Industrie 4.0 in drei Abschnitten
Die 14 Beiträge des Bandes sind in drei Teile gegliedert. Teil I umfasst die Anwendungsfelder und Einsatzbereiche der Industrie 4.0. Bereits in diesen ersten vier Aufsätzen wird klar, was im weiteren Lesen Bestätigung findet: „Eine feste Definition des Begriffs existiert dabei nicht“. (Ittermann/Niehaus 2015: 34) Nicht einmal die historische Genese der 4.0 ist unumstritten: Die Phrase von der vierten industriellen Revolution bezieht sich für die einen Autoren auf die drei vorherigen Industriellen Revolutionen: Die Mechanisierung Ende des 18. Jahrhunderts, die Elektrifizierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die Informatisierung und Automatisierung seit den 1970er Jahren, die nun von der Digitalisierung abgelöst werden soll (vgl. Ittermann/Niehaus 2015: 35).Teilweise werden die Entwicklungsstufen aber auch anders eingeteilt, so in die Mechanisierung im 19. Jahrhundert, die Einführung der Massenproduktion Anfang des 20. Jahrhunderts sowie die Entwicklung im Bereich Mikroelektronik (vgl. Windelband/Dworschak 2016: 71). Derartige feine Unterschiede gehen leicht unter, blickt man auf die grosse Debatte: So bezweifeln andere Autor_innen, dass es sich bei der Industrie 4.0 überhaupt um einen grundlegenden Entwicklungssprung handelt, was die historische Reihung suggeriert (vgl. Brödner 2015: 238).
In einem Band, der die Konsequenzen der Industrie 4.0 behandelt, fehlt es natürlich nicht an Trendbeschreibungen, besonders im zweiten Teil des Sammelbandes: Herausforderungen und Alternativen der Arbeitsgestaltung: Für Volker Stich et al. ist klar, dass für diejenigen Beschäftigten, welche heute einfache Tätigkeiten ausführen, die Qualifizierung in Zukunft zu einem zentralen Faktor wird, da davon auszugehen ist, dass bereits in absehbarer Zeit diese Tätigkeiten automatisiert werden.
Bei den Höherqualifizierten gehen Stich et al. von einer deutlichen Verschiebung der Qualifikationsanforderungen aus (vgl. Stich/Gudergan/Senderek 2015: 109). Durch die sich verkürzenden Zeitabstände von Innovationszyklen hat sich in den letzten 20 Jahren der Zeitraum von 20 auf zehn Jahre halbiert, in welchem das in einer Berufsausbildung erworbene Wissen noch hinreichend aktuell ist für die Ausführung des eigenen Berufes (vgl. Stich/Gudergan/Senderek 2015: 112).
In einer vielzitierten Studie von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne, die ein Szenario für die US-amerikanische Wirtschaft entworfen hat, werden circa 47 Prozent der Beschäftigen in den kommenden 15 Jahren durch die Digitalisierung ersetzt (vgl. Stich/Gudergan/Senderek 2015: 113). Die Übertragbarkeit auf Deutschland, wie auch ihr Zutreffen auf den US-Markt, sind aber umstritten: Andere Studien erwarten im Gegenteil einen Zuwachs an 390.000 Arbeitsplätzen in den kommenden zehn Jahren (vgl. Rüssmann et al. 2015: 2), allerdings mit einer deutlichen Verlagerung des Kompetenzbedarfs (vgl. Rüssmann et al. 2015: 8). Von manchen Forscher_innen in dem Sammelband werden solche Tendenzforschungen wiederum prinzipiell abgelehnt: „[W]ir halten solche [Trendforschungen] aus unterschiedlichen methodischen und inhaltlichen Gründen auf seriöser Basis für unmöglich und ihre Aussagekraft [für] nicht hilfreich.“ (Pfeiffer/Suphan 2015b: 207; Ergänzungen durch Autor)
In Teil III: Entwicklungsperspektiven und Gesellschaftspolitik schliesslich ist nach dem Aufsatz von Daniela Ahrens und Georg Spöttl zu Herausforderungen für die Qualifikation von Fachkräften diejenige Autor_innenschaft versammelt, die sich – aus verschiedenen Gründen – kritisch zur Debatte um die Industrie 4.0 äussert. Die bereits zitierte Kritik Peter Bröders an der generellen Bedeutung der Industrie 4.0 hat hier genauso ihren Platz wie Klaus Dörres Aufsatz: Digitalisierung – neue Prosperität oder Vertiefung gesellschaftlicher Spaltung? Dieser letzte Aufsatz zeigt durch seinen Kontrast auch am deutlichsten die Schwäche des Sammelbandes, dessen Beiträge zwar gute Dienste leisten für eine Übersicht über die Debatte rund um den Begriff Industrie 4.0, aber mit Ausnahme des letzten Aufsatzes eine gemeinsame Schwäche teilen.
