Vorweg möchte ich klarstellen, dass ich die Diffamierung des individualistischen Anarchismus, wie sie unter selbst so verstehenden anarchistischen Kommunist*innen kontinuierlich praktiziert wird, zurückweise. Dies tue ich aus mehreren Gründen. Erstens dient die Konstruktion eines abgewerteten Gegenbildes vorrangig zur eigenen Identitätsbildung. Ich finde es sowohl ein Armutszeugnis, strategisch dumm sowie von angestrebten Ziel her falsch, die eigene Identität in Abgrenzung zu anderen Positionen herauszubilden.
Damit erfolgt, zweitens, die ernsthafte Begründung der eigenen Positionierung nur ungenügend und wird diese vorrangig an ideologischen (statt an organisatorischen oder praktischen) Fragen vorgenommen. Das ist total problematisch, weil damit keine Verständigung zwischen konkreten Menschen und Gruppen geschieht, sondern zwischen den klischeebeladenen Abbildern, die sie voneinander zeichnen. Drittens ist die Diffamierung des Individualanarchismus – gleichwohl sie eine klassische Figur ist – ihrerseits ahistorisch. Mit ihre werden Begriffe wie „Individuum“, „Gesellschaft“, „Subjekt“ oder „Revolution“ nicht im spezifischen Kontext ihrer Zeit begriffen. Derzeit stehen wohl die Dudes vom Podcast Übertage paradigmatisch dafür, wie man sich mit einer solchen Rahmung konkurrierender Ansätze lächerlich machen kann.
Zugleich treffen die genannten Kritikpunkte häufig ebenfalls auf individualistische Anarchist*innen zu. Dies habe ich bereits in meinem Beitrag Egoismus vs. Plattformismus – zwei Seiten derselben Medaille thematisiert. In meiner Kritik arbeite ich mich also nicht an anarch@-kommunistischen Theorien oder Inhalten ab, denen ich vieles abgewinnen kann. Dass ich mich in diesem Sinne interessiert und wohlwollend auf den Individualanarchismus beziehe und über über ihn nachdenke, hat mehrere Gründe: Erstens ist meine eigene Praxis (ungewollt, aber kontinuierlich und aus bestimmen subjektiven Dispositionen) häufig individualistisch.
Zweitens begreife ich wie etwa Errico Malatesta, Emma Goldman oder Emilé Pouget die Funktion und den Wert der Ermächtigung und Selbstbestimmung von Einzelnen begreife. Drittens bin ich daran interessiert, Verständigung unter Anarchist*innen verschiedener Lager zu schaffen, weil sie meiner Ansicht nach, viertens, jeweils wichtige Erfahrungen und valide Argumente für emanzipatorische soziale Kämpfe beizutragen haben. Das liegt an meinem Plädoyer für die anarchistische Synthese, an dem ich weiterhin festhalte, auch wenn in der konkreten Umsetzung häufig unzulänglich entfaltet wurde und vielen zu komplex ist.
Um auf Rumpelgeists Einleitung zurück zu kommen, stellt dieser bereits auf der zweiten Seite fest, dass ich in meiner Broschüre Für eine neue anarchistische Synthese von 2019 ein „abstraktes ‚Wir' als (revolutionäres) Subjekt“ hinstelle und damit „die einzelnen Iche zur Unsichtbarkeit“ verdamme. Weiterhin wäre dieses Wir „zwar allzu oft doch nur ein ‚Pluralis Majestatis', wird aber eigentlich als ein kommunistisches und inklusivistisches Wir entworfen – wobei man letztendlich bei einer Art von religiösem Kommunismus“ landen würde. Schliesslich übt Rumpelgeist auch eine implizite Kritik daran, dass ich mich in meinem Denken auf „Grundlagen der postmodernen Dekonstruktion [beziehe], in welcher der Einzelne zum Körper reduziert, nur noch als schizoide Wesen vorkommen dar, das sich in Maschinenteile, Ströme des Begehrens und Wunschverkettungen zerlegen lässt“. Diese Kritik kann ich nachvollziehen und kann sie deswegen ohne Abwehrreflexe annehmen. Im Gegenteil ist sie auch zukünftig zu üben, weil ich weiterhin für diese Sichtweise eintrete. Im Unterschied zu Rumpelgeist meine ich jedoch, dass die daraus folgenden Implikationen andere sind.
