Ende des 19. Jahrhunderts wurden Verbrecher_innen mit „krankhaft Geistesgestörten“ (S. 38) verglichen. Postulat war, dass „Schwachsinnigen“ moralisches Empfinden und sittliches Verständnis von Recht und Unrecht fehle. „Soziale“ Krankheiten seien genetisch übertragbar.
Die „Sozialrassistische Verfolgung kannte keine ‚Stunde Null'“ (S. 16). Hörath beschreibt, wie nach der Reichstagsbrandverordnung Justizbeschlüsse weniger nach allgemeingültigen Normen als nach Sachlage gefällt wurden. Bürger des „Dritten Reiches“ fanden alle Lebensbereiche rechtlich geregelt, ob die Einzelfallentscheidung Rechtsnormen oder politischen Zweckmässigkeitserwägungen folgten, oblag dem Gutdünken der NS-Machthaber. Im „Massnahmenstaat“ galt weder Recht noch Gesetz, denn neben der Gemeinschaft Stehende waren der Feind. Sie arbeitet heraus, wie der „Massnahmenstaat“ zum entscheidenden Instrument zwischen „Volksgenossen“ und „Gemeinschaftsfremden“ wurde - und somit zum Werkzeug für sozialen Exklusion.
Die KZ-Strafe für „Asoziale“ und „Kriminelle“ erwuchs aus der Reichstagsbrand-Verordnung und legitimierte sie als Akt der Gefahrenabwehr. Es entstanden konzeptionelle Ansätze dieser Art von Verfolgung. Kern des „NS-Volksgemeinschaftsdenkens“ war die Rassenhygiene. Dieser lag ein „organischer“ Volks- und Staatsbegriff zugrunde. „Volk und Staat wurden als biologische Einheit imaginiert, dessen ‚gesunde' Teile es durch Massnahmen der positiven Eugenik [...] zu fördern galt, während die ‚kranken' Teile ‚auszumerzen' waren“ (S. 21). So bringt es die Autorin auf den Punkt.
Der NS-Forscher Detlev Peukert nannte es Anfang der 1980er Jahre „eugenischen Rassismus“. „Minderwertigkeit“, sichtbare Körperanomalien und missliebige soziale Verhaltensweisen wurden verbunden. Sozialverhalten wurde zu Quelle und Gegenstand „sozialtechnischer Lösungsangebote“ (S. 21), denn mangelnde Anpassungsbereitschaft und missliebige soziale Verhaltensweisen wurden erbbiologisch definiert. Fehlende Leistungsbereitschaft wurde als „arbeitsscheu“ charakterisiert und sei „durch degeneriertes Erbgut verursacht“ (ebd.). „Die Klassifizierung einer Person als ‚wertvoll' oder ‚minderwertig' hing […] wesentlich von deren Fähigkeit und Bereitschaft ab, die Arbeits- und Leistungsnormen zu erfüllen.“ (Ebd.) „Asozialität“ wurde zur Wurzel des „Verbrechertums“ erklärt. So hätten betreffende Personen einen „inneren Hang zum Verbrechen“ (S. 295).
Nationalsozialistische Vorsorge
Die sogenannte Vorbeugehaft sah die Verwahrung „vermindert Zurechungsfähiger“ und „gemeingefährlicher Geisteskranker“ vor. Ein erster Vorstoss zum Willensstrafrecht war, dass Sicherheitsmassregeln gegen noch nicht straffällig gewordene Personen angewandt wurden.Ein Link war die richterliche Zuständigkeit für die „Massregeln der Sicherung und Besserung“. Konzentrationslager gehörten zum Terrorplan der Hitlerbewegung. Sie sind aber nicht ihre Erfindung. Laut Hörath hatte die Rechtsinstrumentalisierung drei Ziele: Herrschaftssicherung, Ausschaltung politischer Gegner_innen, „Reinigung“ des „Volkskörpers“ von „rassischen“ und anderen „Volksschädlingen“. „Bei den Gesetzen handelte es sich […] nicht mehr der Substanz nach um Recht“ (S. 89). Im April 1933 begann dann die lokale „Schutzhaftverhängung“ gegen „Asoziale“. Paragraph 1 der Reichstagsbrand-Verordnung galt der Ausschaltung politischer Gegner_innen, doch selbst Unangepasste wurden festgesetzt, so die Autorin.
Man erfährt weiterhin, dass die „Schutzhaft“ gegen vier internationale Prinzipien rechtmässigen Freiheitsentzuges verstiess: Sie erfolgte ohne richterliche Anordnung. Eine Straftat war nicht vorausgesetzt. Den Betroffenen standen keine Rechtsmittel zur Verfügung. Die Haft war zeitlich unbefristet. So sassen in Bayern zehn Prozent aller Insassen in „Schutzhaftlagern“ und Arbeitshäusern. Nach „gesundem Volksempfinden“ konnte jeder „Volksgenosse“ „Schutzhaftanträge“ stellen. Dies überpositive Recht veranlasste die Kripo, bei Vermutungen und Denunziationen zu ermitteln und zu verurteilen.
