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Helen Hester: Xenofeminism

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Helen Hester: Xenofeminism Wider die Natur

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Sachliteratur

Wie kann eine feministische Position im Zeitalter des neoliberalen Tech-Kapitalismus aussehen?

Helen Hester: Xenofeminism.
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Helen Hester: Xenofeminism. Foto: Meganlorraine (CC BY-SA 4.0 cropped)

Datum 31. Juli 2018
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Laboria Cuboniks ist ein feministisches Projekt, das sich in Zeiten von Smart Objects, biometrischer Körpervermessung und digitalen Haushaltshelfern nach neuen Optionen für den Feminismus umsieht. Statt sich auf einen mythologischen Ursprung zurück zu besinnen – nach dem Motto „früher war alles besser“ – beschreibt die Gruppe einen Feminismus, der denaturalisiert und ganz im Sinne der Postmoderne eine Vervielfältigung von Seiensweisen mit sich bringt; also ein Öffnen entgegen des „Anderen“, selbst wenn dieses zunächst ausserirdisch und fremd erscheint. So lautet es schon im „Xenofeminist Manifesto“, welches die Gruppe 2014 veröffentlichte. Nun folgt Helen Hesters Aufarbeitung dieses Mandats zu einer „Politik der Entfremdung“.

Hester ist selbst Teil der Laboria Cuboniks, ihr Xenofeminismus ist eine Weiterführung der wuchernden Gedanken des transnationalen Kollektivs. Dennoch weist Hester darauf hin, nicht für alle Xenofeminist_innen zu sprechen: dies sei nur eine Interpretation eines vieldeutigen und offenen Projektes.

Anliegen ist auch hier, das emanzipatorische Potential von Feminismus in Zeiten radikaler Beschleunigung von Technologien, dem verzweigten Wuchern von Wissenssystemen und dem Ineinanderfallen von Identitätsgrenzen zu erforschen. Sprich: Wie kann eine feministische Position im Zeitalter eines neoliberalen Tech-Kapitalismus sowie einer zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität noch Utopien für eine bessere Zukunft für alle formulieren?

Die Cyborg als Ahnin

Hester beschwört zunächst alte Göttinnen (oder lieber Cyborgs?) herauf: Shulamith Firestone, Donna Haraway, Judy Wajcman. Wie auch bei diesen Vertreterinnen des Cyberfeminismus bewegt sich Hesters Xenofeminismus in einem Spektrum von Technikeuphorie, Anti-Naturalismus und Gender-Abschaffung. Nichts ist heilig, nichts ist unveränderbar – so auch der Körper und die Aufteilung von weiblicher Reproduktion und maskulinistischer Technologien. Ja, die Werkzeuge des Herrn können das Haus des Herrn niederreissen. So beschreibt Hester die Verwendung repressiver Reproduktionstechnologien in der feministischen „Do It Yourself“ (DIY) Bewegung der 1970er Jahre als solidarische transnationale Frauenbewegung, ermöglicht durch das Umdeuten und die Neuverwendung ursprünglich kapitalistisch orientierter Technologien.

Zum Beispiel das Spekulum, welches bis heute bei Gynäkologen in gleicher Form und Funktion verwendet wird wie früher. Ist es zunächst pragmatisches kaltes Instrument eines männlichen Zugriffs auf den weiblichen Körper, wird es in feministischer Vorstellung von Beginn an umgedeutet. In den 1970ern erlaubte es Frauen, sich mit Hilfe eines Handspiegels selbst zu untersuchen und sich so dem prüfenden bis verurteilenden, immer klinischem männlichen Blick zu entziehen. Heute designen feministische Künstler_innen mit 3D-Druckern dieses Gerät neu, mit mehr Komfort, aus anschmiegsamen Materialien und zu günstigen Preisen, sogar als Sexspielzeug findet es Verwendung. Und auch wenn dieses simple Gerät nicht mit den vielfältigen technologischen Möglichkeiten der heutigen Zeit mitzuhalten scheint, ist es für Hester nicht die Komplexität der Gerätschaften, die ihre Umdeutung erlauben, sondern deren Demokratisierung, die Möglichkeit des freien Zuganges und damit zusammenhängende tatsächliche oder neuinterpretierte Nutzungsweisen. Nicht die technischen Dinge bestimmen unsere Situation, sondern das, was wir aus ihnen machen.

Denn nicht der Homosexuelle ist pervers...

Während sich viele Beispiele auf die Regulierung von (primär cis, also „biologische“, Frauen betreffenden) Reproduktionssystemen und deren Unterlaufen durch DIY Technologien beziehen, ist es Hester, wie auch zuvor dem „Xenofeminist Manifesto“, ein Anliegen, queere und trans* Positionen miteinzubeziehen. Zentral ist demnach auch Lee Edelman's „No Future“ und was es bedeutet, die Zukunft hauptsächlich an der Figur des Kindes auszuhandeln. Gibt es andere Formen von Verwandtschaft und Gemeinschaft, die cis-Frauen nicht zu Gebärmaschinen und queere und trans* Menschen nicht zu kapitalistischem Überfluss machen? Wieder ein Ruf, der klingt wie der Filmtitel Rosa von Praunheims aus dem Jahre 1971: „Nicht der [sic] Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er [sic] lebt“!

