harmonisch überein, von der unaufgeregten graphischen Gestaltung, der ansprechenden Typographie, dem Anti-Copyrights-Verweis, dem umfangreichen Namensregister und Quellenverzeichnis, bis hin zur stabilen, handwerklichen Umsetzung durch die ArbeiterInnen-selbstverwaltete Druckerei Basisdruck aus Bern.
Selbst der Autorität des Inhaltsverzeichnis wird widersprochen, die Einleitung hat sich irgendwo in die Mitte geschummelt. Es ist die Summe dieser Eigenschaften und Details, die ein sympathisches Konzept und eine glaubwürdige Gesellschaftskritik dieses neuen Verlagsprojektes durchschimmern lassen und auf baldige weitere Erscheinungen neugierig macht. Die Leidenschaft für die Befreiung schafft es, aus der Handelsware Buch einen Vorschein der kommenden Welt zu machen.