Der Verhaftungsgrund hiess „Gefahr im Verzug“. Hörath beschreibt ein Beispiel: „Eine der ersten sozialrassistischen Inschutzhaftnahmen 1933 [...] betraf den 60-jährigen Sigmund O. aus Haunetal, der mindestens 3 Monate im KZ Dachau interniert war“ (S. 248). Der „Schutzhaftbefehls“-Grund vom Bayreuther Stadtrat am 4. April lautete, er habe Steuer-, Polizei und Strafrechtsbehörden mit Eingaben belästigt, die Anstand und Sitte vermissen lassen. Zum Jahreswechsel 1933/34 gab es dann schon 3.000 Schutzhafthäftlinge.
Zur Instanzenreduktion ging die Kontrolle der „Schutzhaft“ auf die Gestapo über; in diesem Zusammenhang erweiterten sich die Haftgründe. Laut „Heimtückeverordnung“ (20.12.1934) wurden Wirt_innen, Frisöre, Geistliche, Handels- beziehungsweise Versicherungsvertreter_innen, Hausierer_innen, Bettler_innen und Prostituierte aus der kommunistischen beziehungsweise katholischen Arbeiterschaft wegen Pöbeleien, Verunglimpfungen, anrüchigen Scherzen oder Wutausbrüchen verhaftet und verurteilt. Dieses Vorgehen bestimmte der preussische Geheimerlass zur „Anwendung der vorbeugenden Polizeihaft für Berufsverbrecher“ (13.11.1933) und der zu beschliessende Erlass „gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Massregeln der Sicherung und Besserung“ (24.11.1933). Neue Ziele waren nun „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“, Obdachlose und Prostituierte.
Wer nicht zum Volkskörper gehört
Im Folgenden beschreibt die Autorin, die Mechanismen für eine Vorbestrafung. Nach dem Strafablauf kam die Arbeitshaushaft, ab der zweiten Einweisung laut Paragraph 42f RStGB unbefristet beziehungsweise wenn die Täter zwei sechsmonatige Freiheitsstrafen hatten. Täter mit drei vorsätzlichen, noch nicht rechtskräftig abgeurteilten Straftaten waren erheblich vorbestraft. Gerichtlich verurteilte „Gewohnheitsverbrecher“ erhielten Sicherheitsverwahrung als eine an der Täterpersönlichkeit angepasste, abgestufte Bestrafung. „Nachträgliche Sicherungsverfahren“ wurden gegen Freiheitstrafen verbüssende Menschen rückwirkend angeordnet. „Vorbeugehaft“ galt Personen mit langen Vorstrafenlisten, denen die Kripo aktuell keine Straftat nachwies.Ein Passus im „Gewohnheitsverbrechergesetz“ gestattete die Schaffung von Instrumenten zur Gefahrenabwehr für die Kripo. Die „Bettlerrazzia“ ab 25.10.1933 war die erste Aktion. Reichsinnenminister Wilhelm Frick kündigte am 28.6.1933 die „Verminderung der Lasten für Minderwertige, „Asoziale“, Kranke, Schwachsinnige, Geisteskranke, Krüppel und Verbrecher durch Zwangssterilisation an. Im „Reich“ gelangten 10.000 Leute in „Schutzhaft“ oder in frühe KZ. Zuerst wurden auswärtige Wander_innen festgenommen, später lokal bekannte. Am 05.07.1933 folgten im NSdAP-Gau Schleswig-Holstein „Meckerer“, „Saboteure“ und Entlassene mit „schlechtem Lebenswandel“.
Im KZ Eutin waren Bettler, Landstreicher, „Unterstützungsbetrüger“, es traf Tischlergesellen auf der Walz, die Ausbildung ignorierende Berufsschüler oder Unterstützungsempfänger, die Rennwetten abschlossen und dem Glücksspiel nachgingen. 1933 war das Arbeitshaus Rebdorf mit 600 Personen voll. Die rechtliche Zulässigkeit war nebensächlich, erstrangig war die kriminalpräventive Strategie.
Im KZ Oberer Kuhberg (Ulm) waren Leute interniert, die nachts sangen, Metzger, die angeblich die Schlachtsteuer nicht zahlten, „Alkoholkranke“. Ab 2.10.1933 entfiel bei Hamburger Inhaftnahmen der politische Zweck; die SS wollte Transvestiten und Homosexuelle beobachten und eventuell ins KZ Fuhlsbüttel überführen. Die erste Aktion gegen „Berufsverbrecher“ im März 1937 gegen Leute, die ihre Straftaten „aus einer geradezu staatsfeindlichen Einstellung heraus begingen“ (S. 289). Als „Akt der Gefahrenabwehr im Ausnahmezustand“ seien 2.000 Ledige ohne Arbeit als „Vorbeugehäftlinge“ (S. 293) verhaftet wurden, davon seien 700-800 ins KZ deportiert wurden.
Julia Hörath ist für die ausgiebige Studie zu danken, die erhellend historische und rechtssoziologischen Entwicklungen erklärt, und aktuell das Bayrische/ NRW-Polizeigesetz, Landes-Psych-KG in historischen Bezügen verstehen hilft. Das Fachbuch ist nachvollziehbar strukturiert und verständlich geschrieben. Es zeigt die Entstehung einzelner Rechtsvorschriften. Eine grössere Fülle an Beispielen hätte der Arbeit allerdings gut getan.