Die Haltung der Bundesanwaltschaft ist symptomatisch für einen Staat, der ebenso wie breite Teile der Gesellschaft eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex bis heute verweigert. Zwar gibt es eine kleine Community von Menschen, die mit ihren hartnäckigen Recherchen massgeblich zur Aufklärung der Taten des NSU beigetragen haben und sich kontinuierlich dafür einsetzen, antirassistische Perspektiven auf den NSU-Komplex in die Öffentlichkeit zu tragen. Dazu gehören Anwält_innen, Aktivist_innen, investigative Journalist_innen und nicht zuletzt die Menschen, die durch den rassistischen Terror verletzt wurden oder Angehörige und Freund_innen verloren haben. Ihnen stehen jedoch weite Teile der Mehrheitsbevölkerung gegenüber, die sich vom NSU „schlicht nicht betroffen“ (S. 19) fühlen und weder von dem bundesweiten neonazistischen Unterstützungsnetzwerk des Kerntrios noch von der Verstrickung der Geheimdienste oder den rassistisch geführten Ermittlungen etwas wissen wollen.
Soweit das pessimistische Bild, das die Herausgeber_innen Juliane Karakayali, Çağrı Kahveci, Doris Liebscher und Carl Melchers zu Beginn des Bandes „Den NSU Komplex analysieren“ zeichnen. Es ist das Anliegen des Buches, grundlegende gesellschaftliche Fragen, die der NSU-Komplex aufwirft, (wieder) auf die politische Agenda zu setzen. Dabei geht es den Herausgeber_innen auch um eine wissenschaftspolitische Intervention: Denn das gesellschaftliche Desinteresse am NSU spiegelt sich auch an den Universitäten wider, in denen die rassistische Mordserie und ihr gesellschaftlicher Kontext bislang kaum Gegenstand kritischer Lehre und Forschung wurden.
Einige Artikel setzen sich vor diesem Hintergrund mit den bisherigen Versäumnissen der deutschen Forschungslandschaft auseinander. Um sich überhaupt in die Lage zu versetzen, etwas zur Analyse des NSU-Komplexes beitragen zu können, müssten die unterschiedlichen Disziplinen zuallererst reflektieren, wie sie selbst in die rassistischen Verhältnisse verstrickt sind, die den NSU-Komplex ermöglicht haben, so die Herausgeber_innen in ihrem einleitenden Beitrag. Beispielsweise hat die Migrationsforschung mit ihrem Fokus auf Gewalt, Kriminalität und Fundamentalismus unter „Ausländern“ den rassistischen Ermittlungen der Polizei, die sich jahrelang gegen die Opfer des NSU richteten, eine Legitimationsgrundlage geschaffen. Die Sozialpädagogik hat es bislang versäumt, Ansätze der sogenannten akzeptierenden Jugendsozialarbeit aufzuarbeiten, die in den 1990er Jahren den Aufbau rechter Räume und Strukturen unterstützte. Und die politikwissenschaftliche „Rechtsextremismusforschung“ arbeitet – wie der Name schon sagt – viel zu häufig mit der innen- und sicherheitspolitisch motivierten Extremismusdoktrin und stützt sich auf „korrumpiertes Wissen“ (S. 146) der Geheimdienste, wie Massimo Perinellis Beitrag eindrücklich belegt.
Es einfach nicht wissen wollen
Wie eine kritische Wissensproduktion zum NSU-Komplex aussehen kann, zeigt der Text von Özge Pınar Sarp und Çağrı Kahveci. Ausgehend vom kollektiven Gedächtnis der deutsch-türkischen Community ordnen die Autor_innen die NSU-Morde in die Geschichte rassistischer Gewalt in der Bundesrepublik ein. Dabei zeigt sich: Nicht nur das Töten von Migrant_innen hat in Deutschland Tradition, sondern auch das Vergessen. Die schmerzhafte Geschichte derer, die rassistisch diskriminiert und ausgegrenzt werden, hat meist keinen Platz im Gedächtnis des „Erinnerungsweltmeisters Deutschland“ (S. 41).Dies erklärt, warum die Taten des NSU vielfach als erschreckendes, aber letztlich singuläres Ereignis wahrgenommen werden und nicht als Fortsetzung einer grossen Zahl rassistischer Morde seit den 1980er Jahren und der rassistischen Pogrome nach der deutschen Vereinigung. Dass es auch eine Kontinuität des Widerstands gegen Rassismus gibt, wird im Beitrag von Sarp und Kahveci ebenfalls deutlich. Immer wieder organisierten Hinterbliebene und Freund_innen der Opfer rassistischer Gewalt Trauerdemonstrationen, verlangten eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus und erhoben Forderungen nach gleichen politischen und sozialen Rechten. Der entschlossene Kampf vieler Familien unterstreicht, dass es möglich ist, in den erinnerungspolitischen Diskurs zu intervenieren. In der Schaffung öffentlicher Gedenkorte und im kollektiven Erinnern liegt die Chance, das durch rassistischen Terror hervorgerufene Leid und die Unsicherheit zu vergesellschaften, sodass die Opfer und ihre Erfahrungen nicht länger „abgesondert in die Geschichte eingehen“ (S. 53).
