Lesenswert ist das Buch schon allein deshalb, weil es eine Genauigkeit der Analyse in gut nachvollziehbarer Form liefert und sich damit dem normativen Kanon der Erinnerungskultur, dem Stil der Festtagsreden und Feierstunden, entgegenstellt. Es ist in drei Hauptteile gegliedert: Teil 1 (S. 7-28) behandelt den offiziellen deutsche Erinnerungsbetrieb und greift ihn als „Paradebeispiel imperialer Selbstgerechtigkeit“ an.
Hier wird anschaulich und überzeugend dargelegt, welcher Auftrag der staatlich verordneten und kultivierten Art des (Ge-)Denkens innewohnt – die sich eben nicht im Erinnern als einem Sich-ins-Gedächtnis-Rufen, um zu verstehen und zu begreifen, erschöpft. Es geht vielmehr um ein Erinnern, das das Vergegenwärtigte als nationale Verpflichtung hinnimmt. Dieser Auftrag gilt als Selbstverständlichkeit, die den schulischen und ausserschulischen Bereich, den Kulturbetrieb und die Massenmedien, ja die ganze Öffentlichkeit betrifft.
Im 2. Teil der Schrift (S. 29–86), der sich aus drei Kapiteln zusammensetzt, erfolgt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der AfD als politisch legitimiertem Akteur des rechten Lagers und ihrem „Interesse an Volksbildung“ (S. 29-60), mit der parteinaher Stiftung der AfD „Desiderius-Erasmus“ (S. 61-72) und mit dem „intellektuellen Überbau der Neuen Rechten“ (S. 73-86). Dabei wird zurecht darauf hingewiesen, dass die AfD als parlamentarischer Wortführer der "Neuen Rechten" längst in der institutionalisierten Welt politischer demokratischer Herrschaft angekommen ist.
Den Abschluss des Bandes bildet drittens der Beitrag von Manfred Henle “Mit Recht Krieg – Deutsches Gedenken an das ‚Unternehmen Barbarossa'“ (S. 87–97). Henle zeigt anhand der Gedenkrede von Bundespräsident Steinmeier, die dieser 2021 anlässlich des 80. Jahrestages des Nazi-Kriegs gegen Sowjetrussland hielt, wie der Mythos der geläuterten Nation im „qua Amt und Würde inszenierten Akt der deutschen Erinnerungskultur“ (S. 87) gepflegt wird, damit er sich ins kollektive Gedächtnis einbrennt. Auch hier wird eine hochoffizielle, geschichtspolitische Inszenierung einer genauen Analyse unterzogen und auf ihr „Warum und Wozu“ (S. 88) hin befragt.
Die „geläuterte“ Nation – bereit zu weltpolitischer Verantwortung
Die deutsche Erinnerungskultur, als Paradebeispiel nationaler Vergangenheitsbewältigung, eine seit Jahrzehnten gepflegte und immer wieder renovierte „Bewältigungspolitik“ (S.8), erweist sich unübersehbar als ein politische interessierter Akt des Erinnerns und als Bearbeitung eines kollektiven, nationalen Standpunktes.Es handelt sich um „eine für die deutsche Demokratie nicht unerhebliche Funktion“ (S. 13). Es geht nicht um die Förderung des privaten Erinnerns des Einzelnen, um dessen subjektive Einordnung und Verarbeitung des Vergangenem. Das (Sich-) Erinnern wird gerade nicht den Bürger*innen selbst überlassen. Insbesondere deshalb nicht, weil sein Inhalt, das Woran und Wie und das Wozu, feststeht, es geht um einen „neuen Patriotismus“ (S. 12) als politischer Auftrag für die Volksbildung, der den hohen Regisseuren der nationalen Erinnerungsarbeit unabdingbar erscheint. Was die AfD hinsichtlich nationaler Erinnerung beiträgt, folgt daraus, dass auch sie „sich bekanntlich der nationalen Sache verschrieben“ (S. 30) hat.
Wie die anderen Akteure des Parteienspektrums kümmert auch sie sich programmatisch mit ihrem eigenen, alternativ-deutschen Beitrag ums nationale Erinnern und ums kollektive Gedächtnis. Auch sie unterbreitet dem Wahlvolk eine Leitlinie des Erinnerns – Zielpunkt ist demnach eine echt deutsche nationale Identität. Die Partei bedient sich etwa mit ihrer Stiftung demokratisch verfasster politischer Instrumentarien, um in der Frage der Volksbildung und der Kultur des Erinnerns – in Distanz zum angeblich herrschenden „Meinungskartell“ (S. 30) –, alternativ-deutsch kräftig mitzumischen. Nach Ansicht der AfD ist eine Fundamentalopposition nötig, um die offiziell inszenierte und seit 1945 gepflegte Erinnerungskultur hinsichtlich Nazi-Zeit und Holocaust, den von ihr bekämpften "Schuldkult", zu überwinden.
Dass die alternativ-deutschen Protagonisten mit ihren demokratischen Konkurrenten – auch wenn öffentlicher Streit vorherrscht – durchaus kongruent sind in der Frage, ob es einer nationalen Anstrengung bedarf, um den Inhalt staatsbürgerlicher Denk- und Handlungsweisen zu formen und als Erinnerungskultur zu verankern, weist die Schrift stringent nach. Auch der Aspekt, dass diese Anstrengungen angesichts sich verändernder Realitäten ständiger „Nachjustierung“ (S. 21) bedürfen, lässt sich als Konstante der erinnerungspolitischen Agenda, immer im Sinne einer demokratisch geläuterten Nation, nachweisen.
Dass hierbei "geläutert" keineswegs gleichbedeutend ist mit einer Abkehr von früherem Nationalismus und Militarismus, also mit einem ernst gemeinten „Nie wieder Krieg“, ist hier der zentrale Kritikpunkt der Schrift. Denn, wie der Schlussteil „Mit Recht Krieg“ (S. 93ff.) schlüssig darlegt, ging es im Nachkriegsdeutschland, kaum war die Niederlage besiegelt, nicht um "Nie wieder Krieg" sondern um: „Nie wieder ein solcher Krieg“. Also um die Pflege einer Erinnerungskultur, die letztlich einen Krieg, der sich vom „verbrecherisch-unfassbaren Krieg“ (S. 88) der Nationalsozialisten zu unterscheiden weiss, befürwortet und legitimiert. Schliesslich soll das demokratische (Nachkriegs-)Deutschland als „das absolut Andere“ (S. 90) verstanden werden, das über hohe Werte und nicht zuletzt über eine Parlamentsarmee verfügt. Und das Staatsmänner, heute gerade auch -frauen kennt, die prüfen und entscheiden, „ob ein Einsatz zu mehr oder zu weniger Leid“ (S. 97) führt – die also den kommenden Kriegsvorhaben der deutsch-demokratisch geläuterten Nation den Weg weisen können. Was ja seit dem 24. Februar über alle Kanäle verbreitet wird...
Schillos zum Nachdenken auffordernde und herausfordernde Schrift ist in einem klaren und flüssigen Stil verfasst und für jeden empfehlenswert, der sich einen Begriff davon machen will, was mit dem unschuldigen und erhabenen Titel "Erinnerungskultur" beabsichtigt und verordnet wird - und wozu das Ganze dienen soll.