Xenofeminismus geht es darum, den Körper nicht als festgeschrieben zu sehen, sondern durch Umdeutungen und Experimente das Regime der Zweigeschlechtlichkeit abzuschaffen, neue Bündnisse einzugehen und Formen der Freundschaft, ja der Familie, jenseits von Blut oder Boden zu realisieren. Oberstes Mandat ist das Recht auf körperliche Selbstbestimmung, jedoch immer im Wissen um die soziokulturellen Umstände, welche bestimmte Taktiken sofort wieder in einen Rahmen der weissen und heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit vereinnahmen zu suchen.

Dabei zieht Hester eben diese direkte Verbindungslinie zwischen sogenanntem Second Wave Feminismus der 1970er Jahre, dessen Solidarität mit dem „Globalen Süden“ aber häufig eher in Worthülsen endete. Dies erkennt Hester zwar an, das Abwinken von einer postkolonialen Technikkritik nach Maria Mies und Vandana Shiva fällt ihr aber doch allzu leicht. Mies und Shiva werden in ihrer ökofeministischen Position als Verfechterinnen des Natürlichen gesehen, Kämpferinnen für ein puristisches Naturverständnis, welches eine vermeintliche Authentizität des (weiblichen) Körpers mit sich bringt. Die neuen Unterwerfungsmechanismen, die durch einen globalen Tech-Kapitalismus Menschen im Süden wie auch anderswo in prekäre Arbeitsverhältnisse zwingen oder ihnen gar die Lebensgrundlagen und -räume entziehen, werden nicht verhandelt.

Etwas zu leicht erscheint auch der Schritt, durch Umdeutung und Aneignung von pharmatechnologischen Geräten beziehungsweise durch Selbstmedikation den Körper aus der Unterwerfung zu befreien. Denn auch nach fast 60 Jahren Anti-Baby-Pille – damals gefeiert als pharmatechnologisches Symbol der Emanzipation – scheinen wir immer noch nicht so weit zu sein, dass Reproduktionsarbeit (und deren Verhinderung) von dem Körper der Frau gelöst ist. Und Akzeptanz für Transsexualität scheint auch nur in gewissen Milieus möglich. Denn während Caitlyn Jenner als erste Transfrau 2015 das Vanity Fair-Cover ziert, steigen globale Gewaltstatistiken an prekären Transgenderpersonen (vor allem an Sexarbeiter_innen) weiterhin an. Alles nur eine Frage der Zeit?

Warum Akzeleration alleine nicht reicht

Hester gliedert sich nahtlos in das Umfeld der akademisch-künstlerischen Avantgarde des Akzelerationismus ein, die mit Armen Avanessian als publizierender Tornado nicht müde wird, massenweise Texte über das Zusammenspiel politischer Positionen und beschleunigender Technologien zu veröffentlichen. Sie klingt toll, diese Welt, in der wir alle fröhlich unsere Körper von Tag zu Tag neuerfinden und Technologien uns bei der Selbstverwirklichung unterstützen. Wirkliche Erfolgsgeschichten zu diesem Mantra gibt es allerdings wenige, und wenn überhaupt, spielen sie sich in der Kunstwelt ab, abgeschottet von alltäglicher Realpolitik. Sicher, Utopien brauchen wir, denn sie sind uns im Zeitalter berechenbarer Medien fast abhanden gekommen. Doch das Einfordern von universellen Versprechen scheint immer noch etwas zu sein, was hauptsächlich aus einer privilegiert-optimistischen Position zu kommen scheint.

Dieser Optimismus scheint derzeit Trend zu sein. Umgestossen hat er – zumindest bisher – nur wenig, und nur für einzelne Individuen. Was also tun mit dieser Entwicklung, die sich allzu schnell den Positionen verschliesst, die mit hippen Theoretiker_innen und vermeintlichem Universalismus eventuell wenig anfangen können und ungeduldig auf ein besseres Leben im Jetzt warten? Schliesslich wurde das Mandat der „Maker Culture“, eine Fortsetzung vom DIY der 1970er Jahre, ebenfalls mehrfach als eurozentristisches Projekt kritisiert, weil es Innovation und Neuheit über Kontinuitäten und unrechtmässige Aneignungen stellt.

Hester kann dem wenig entgegensetzen. Ihr Xenofeminismus wird den Beigeschmack einer privilegierten westlichen Kunstwelt nie ganz los. Doch sie artikuliert die Hoffnung auf ein längerfristiges Zukunftsprojekt, in dem auch solche Ausschlüsse irrelevant werden, und in dem gutgläubig Fremde nicht mehr Angst oder Unterwerfung, sondern Neugierde auf ein neues „Wir“ auslösen.

Sara Morais dos Santos Bruss
kritisch-lesen.de

Helen Hester: Xenofeminism. Wiley, Hoboken 2018. 140 Seiten, ca. 16.00 SFr, ISBN 978-1-509-52062-6

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.