Die Schwäche des Sammelbandes…
Die sozialen Herausforderungen der Industrie 4.0, die immerhin im Untertitel der Publikation als Thema benannt werden, führen ein Schattendasein in allen Aufsätzen – mit Ausnahme von Klaus Dörre. So gut auch die Vision Industrie 4.0 mit ihren technischen Folgen und Fehleinschätzungen und ihren kontroversen Einschätzungen dargestellt wird, so mangelhaft wird klar, welche Akteure welches Interesse verfolgen mit der Industrie 4.0. Das wirkt teilweise fahrlässig, zum Beispiel wenn Ahrens/Spöttl davon schreiben, dass diejenigen Arbeiter, „die nicht der Rationalisierung zum Opfer fallen“ (Ahrens/Spöttl 2015: 192) sich neu qualifizieren müssen.Wo es Opfer gibt, da gibt es wohl eindeutig Interessenskonflikte – hier zwischen Beschäftigten, die Betroffene einer Rationalisierung sind, die im Interesse der Unternehmen liegen – und gegen das Interesse zumindest dieser Beschäftigten gehen. Davon ist aber im Aufsatz weiter keine Rede, stattdessen ist im Fazit zu lesen, dass der Wandel „sozial verträglich zu gestalten“ (Ahrens/Spöttl 2015: 200) sei – ganz ohne Benennung eines Subjektes: Wer soll hier für wen sozial gestalten? Der Staat für die Unternehmer? Die Unternehmer für die Arbeiter, gegen ihr eigenes Interesse?
Die Gewerkschaften als Gegenmacht zu den Unternehmen? Das Fazit bleibt so unbestimmt wie unbefriedigend, nicht nur in diesem Aufsatz. Bei den Mitherausgebern Ittermann/Niehaus ist zu lesen, dass es in wenigen Jahrzehnten „keine Jobs mehr für niedrig qualifizierte Arbeiter in der industriellen Produktion geben“ (Bauernhansl zit. nach Ittermann/Niehaus 2015: 41) wird. Das sorgt im Fazit aber nicht für eine Darstellung der gesellschaftlichen Konflikte, sondern für einen Appell an die Einheit von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft (vgl. Ittermann/Niehaus 2015: 47).
…ist die Schwäche der Forschung allgemein
Die Schwäche des Sammelbandes ist keine Ausnahme in der Forschung und Literatur zur Industrie 4.0, sondern stellt die Debatte in ihrer Einseitigkeit dar. Trotzdem wäre es die Aufgabe eines wissenschaftlichen Sammelbandes eine solche Lücke zu füllen und nicht sie zu wiederholen. Der Aufsatz von Dörre kann in seiner Kürze und seiner Positionierung als letzter Text des Bandes diesen Mangel auch nicht ausgleichen, wenn auch sein Ansatz, diese sozialen Folgen darzustellen, erwähnt werden sollte.Das in Kooperation mit Ver.di veröffentlichte Werk „Gute Arbeit“ leistet hier aber insgesamt mehr. Gleich im ersten Aufsatz stellt das Geschäftsführende Vorstandsmitglied der IG Metall Hans-Jürgen Urban klar, dass es sich bei den Szenarien um die Industrie 4.0 um interessengeleitete Ambitionen handelt: „In einem eigentümlichen Gegensatz dazu steht die Vorstellung eines klassen- und interessenübergreifenden, quasi nationalen Interesses an der Digitalisierung der Wirtschaft, die die Debatten vielfach transportiert“ (Urban 2016: 22). Aber auch die Autoren des hier vorgestellten Bandes wissen in anderen Publikationen mehr als sie in diesem Sammelband verraten: So bezeichnet z. B. Sabine Pfeiffer in einem anderen Artikel sehr wohl den Diskurs um die Industrie 4.0 als sehr „interessengeleitet“ (Pfeiffer 2015: o.S.) sowie „als zentrales strategisches Ziel von Wirtschafts- und Industriepolitik“ (Pfeiffer 2015: o.S.).
Ihr Fazit: „Der Ursprung und die Intention des Diskurses sind nicht rein technisch, sondern vor allem ökonomisch motiviert […], [Die Debatte] ist nicht die kausale Folge eines realen Standes technischer Entwicklungen, sondern diskursanalytisch betrachtet ein Fall professionellen agenda-buildings.“ (Pfeiffer 2015: 2; Herv. im Original, Ergänzungen durch Autor).
Schade, dass solche klaren Ansagen nicht in dem Sammelband zu finden sind.