Von alten Geschichten die neu erzählt werden…
Es ist wichtig, an radikale Vorkämpfer*innen der Emanzipation zu erinnern und ihr Leben und Wirken zugleich in ihrer jeweiligen Zeit und Gesellschaftsform zu verorten. Das einzelne Leben ist immer als Ausdruck seiner Umstände zu begreifen. Anarchist*innen betonen darüber hinaus, dass es in diese aktiv einzugreifen und sie umzugestalten gilt. Dafür ist Lucy Parsons (1851-1942) langes Leben ein gutes Beispiel. Als begabte Agitatorin, Autorin, Aktivistin und provokative Person der Öffentlichkeit wurde sie im Kampf gegen Kapitalismus und Staat zu einer legendären Figur. Sie war Teil der wirkmächtigen anarchistischen Szene Chicagos, führte aber ebenso Vortragsreisen an der amerikanischen Ostküste und nach San Francisco durch.Als Witwe des im bekannten Haymarket Prozesses von 1886 unschuldig zum Tode verurteilten Albert Parsons, wurde sie zur Projektionsfläche für verschiedenste Vorstellungen über den Anarchismus. Dies geschah unmittelbar nach dem Justizmord an ihrem Mann. Dabei wurde sie in ihrer konsequent klassenkämpferischen Haltung und als Schwarze Frau romantisch verklärt oder in die Rolle eines Schreckgespenstes des aufrührerischen und terroristischen Handelns der radikalen Strömungen in der Arbeiter*innenbewegung gedrängt. Ähnlich wie ihr Partner, genoss es Lucy im Licht der Öffentlichkeit zu stehen, vor Menschenmengen zu sprechen, von der bürgerlichen Presse begleitet und bei der Polizei gefürchtet zu sein.
Zur „Haymarket-Tragödie“, die wesentlich zur Popularisierung des Ersten Mai als Kampftags der Arbeiter*innenklasse beigetragen hat, gibt es diverse Literatur und auch neuere Forschungen. (1) Lucy war bemüht, das Andenken an die anarchistischen Märtyrer lebendig zu halten. Wenn sie auch 50 Jahre danach noch zu entsprechenden Gedenkveranstaltungen erschien, muss sie den versammelten Genoss*innen als Urgestein aus einer politischen Vorzeit erschienen sein. Mit diesem Auftreten wurde sie oft in den Schatten ihres Mannes gestellt, ging aber durchaus einen ganz eigenen Weg weiter.
Eine vernetzte Einzelkämpferin als Ikone und Maskottchen
Die Autorin stellt sich der Herausforderung, Lucy Parsons Leben ausführlich darzustellen. Mit diesem Versuch bleibt sie aber an die Tatsache gebunden, dass das Haymarket-Massaker in ihrem Leben gewissermassen der Dreh- und Angelpunkt ist, auf welchem ihr vorheriges Leben hinausläuft und von dem ihr späteres Leben ausgeht. Jones erhebt den Anspruch, Parsons mit ihren Widersprüchen darzustellen und einige ihrer Handlungen und Haltungen kritisch zu kommentieren.So erstaunt es etwa, dass Lucy ihre Herkunft als freigelassene Tochter einer Sklavin und vermutlich ihres weissen Herrn lebenslang zu verschleiern versuchte. Das Thema Rassismus oder die besondere Situation der Schwarzen in den USA – welche nicht einfach eine Untergruppe des Proletariats darstellen, wie etwa Marx meinte –, nahm sie so gut wie nicht zur Kenntnis. Ebenso echauffierte sie sich in ihrem späteren Leben über die Debatten einer jüngeren Generation von Anarchist*innen – allen voran Emma Goldman – welche Sexualität und freie Liebe als wesentlich für eine umfassende Befreiung thematisierten. Ihre zahlreichen Affären waren für Parsons offenbar nie Anlass, persönliche Erfahrungen und aktivistisches Praxis miteinander abzugleichen. Ihren eigenen Sohn liess sie als jungen Erwachsenen in eine Psychiatrie einweisen, weil er ihr nicht mehr folgen wollte und sie scheute sich nicht, ehemalige Genoss*innen und Liebhaber vor bürgerlichen Gerichten zu verklagen.
