„Ich wurde mit Gewalt eingeschlossen, wie eine Schauspielerin“ sagte die Soziologin Pinar Selek über die Repression des türkischen Staates, die sie seit fast 30 Jahre erfährt. Im Juni 1998 explodierte auf einem Markt in Istanbul eine Gasflasche. Doch die türkische Justiz fabriziert daraus einen Anschlag der kurdischen Arbeiter*innenpartei (PKK) mit Selek als Verantwortlicher. Seitdem erlebt die Soziologin eine Odyssee von Verfolgung, Verhaftung und Folter.
Schliesslich konnte sie ins Ausland fliehen und lebt heute in Frankreich. Aber dem langen Arm der türkischen Justiz kann sie bis heute nicht entfliehen. Reisen ausserhalb von Frankreich könnten eine erneute Inhaftierung und womöglich eine Auslieferung in die Türkei zur Folge haben. Denn die türkischen Behörden haben einen internationalen Haftbefehl gegen Selek ausgestellt.
Wenn auch ihr Aktionsradius durch die türkische Justiz noch immer beschränkt ist, so haben wir doch die Gelegenheit, mehr über diese Frau, ihre Gedanken und Träume zu erfahren. Unter dem Titel „Die Umverschämte“ hat der Verlag Graswurzelrevolution auf fast 230 Seiten das Leben der Pinar Selek aufgeschrieben. Herausgeben wurde das Buch von Guillaume Gamblin, einem engen Freund und Genossen von ihr.
Das Buch nimmt die Leser*innen schon auf den ersten Seiten gefangen. Denn es ist in einen sehr freundlichen Ton geschrieben. Schon im Vorwort gibt Selek diesen Stil vor. „Sie liebe Leser*innen, werden sehen, dass ich nur ein kleines Pünktchen in einem grossen Gemälde bin, mit all den Widersprüchen, die verschiedene Welten und widerstreitende Dynamiken beherbergen (S. 7). Das Buch ist sehr persönlich gehalten. „In diesem neuen Raum des Kampfes, der Liebe, der Freundschaft, des Lebens öffne ich meine Türen, um ein wirkliches Gespräch zu beginnen“(S.7).
Wir erfahren so, wie die junge Pinar Selek sich nicht mit der Friedhofsruhe abfinden will, die die türkischen Militärs nach ihrem Putsch von 1980 mit enormem Terror in der Türkei durchsetzen. Pinar beteiligte sich schon als Schülerin in den 1980er Jahren an den ersten zaghaften Protesten gegen die Junta.
Kritik und Selbstkritik
So bekam sie schon in jungen Jahren Kontakt mit älteren Linken, die nach dem Putsch in den Untergrund gegangen waren. Dabei ging sie auch mit den eigenen linken Strukturen sehr kritisch um. „Es war schwierig, ihre Ideen in Frage zu stellen, die ausserdem vom Staat unterdrückt und verboten worden waren. Aber wie so viele Menschen aus meiner Generation machte ich mir Gedanken über den Begriff der Freiheit“ (S. 14). Das bedeut für Selek nicht die Abkehr von der Linken, sondern der Aufbau eigener Netzwerke und Strukturen.Sehr anschaulich und detailliert beschreibt sie, wie sie sich mit einer Gruppe von Strassenkindern anfreundete, mit ihnen lebte, was zu ihrer Politisierung beitrug. Gleichzeitig studierte sie an der Istanbuler Universität Soziologie und wurde bald eine aktivistische Wissenschaftlerin. Über die Probleme, die diese Konstellation mit sich brachten, erfahren wir in dem Buch: „Die Mitglieder dieser Gegengesellschaft mieden Journalist*innen, Soziolog*innen und all jene, die Informationen über sie sammelten. Sie achteten darauf, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, was die Bedingung dafür war, dass sie am Rande des institutionellen Systems existieren konnten“ (S.60).
Es ist klar, dass Pinar Selek als Soziologin in einer solchen Umgebung um Anerkennung kämpfen musste. Aber sie stellte sich auch immer wieder eine Frage: Für wen forsche ich? Wem nutzen die Ergebnisse meiner Forschung? Für wen produzierst Du Wissen? Sie wurde so im besten Sinne eine aktivistische Soziologin, die ihr Wissen immer wieder mit emanzipatorischen Bewegungen teilt.
In Solidarität mit antiautoritären Linken
Das Engagement der aktivistischen Soziologin blieb dem türkischen Staatsapparat nicht verborgen und so kann die Anklage, eine Bombe auf den Markt gelegt zu haben, was als Versuch angesehen werden muss, eine linke Wissenschaftlerin zu brechen. Doch das ist nicht gelungen. In dem Buch lernen wir Selek als eine Kämpferin kennen, die trotz ihrer Erlebnisse im Gefängnis weiterhin am Kampf für eine neue Welt festhält. Was sie in Polizeistationen und Gefängnissen erleben musste, hat Selek unter der Überschrift zusammengefasst: Ich hätte mir einen solchen Albtraum nicht vorstellen können“. „Sie haben mir die Augen verbunden und begannen mich zu schlagen. Ich war nackt und so hat die Folter angefangen“ (S. 87).Pinar Selek erlebte Ende Dezember 1999 auch den Sturm des Militärs auf hunderte Gefangene in der Türkei, die gegen die drohende Isolationshaft im Hungerstreik getreten waren. Doch sie stellte sich immer wieder die Frage: Wie schafft Du es, dich nicht von der Folter und vom Leben im Gefängnis bestimmen zu lassen? Sie hat sich durch die Repression nicht brechen lassen. Heute engagiert sich Selek in feministischen, pazifistischen und ökologischen Gruppen in ihrem französischen Exil und publiziert in zahlreichen linken Zeitungen. Am 13. Juni nahm sie in einem Interview mit der Tageszeitung junge Welt auch zum Aufstieg der Rechten in ihren Exilland Stellung:
„Ich bin Frau, Ausländerin, feministische und ökologische Aktivistin, was die extreme Rechte in Frankreich für ihre Vorstellung eines faschistischen Systems als gefährlich einstuft. Ich habe mich dem türkischen Regime nicht unterworfen, werde mich auch keinem europäischen Faschismus unterordnen.“
So kommt das Buch gerade rechtzeitig, um eine Frau kennenzulernen, die trotz jahrzehntelanger Verfolgung ihr politisches Engagement und ihren Lebensmut nie aufgegeben hat.