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Jürgen Hoßdorf: Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage.

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Jürgen Hoßdorf: Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage. Der moderne Mensch, ein geborener Meta-Physiker

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Sachliteratur

Unlängst erschien im Verlag Klemm+Oelschläger die erste Schrift einer neuen Reihe: die Edition Endzeit.

Jürgen Hoßdorf: Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage..
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Jürgen Hoßdorf: Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage.. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

Datum 28. Dezember 2021
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KorrekturKorrektur
Diese Edition will dem herrschenden Zeitgeist in Gestalt eines "allgemeinen Krisen- und Katastrophenbewusstseins" mit einer "entschiedenen Ermunterung zu destruktiver Kritik entgegentreten". Die erste Schrift dieser Edition legt Jürgen Hossdorf vor.

Dies vorweg: Es sprengte den Rahmen einer Rezension, der von Jürgen Hossdorf vorgelegten Argumentation, ihrer theoretischen wie politischen Tragweite und Brisanz im Einzelnen nachzugehen. Insofern und angesichts der argumentativen und sprachlich-stilistischen Klarheit sei diese schmale Schrift dem Leserpublikum empfohlen. Entschiedene Kritik leistet diese Schrift angesichts ihres Gegenstandes in jedem Fall.

Destruktive Kritik meint dabei: gleichsam more geometrico (Spinoza) aufzuzeigen, dass die berühmte Frage nach dem "Sinn des Lebens" denen sehr zum endgültigen Schaden gereicht, die diese Frage subjektiv zu ihrem Innersten machen. Das Angebot dieser Schrift ist also: Sollte die Kritik theoretisch überzeugend und nachvollziehbar sein, steht die Frage an, ob nicht ein definitiver Abschied von der Idee eines sinnerfüllten Lebens im materiellen Interesse eines jeden Einzelnen überlegenswert ist. Das bedeutete allerdings einen Schritt ohne Wiederkehr einen "point of no return." (L.Althusser)

Die Schrift ist in zwei Teile gegliedert: Teil 1 (S. 7-40) geht der "Frage nach dem Sinn des Lebens" nach und leitet daraus ihren notwendigen Ursprung aus der Welt, wie sie heute nun einmal ist, ab. Teil 2 (S. 41-110) veranschaulicht anhand von Günther Anders, Albert Camus, Th.W. Adorno, Wilhelm Schmid und Viktor A. Frankl, wie die moderne Zunft der Philosophen mittels Metaphysik die offensichtlich "unverwüstliche Sinnfrage" (S.7) bedient.

Ausgehend vom merkwürdigen Phänomen, dass der moderne Mensch theoretisch wie praktisch alles in der Hand hat, seinen Verstand auf eine Weise zu gebrauchen, die es ihm ermöglicht, die gegenwärtige Welt gedanklich zu durchdringen und aus dem so gewonnenen Wissen über die Welt notwendige Schlüsse zu ziehen, gebraucht, so Jürgen Hossdorf, der moderne Mensch seinen Verstand auf gänzlich andere Weise: Statt eines objektiven Wissens um das Warum und Woher der Welt sich anzueignen, ergänzt der moderne Mensch sein lebenslanges Dasein in der Welt von heute mit einem gleichsam lebenslangen "Streben nach Sinn" (S.14) und der "Suche nach Sinn" (S.18). Dies, weil der durchaus freie Wille in sich einen "Willen zum Sinn" (S.28, S.101) herausbildet.

Neben und ineins mit seinen alltäglichen materiellen Bemühungen leistet sich der moderne Wille zum Sinn nunmehr auch noch eine ausgeprägte "Hinterwelt" (S.35, 101): ein gelebtes Jenseits, weil der freie Wille von Anbeginn an die rauhe und spröde Welt und Wirklichkeit von heute bejaht und somit sich mit ihr versöhnt hat; und entschieden ist, an der hoffnungs- und trostgeladenen Versöhnung mit der Welt, wie sie ist, festzuhalten (vgl. S.38). Daraus folgt: "Zur Beantwortung der Frage nach der andauernden Sinn-Suche und -stiftung ist ein Blick auf die Lebensweise der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft angebracht." (S.9)

Im Willen zum Sinn ist also eingeschrieben: Die Welt, wie sie ist, ist grundsätzlich bejaht, mag dieses "Jammertal" (J.Hossbach, S.25 auf Marx hinweisend) auch noch so unwirtlich und brutal sein wie es will: samt Staatsgewalt, Eigentumsordnung, Rechtsordung, aufgeherrschten bürgerlichen Konkurrenzverhältnissen, globaler, privat- und marktwirtschaftlicher Gewinnmaximierung, Geld, Arbeits- und Wohnungsmarkt, Friedensgebot nach Innen, Kriegsbereitschaft nach Aussen. Und, nicht zu vergessen: die staatlich aufgegebene Pflicht zur Sittlichkeit, das geltende, das rechtlich normierte "Sittengesetz" (GG, Art. 2., Abs.1) anzuerkennen und danach zu handeln. Ist dieses Ganze vom freien Willen angenommen und bejaht, erscheint dieses Jammmertal eben als die Bedingung des eigenen Lebens.