Das Darstellen der Widersprüche in Parsons Leben gelingt Jones gut. Sie deutet damit an, dass die Anarchistin von starken inneren Konflikten zerrissen gewesen sein muss, die sie aktiv verdrängte. Gerade dies trägt zu einer lebendigen Erzählung bei, welche es sowohl ermöglicht, über Parsons Zeit und Kontext nachzudenken, als auch Inspiration für das Handeln heutiger Aktivist*innen zu gewinnen. Eine echte Kritik lässt sich daraus nur bedingt ableiten: Denn warum sollte es gerade Parsons Rolle sein, als Schwarze, von Gewalt betroffene Frau, über Rassismus, Friedlichkeit oder Feminismus zu sprechen? In ihren Positionen fühlte sie sich Gewerkschaften und den direkten Kämpfen von Arbeiter*innen verbunden. Dabei bezog sie auch Obdachlose, Prostituierte und Wanderarbeiter*innen (die „Tramps“) mit ein.
Es ist berechtigt, dass Jones auf den ausgeprägten Rassismus in der Arbeiter*innenbewegung hinweist, der es letztlich erst ermöglichte, dass Schwarze Arbeiter*innen von den Bossen immer wieder als Streikbrecher*innen eingesetzt wurden und den Hass weisser Gewerkschafter*innen auf sich zogen.
Gerade, weil sie sich in ihrem Erscheinungsbild nicht einordnen liess und mit ihrem Auftreten faszinierte, konnte Parsons aus ihrem Aktivismus einen Selbstwert ziehen. Dies schliesst keineswegs aus, dass sie sich kontinuierlich für politische Gefangene einsetzte, an verschiedenen anarchistischen Zeitungsprojekten beteiligt war, sich gewerkschaftlich betätigte und 1905 die Industrial Workers of the World (IWW) mitgründete. Ausserdem intervenierte sie auf eine unbequeme Weise in Debatten, indem sie Vorträge anderer Redner*innen unterwanderte und nach erfolgter Wortmeldung die Aufmerksamkeit des gesamten Publikums auf ihren Beitrag lenkte.
Einige solidarisch-kritische Anmerkungen
Trotz der Würdigung des spannenden Buches, sind einige Sichtweisen der Biografin zu hinterfragen. So bezeichnet sie einen gewaltvollen, regellosen Zustand an Parsons früherem Wohnort im texanischen Waco als „Anarchie“. Das verdeutlicht ihre Distanz als Professorin zum anarchistischen Milieu.Schliesslich behauptet sie mehrfach das Konzept der „Propaganda der Tat“, welches Parsons von Johann Most phasenweise übernahm, sei dem bekannten deutschen Anarcho-Populisten zuzuschreiben. Zwar war Most in seinen Worten und Schriften ebenso wie Parsons ein Befürworter gewaltsamer Aktionen – ihm zuzuschreiben, er hätte sie mehr oder weniger „erfunden“ ist aber falsch. Vielmehr wurden insurrektionalistische Taktiken auf einem anarchistischen Kongress in London 1881 beschlossen – wenn auch später wieder grösstenteils widerrufen. Ausserdem stellt Jones ebenso fest, dass Dynamit-Anschläge gegen Unternehmen in Kreisen militanter Arbeiter*innen phasenweise durchaus verbreitet waren. (Wobei sie nur in den seltensten Fällen Menschen verletzen sollten.)(2)
Neben der Autobiografie von Emma Goldman (3), sowie jener von Voltarine de Cleyre (4), denen Lucy Parsons begegnete und mit denen sie sich auseinandersetzte, wird nun das Leben einer dritten weltweit bekannten Anarchistin aus den USA auf fundierte Weise thematisiert. Auch heute brauchen wir mutige Personen, die den kämpferischen Drang verspüren für anarchistische Vorstellungen in der Öffentlichkeit einzutreten, auch wenn sie damit Gefahren und Ausgrenzung in Kauf nehmen. Man mag nicht alle Positionen Parsons oder ihren Stil teilen. Ihre grundlegende Empörung und das daraus resultierende unermüdliche Engagement gegen eklatante Ungerechtigkeiten, das System der Lohnsklaverei und elende Lebensverhältnisse, ist heute ebenso berechtigt wie zu ihrer Zeit.