Zum ersten Punkt des „abstrakten Wir“, kann ich zugeben, dass der besagt Text einen Entwurf darstellt und ich es deswegen okay finde, auch mit Abstraktionen zu arbeiten. Im Unterschied zu anderen, lege ich dies offen und mache sie damit diskutier und gestaltbar. Damit habe ich ausgedrückt, dass es kein abstraktes Wir an und für sich gibt, sondern dieses stets ein Konstruktionsprozess darstellt, der nie enden wird. Die „Arbeiter*innenklasse“, „Queers“, die „Ökologiebewegung“, selbst die „Nachbar*innen“ sind als Kollektivsubjekte stets auch symbolisch-imaginäre Abstraktionen. Zugleich haben haben sie aber auch eine Realität, die durch ihre theoretische, appellative, propagandistische usw. Beschreibung mitgestaltet wird.
Gegen den Vorwurf einer hoheitlichen Selbstvervielfältigung („Pluralis Majetatis“) habe ich ebenso wenig einzuwenden. Und zwar – das mag überraschen – aus individualistischen Gründen: Ich selbst bin viele und viele sind Ich. Es ist die Erfahrung der eigenen Vielheit, die Ausdruck dafür ist, dass es keine Individuen gibt, die nicht zugleich Produkte sozialer und gesellschaftlicher Formierungsprozesse sind. Durch die Erkundung meiner eigenen Vielheit, erkunde ich zugleich die Vielheit der Welt – und insbesondere der anderen Einzelnen und Gruppen – und umgekehrt. Wir spiegeln uns in den anderen und sind – selbst in vehementer Abgrenzung zu ihnen – Produkte von den kognitiv-affektiven Bildern, welche sie in uns generieren.
Möglicherweise klingt dies etwas mystisch und tatsächlich finde ich in dieser Hinsicht unter anderem auch Gustav Landauer sympathisch. Meine eigene Bezugnahme zu dieser Sicht hat aber noch mal eine andere Quelle. Ich glaube, eigentlich ist dies eine relativ basale sozialpsychologische Einsicht. Diese beisst sich freilich mit dem Subjektverständnis des modernen, liberalen Individualismus. Gegen die Bezeichnung als „kommunistisches und inklusivistisches Wir“ habe ich eigentlich nichts einzuwenden. Trotzdem denke ich dabei nicht in religiösen Kategorien, sondern verstehe seine Herausbildung vielmehr als praktischen Prozess an.
Was den Punkt des postmodernen Subjektverständnisses angeht, habe ich ja bereits gesagt, dass ich von poststrukturalistischen und postanarchistischen Theorien mit beeinflusst bin. Dies kann in eine intellektuelle Selbstbespassung oder anderen zu kritisierenden Schlussfolgerungen führen. Diesen Fehlschlüssen erliege ich meiner Ansicht nach nicht, was auch damit zusammenhängt, dass ich einen pragmatischen Umgang mit Theorie habe, sie nicht für bare Münze, sondern als Inspirationsquellen nehme (wobei dennoch über ihren jeweiligen Wahrheitsgrad zu streiten ist). Der Gewinn poststrukturalistischer Subjekttheorien liegt unter anderem darin, dass sie thematisieren, wie Subjekte immer schon Produkte herrschaftlicher Subjektivierungsprozesse sind.
Hierbei scheint mir Rumpelgeists Beitrag hinter wichtigen Erkenntnissen zurückzufallen, welche sicherlich nicht ausschliesslich aus poststrukturalistischen Theorien herrühren, aber eben in diesen stark thematisiert wurden. Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass es eine emanzipatorische Subjektivierung geben kann – die zugleich Ent-Subjektivierung mitdenken muss. Die entscheidende Frage ist doch, ob man sich freiwillig entscheidet, die eigene Subjektivität in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Hierbei nehme ich also durchaus eine Willensfreiheit an, wie sie etwa Voltairine de Cleyre 1910 beschreibt.