So angenommen, gerät es zur offenbar unumgänglichen Existenzgrundlage, zur Möglichkeit, zur Gelegenheit, zur Chance, "das" Leben zu meistern und sich im Jammertal möglichst erfolgreich zu behaupten, zu bewähren und, nicht zuletzt, sich vor sich selbst und vor den anderen zu bestätigen und zu beweisen: "Diese Denkweise unterstellt die kapitalistischen Konkurrenzverhältnisses als einen Sphäre, in der jeder zu dem seinen kommen kann, wenn er sich nur redlich darum bemüht." (S.26)

Die Bejahung der kapitalistischen Konkurrenz zeitigt andererseits für die Mehrheit, vornehmlich für die mittel- und eigentumslose Mehrheit, notwendig dieses negative Ergebnis: dass das staatlicherseits "lizensierte Erfolgsstreben [...] nicht für alle aufgehen kann." (S.27) Das notwendige "Scheitern der Konkurrenzbürger" (Ebd.) nehmen die die Welt bejahende (Konkurrenz-) Bürger ganz ihrer Entscheidung entsprechend, in der Welt so gut es geht möglichst erfolgreich zurecht- und fortzukommen, dementsprechend so: "dass sie sich ihr Scheitern nicht nüchtern erklären, weil sie an ihren Lebensverhältnissen und der dazugehörigen Sittlichkeit als ihrer Heimat festhalten, obwohl sie ihnen schadet. Mit ihrer Sinnfindung gewinnen sie dieser Heimat zumindest eine Seite ab, dass sie sich letzlich mit ihr versöhnen" (S.38) Das ist der eine Inhalt ihres "falschen Bewusstseins" (vgl. S.17) über die Welt und über sich selbst. Ein falsches Bewusstsein, das einem "Selbstbetrug" (S.8, 38) gleichkommt.

Das Jammertal bejahend als scheinbar unumgängliche Existenzgrundlage anzunehmen, es um des eigenen Erfolges willen zu seiner Heimat zu machen und in Anbetracht der daraus folgenden Schädigungen und Enttäuschungen sich eine hoffentlich trostspendende und alles entschädigende ideale "Hinterwelt", ein Jenseits zu zu konstruieren und zu leben, erweist: der moderne Mensch, der (Staats-) Bürger, ist ein geborener Meta-Physiker.

Dieser illusorische Inhalt des "falschen Bewusstseins" (Hossbach) will bedient sein und wird rund um die Uhr bedient: das metaphysische, das falsche Bewusstsein findet einen schier grenzenlosen, allzeit bereiten "Markt der Sinnstiftung und Lebensbewältigung" (S.21-28) vor. Die "Betreuung" (S.24) des Willens zur Metaphysik, hat da vom Fussball-Fan oder -Fanatiker an über die Religion, bis hin zu Sekten, Esoterik, Aberglaube, Astrologie, Horoskop, Kartenlesen und sonstigen Hokuspokus alles in ihrem Angebot. Und, dies in besonderer Weise, die "psychologische Wende der Moral" (S.81), das heisst, die psychotherapeutische Betreuung des Willens zur Meta-Physik.

Die modernen professionell-gelehrten Philosophen und Meta-Physiker fühlen sich seit jeher berufen, von höherer Warte aus auf ihrer Weise das falsche, das metaphysische und illusorische Bedürfnis des modernen Menschen zu bedienen. Das veranschaulicht der Teil 2 der Schrift. Auf der Grundlage eines wohlbegründeten staatlichen Interesses an Metaphysik und entlang der Kantischen Abstraktionen: "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?", hat die gegenwärtige Philosophie und Metaphysik keinen anderen Inhalt als einerseits erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch objektives Wissen für unmöglich zu erklären.