Zu ähnlichen Schlüssen kommen Ayşe Güleç und Johanna Schaffner. Sie gehen von der Frage aus, wie es möglich war, dass das kollektive Wissen und der kollektive Schmerz migrantischer Communities über die Morde des NSU nicht nur im Mainstream, sondern auch in linken Kreisen jahrelang gänzlich ignoriert wurden. Die Unfähigkeit zur Empathie und das „Nicht-Wissen-Wollen“ (S. 60) interpretieren sie als Effekt einer gesellschaftlich produzierten Struktur und als spezifische Ausdrucksform von Rassismus. Die hartnäckigen Interventionen der Familie Yozgat aus Kassel, um die es im zweiten Teil des Beitrags geht, zeigen jedoch, dass es immer wieder gelingt, die „sorgfältig hergestellten Methoden des Nichtwissens“ (S. 60) zu durchkreuzen. So können die strukturelle Empathielosigkeit überwunden und (punktuell) alternative Möglichkeiten der politischen und emotionalen Identifikation geschaffen werden.
Weitere Beiträge untersuchen, wie institutioneller Rassismus das NSU-Verfahren in München prägt oder welche Folgen der „Betriebsunfall“ NSU für die Ausstattung und Kompetenzen des Inlandsgeheimdienstes hatte. Wieder andere Artikel greifen theoretische Konzepte wie „institutioneller Rassismus“, „Collusion“ (also etwa: „verdeckte Zusammenarbeit“, beispielsweise zwischen V-Personen und staatlichen Behörden) oder „Ausnahmezustand“ auf, um sie für die Analyse des NSU-Komplexes fruchtbar zu machen. Ein verbindendes Element der Beiträge, deren thematische Schwerpunkte sich erkennbar unterscheiden, besteht darin, dass sie sich auf „Wissen aus den politischen Bewegungen des Antirassismus und Antifaschismus sowie das migrantisch situierte Wissen“ (S. 10) beziehen.
Sie verstehen den NSU-Komplex nicht als singulären Skandal, sondern als Ausdruck der sozialen und politischen Verhältnisse und insbesondere eines tief verankerten Rassismus. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung darf aus dieser Perspektive nicht bei der Aufklärung der Taten des NSU und erst recht nicht bei Spezialdiskussionen über einzelne Neonazis und ihre staatlichen Unterstützer_innen im sogenannten Verfassungsschutz stehenbleiben. Vielmehr muss sie auf eine ernsthafte Auseinandersetzung mit „Rassismus und mit neofaschistischen Tendenzen in einer postnazistischen und postmigrantischen Gesellschaft“ und dem „Verhältnis von Grund- und Menschenrechten und Geheimdiensten in einer Demokratie“ (S. 18) hinauslaufen. Für diese anstehenden Diskussionen liefert der Band wertvolle Ansätze und Analysen.
Gegenerzählungen entwickeln
Inwieweit dabei – wie von den Herausgeber_innen angedeutet – auf die vom neoliberalen Umbau gebeutelten Hochschulen gesetzt werden kann, ist allerdings fraglich. Massimo Perinelli bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: „Wer wirklich beansprucht, den NSU-Komplex wissenschaftlich angehen zu wollen, muss auch dazu bereit sein, so manche karriereungünstigen Schritte zu gehen“ (S. 160). Vielversprechender könnte eine unabhängige Rassismusforschungs- und Dokumentationsstelle nach dem Vorbild des britischen Institute of Race Relations (IRR) sein, dessen Arbeit Eddy Bruce-Jones in seinem Beitrag vorstellt. Das IRR dokumentiert seit Jahrzehnten rassistische Gewalt in Grossbritannien, macht so die institutionellen und strukturellen Dimensionen von Rassismus sichtbar und liefert Gegenerzählungen zu offiziellen Regierungsberichten. Ansätze, die in eine solche Richtung gehen, existieren in der Bundesrepublik bereits in den vielen gedenkpolitischen Initiativen, die an die Opfer rassistischer Morde erinnern, in Register- und Beratungsstellen oder beispielsweise auch in der Chronik der Berliner Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt. Dieses Wissen gilt es zu systematisieren und zu archivieren, sodass in künftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen darauf zurückgegriffen werden kann.In einer Phase, in der der NSU-Prozess in München langsam zu Ende geht, viele parlamentarische Untersuchungsausschüsse ihre Arbeit bereits abgeschlossen haben und staatliche Akteur_innen – wie die eingangs erwähnte Bundesanwaltschaft – entschlossen darauf hinarbeiten, möglichst schnell einen Schlussstrich zu ziehen und den NSU zu den Geschichtsakten zu legen, kommt der Band gerade rechtzeitig. Es bleibt zu hoffen, dass viele die in ihm versammelten Analysen aufgreifen und sich dem staatlich verordneten Vergessen entgegenstellen.