Ich hoffe, dass ich mich mit diesen Erläuterungen zu Rumpelgeists Kritikpunkten etwas verständlicher machen konnte. Darüber hinaus möchte ich noch Anmerkungen zur seinen Überlegungen machen:
- Warum bezieht sich Rumpelgeist denn überhaupt auf das Konzept (einer „individualistischen“) Revolution, wenn er doch an Stirners Konzept der Empörung anschliesst (S. 5), welcher erstere mit letzteren eindeutig verwirft? Rumpelgeist scheint eine Art Individualisierung des Revolutionsbegriffs vorzunehmen, indem er meint „Seit jeher waren es individualistische und freiheitliche Rebellen, als Einzelgänger und Gruppen, welche dazu übergegangen sind, nicht zu warten, anzugreifen, welche die soziale Explosion eingeleitet haben und das aufrührerische Element waren“ (S. 8). Man mag dem zustimmen und das Argument als voluntaristisch verwerfen.
Meiner Ansicht nach ergibt es aber vor allem nicht wirklich Sinn diese rebellischen und subversiven Akte und Haltungen als „revolutionär“ zu bezeichnen, da Revolution per Definition ein kollektiver Prozess ist. Darüber hinaus halte ich es sogar für falsch und gefährlich von einer „anarchistischen Revolution“ zu reden – Revolutionen werden von vielen und ganz verschiedenen Gruppen getragen und voran gekämpft (und eben nicht von „dem“ Proletariat etc.). Deswegen stellt sich die Frage, welche Rolle und Aufgaben Anarchist*innen in revolutionären Prozessen spielen können, die immer auch mit einer Kritik an ihnen verbunden sein müssen, um die eigenen Vorstellungen zu wahren. - Was Rumpelgeist als Individualismus beschreibt, den er und seine verstreuten Gefährt*innen so verteidigen und retten wollen (S. 9), scheint mir in vielerlei Hinsicht eigentlich vor allem den Konzepten von Selbstbestimmung, Selbstentfaltung und Selbstermächtigung zu entsprechen. Diese stehen meines Erachtens nach in Wechselwirkung mit dem Organisationsprinzip Autonomie und theoretischen Überlegungen zu Selbstorganisation (→ Basisbegriffe anarchistischen Denkens). Selbstbestimmung meint, Respekt für die eigenen Grenzen einzufordern und eigene Entscheidungen treffen zu können. Selbstentfaltung bedeutet, einen eigenen Lebensentwurf wählen, verwerfen, gestalten zu können. Und Selbstermächtigung ist der subjektive Wille als „neuer Faktor“ (Pouget 1907/2014: 148f.) in sozial-revolutionären und anders gearteten Organisationen.
- Mit dieser Beschreibung will ich darauf hinaus, dass das, was Rumpelgeist als Individualismus fasst, immer an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist. Diese sind – ob man will oder nicht – gesellschaftlich bestimmt, abhängig von bestimmten Organisationsformen (darin stattfindenden Prozessen und aus ihnen hervorgehenden Aktionen), sowie von individuellen Besonderheiten beeinflusst (welche aber ihrerseits wiederum bestimmte Voraussetzungen und Gründe haben). Sprich: Ein Individualismus, der anarchistischen Vorstellungen gerecht wird, ist nichts Feststehendes – wie Rumpelgeist ja selbst zugibt (S. 10) –, sondern immer zu gestalten.