Andererseits eine endgültige "Grundlegung der Metaphysik der Sitten" (Kant, 1785), ein für alle verbindliches System der Sittlichkeit zu liefern und zu propagieren. Günther Anders, Th.W. Adorno, Albert Camus, Wilhelm Schmid bei der metaphysischen Betrachtung von Reinhold Messners "Formung des Selbst" (S.92) zu einem für alle vorbildlich sein sollenden "Selbst-Kunst-Werk" (Ebd), sowie Viktor A. Frankl's brutaler logotherapeutischer Zynismus (S.106-109) stehen jeder auf seine Weise dafür, dem staatlichen Interesse an Metaphysik genüge zu leisten - wie Hossdorf anschaulich aufzeigt und auch dem mit der Metaphysik weniger Vertrauten zugänglich macht (S.41-110). Mit einem Wort: Innerphilosophisch betrachtet, erweisen sich die modernen philosophischen Kategorien der universitären Philosophie und Metaphysik als staatlich interessierte, als politische Kategorien: mithin die universitäre Philosophie als Ganze als ein staatlich interessiertes und institutionalisiertes politisches Gebilde.[1]

Nachdenkenswert und ggf. neu zu überlegen sei dies: Das staatsbürgerliche, das falsche Bewusstsein mit dem Inhalt, dass die Welt der Lohnarbeit und des Lohns das "existente Mittel der Arbeitnehmer ist [...] Doch dieses Mittel wird für sie immer wieder zum Problem, weil es nämlich, anders als sie es wahrnehmen, gar nicht ihr Mittel ist, sondern das der anderen Seite" (S.15) dürfte richtigestellt wohl so lauten: Indem die Lohnarbeiter die Welt, hier die Lohnarbeit und den Lohn, erzwungenermassen wie realistischer Weise zu ihrem Mittel machen, machen sie sich zum Mittel der anderen Seite.

So sind beide Seiten rechtlich gleiches Mittel füreinander mit dem Unterschied, dass die eine Seite in diesem reziproken Mittelsein Füreinander seiner gewinnträchtigen Instrumentalisierung zustimmt: Damit das Kapital produziert und reproduziert, mtihin das Lohnarbeitsverhältnis als Ganzes und seine Unterwerfung darunter aus freier Willensentscheidung auch praktisch anerkennt. So ist "das Sittengesetz" (GG, Art. 2., Abs.1 ) gewahrt und dieses "Rechtsgeschäft" des reziproken Mittelseins Füreinander ist keineswegs ein "Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstösst." (BGB § 318) Eine "Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung" (BGB § 826, Abs.1) liegt im Lohnarbeitsverhältnis und in der geregelten Lohnarbeit also nicht vor, denn: "nur Wer in einer gegen die guten Sitten verstossenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet." (BGB § 826, Abs.2) Und davon kann im Lohnarbeitsverhältnis wie bekannt, ja keine Rede sein.

Eingedenk des ideellen Lohns, mit dem sich das falsche Bewusstsein mit der Welt, mit sich und mit seinem Ideal von sich selbst angesichts seiner lebenslangen, alltäglich erfahrenen Schädigungen bis ans Ende seiner Zeit tröstet und entschädigt, weiss der bürgerliche Staat, dass der freie Wille immer auch anders kann. Zum wahrhaft sittlich-ethischen, zum geläuterten Materialismus ist der freie Wille so betrachtet erst dann geworden, wenn er seinen ideellen Lohn darin sieht, sich selbst aufzugeben - im Einsatz für das grosse Ganze. In seiner auf allen Kanälen ausgestrahlten Weihnachtsansprache am 25. Dezember 2021 fasst der deutsche Bundespräsident den staatlich erwünschten metaphysisch-sittlichen Willen bündig zusammen: "Wir sind ein Land!...auf der guten Erde." "Wir", das heisst eine offenbar reine, sittlich-ethisch geläuterte, patriotisch-vaterlandstreue Verantwortunsgemeinschaft, die im guten Gewissen und beseelt vom unbedingt "guten Willen" (Kant, 1785) aufgerufen ist, die "gute Erde" zu retten.

Es lohnt sich also, Jürgen Hossdorf's Schrift zu lesen um an anderen Fragen, zum Beispiel an der Frage nach dem "Sinn" oder der "Sinnlosigkeit" eines (missglückten oder verlorenen) Krieges, weiterzudenken.

Manfred Henle

[1] Vgl. dazu: L. Althusser, Lénine et la philosophie suivi de Marx et Lénine devant Hegel, Paris, 1972: 7-45.

Jürgen Hossdorf: Sinn und Sittlichkeit – Zur Kritik der Sinnfrage. Verlag Klemm+Oelschläger 2021. 112 Seiten, ca. SFr 18.00. ISBN 978-3862811687