Es ist eine befreiende Nachricht, dass das Individuum damit den Teufelskreis der Selbstfindung eines um sich kreisenden bürgerlichen Subjektes durchbricht: Was für ein ungeahnte Freiheit ist es, sich nicht als besonderes Einzelnes behaupten und anerkennen zu lassen – sondern es einfach ohne Zwang und Masse sein zu können! Daraus folgt, dass nach den Rahmenbedingungen gefragt werden kann, unter denen Einzelne sich selbst bestimmen, ihre Leben selbst entfalten und sich selbst ermächtigen können. Und ich gehe in diesem Zusammenhang fest davon aus, dass Rumpelgeist mit zustimmen wird, dass dies im anarchistischen Sinne für alle Einzelnen gelten soll. Anarchist*innen üben sich damit meiner Ansicht nach permanent in der Kunst freiwillig gemeinsam zu sein. - Abschliessend bleiben für mich trotzdem einige grundlegende Dissonanzen bestehen. So klingt für mich vieles von dem, was Rumpelgeist und Freund*innen in ihren Überlegungen beschreiben letztendlich so, als wenn sie Individuen vorgesellschaftlich, wenn nicht gar aussergesellschaftlich, denken. Das ist meiner Ansicht nach aber völliger Quatsch, da alle Einzelnen bis in ihr unbewusstes Begehren hinein von sozialen und gesellschaftlichen Umgebungen und Prozessen geprägt sind. Darüber hinaus ist der Individualismus wie ihm Rumpelgeist vorschwebt entgegen seiner flapsigen Zurückweisung dieser Tatsache, erstens ein Ergebnis der modernen Gesellschaftsform und zweitens stets Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation. Dies zu leugnen wäre der reinste „philosophische Individualismus“ – welche Rumpelgeist aber ebenfalls zu verwerfen vorgibt und damit schlichtweg Quatsch.
- Damit einher geht die Notwendigkeit einer inhaltlichen Bestimmung individualistischer Ansätze im anarchistischen Sinne. Denn wenn es für den Autoren auf der Hand liegt, dass das Einstehen für das „jeweils einzigartige Wesen“ (S. 10) in die Revolte gegen Warenförmigkeit von Beziehungen, Privateigentum, „technologischen Albtraum“ oder individuelle Herrschaftswünsche richtet, so kann er dies eben nur als seinen persönliche – das heisst in der bestehenden Herrschaftsordnung: privatisierte – Interpretation des Individualismus bezeichnen – was er auch zugibt: „Der Individualismus, so wie ich ihn verstehe, löst sich also im Einzelnen auf, in mir selbst.
Ich benutze ihn, um damit das zu verwirkliche was ich kann, und werfe ihn weg, wenn er mir als Werkzeug untauglich scheint. Somit verwirkliche ich meinen Individualismus, und nicht den von jemandem anderen“ (S. 10). Es ist aber eben nicht egal, ob Anarcho-Kapitalisten wie Elon Musk sich „Anarchisten“ nennen oder ein Startup-Unternehmen mit „flachen Hierarchien“ sich so versteht. Auch der faschistische Mob, der 2021 das Kapitol in Washington oder jener, der Anfang 2023 das Kongressgebäude in Brasilia gestürmt hat, können nicht als „anarchistisch“ bezeichnet werden. Und ebenso wenig sind Organisations- und Aktionsformen von Die letzte Generationen anarchistisch, weil sie Konzepten folgen, die Bewegungs-Manager vorher festgesetzt haben und an Regierungspolitik appellieren, auch wenn sie dazu Individuen adressieren und aktivieren.
Dies kann ich sagen, weil Begriffe verschiedenen Wahrheitsgehalt haben. Vier dieser grundlegenden Wahrheiten lauten: (1) Die Selbstbestimmung und Selbstentfaltung aller Einzelnen ist ein Indikator für gesamtgesellschaftliche Emanzipation. (2) Emanzipation muss für Einzelne konkret erfahrbar werden und ihre Subjektivität verändern, um als solche gelten zu können. (3) Damit sich Einzelne selbst bestimmen und entfalten können, sind bestimmte organisatorische Voraussetzungen zu schaffen. (4) Weil das Ziel aller Anarchist*innen darin besteht, dass alle Einzelnen sich immer weiter selbst bestimmen und entfalten können, gilt es eine Gesellschaftsform zu erkämpfen, in welcher die Bedingungen dafür geschaffen werden. Anarchie und Kommunismus bedingen sich gegenseitig (Cafiero 1880, Kropotkin 1973: 213, Most 1899/2006, Malatesta 1926/2014).