Wer sich mit dem Thema genauer befassen will, sollte zu dem 2021 im Unrast-Verlag erschienenen Buch „Die modernen Wanderarbeiter*innen“ greifen, das Stefan Dietl gemeinsam mit Kathrin Birner herausgegeben hat. Der Untertitel „Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre Rechte“ macht deutlich, worum es den beiden Herausgeber*innen geht. Sie beklagen nicht in sozialkonservativer Manier, dass durch die Arbeitsmigration angeblich ein Unterbietungswettbewerb bei Löhnen und Arbeitsrechten einsetzt. Für Dietl und Birner sind die Arbeitsmigrant*innen auch nicht hilflose Opfer kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse. Sie sehen diese als Teil der transnationalen Arbeiter*innenklasse, die sich durchaus auch organisieren und um ihre Rechte kämpfen können.
Diese Perspektive erklärt sich wohl daraus, dass die Herausgeber*innen aktive Gewerkschaftler*innen sind. Kathrin Birner ist als Gewerkschaftssekretärin im Netzwerk Global Labour University aktiv und Stefan Dietl Vorsitzender des Landesbezirks Oberpfalz der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Mitglied im bayerischen Landesverband der Dienstleistungsgewerkschaft. In der Jungle Word ist er in den letzten Jahren immer wieder als kundiger Kritiker einer korporatistischen Gewerkschaftspolitik hervorgetreten, der sich gegen Standortlogik und Verzichtspolitik ausspricht. Dietl kennt als linker Gewerkschaftler die Problematiken einer kämpferischen Gewerkschaftspolitik.
Keine unmündigen Opfer
Daher ist das Buch „Die modernen Wanderarbeiter*innen“ mit Gewinn zu lesen. Sie sind meistens unsichtbar und halten den kapitalistischen Alltag auch in Deutschland am Laufen. Das wurde in der Corona-Pandemie besonders deutlich, als diese Wanderarbeiter*innen beispielsweise als sogenannte Erntehelfer*innen beim Spargelstechen in den Fokus der medialen Öffentlichkeit gerieten. Da nahmen auch manche linken Beobachter*innen scheinbar zum ersten Mal wahr, dass der Kapitalismus auf Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft beruht. Die Empörung in den Jahren 2020/21 war vor allem moralisch grundiert. Die betroffenen Arbeiter*innen wurden oft wie unmündige Kinder behandelt, die jetzt vor der Einreise nach Deutschland geschützt werden sollten. Was das für die Beschäftigten aus Osteuropa bedeutete, die den Lohn ihrer Arbeit oft schon in ihre Planungen einkalkuliert hatten, wurde selten thematisiert. Dietl und Birner hingegen gehen in ihrem informativen Buch von den Interessen dieser migrantischen Beschäftigten aus, auch wenn sie nicht für sie sprechen können, wie sie schon im Vorwort betonen:„Keineswegs ist es Anspruch dieses Buches, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Die haben sie durchaus selbst und sind, wie die im Schlusskapitel beschriebenen Beispiele zeigen, auch willens und in der Lage, sie einzusetzen und für ihre Rechte zu kämpfen.“ (S. 9)
Die beiden Autor*innen benennen die Politiker*innen, die den gesetzlichen Rahmen für ihre Ausbeutung geschaffen haben. Es war die rot-grüne Regierung Schröder/Fischer, die mit der Durchsetzung der Hartz IV-Gesetze auch in Deutschland einen Niedriglohnsektor geschaffen hat, der auf EU-Ebene einen Dumpingwettbewerb bei Löhnen und Gehältern einkalkulierte. Die vor allem von Deutschland vorangetriebene Austeritätspolitik auf EU-Ebene sorgte dann dafür, dass eine grosse Zahl von Arbeitskräften vor allem aus den Ländern der europäischen Peripherie selbst schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse in Deutschland in Kauf nahmen. In ihren Ländern konnten sie oft keine Lohnarbeit mehr finden, von der sie leben konnten. So gab es neben der Landwirtschaft und der Fleischindustrie auch in der häuslichen Pflege und der Bauwirtschaft einen massiven Import von Arbeitskräften, wie die beiden Autor*innen in kurzen Kapiteln zeigen.
„Dass die Finanzkrise letztlich zur Eurokrise wurde, die insbesondere in Südeuropa wirtschaftliche Zerstörungen hinterliess, die bis heute anhalten, ist besonders auf die deutsche Wirtschafts-, Aussenhandel und Europapolitik zurückzuführen“ (S. 16), rufen Dietl und Birner eine Erkenntnis in Erinnerung, die in den Jahren 2010–2015 auch in Teilen der Sozialbewegung in Deutschland durchaus bekannt war, aber schnell wieder in Vergessen geraten ist.
„Arbeitskampf in der Schattenwelt“
Kenntnisreich beschreiben die Autoren die rechtlichen Besonderheiten der Wanderarbeiter*innen. Sie werden oft über Sub- und Subsubunternehmen angeworben. Nicht selten sind es Briefkastenfirmen, die Konkurs anmelden, wenn sich migrantische Beschäftigte wehren und den ihnen vorenthaltenen Lohn einklagen. In einem Kapitel gehen Birner und Dietl auf die oft ausgrenzende Politik der DGB-Gewerkschaften gegenüber migrantischen Beschäftigten ein. In unrühmlicher Erinnerung sind die in dem Dokumentarfilm „Die leere Mitte“ von Hito Steyerl dokumentierten Szenen, in denen Männer mit Deutschlandfahnen aus einer Demonstration der IG-Bau heraus Container von osteuropäischen Bauarbeitern am Potsdamer Platz in Berlin angreifen. Auch einige Fahnen der IG-Bau sind bei den Angreifern zu sehen. Die Autor*innen zeichnen auch die kritischen Diskussionen in verschiedenen DGB-Gewerkschaften nach, die zur Gründung des Projekts Faire Mobilität und dem Europäischen Verein für Wanderarbeiter*innen führten. Kritisch wird auf die Rolle der Zollbehörden und deren Kampf gegen sogenannte Schwarzarbeit eingegangen, was bei manchen DGB-Gewerkschafter*innen durchaus auf Zustimmung stösst. „Jedoch verliert diese Perspektive aus dem Blick, dass mehr Kontrollen wohl nur in den wenigsten Fällen dazu beitragen, die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen von mobilen Beschäftigten zu verbessern“, (S. 72) stellen die Autor*innen klar.Im letzten Teil des Buches befassen sich Birner und Dietl mit den Arbeitskämpfen migrantischer Arbeiter*innen, die in den letzten Jahren gelegentlich auch in bürgerlichen Medien für Aufsehen sorgten. Da besetzten rumänische Bauarbeiter im Dezember 2017 in Düsseldorf einen Kran, um erfolgreich die Auszahlung ausstehender Löhne durchzusetzen. Sie hatten zuvor sechs Wochen für verschiedene Subunternehmen geschuftet und sollten um ihren Lohn geprellt werden. Auch der wenig bekannte Arbeitskampf von osteuropäischen Bauarbeitern, die auf einer Grossbaustelle im Europaviertel in Frankfurt am Main schufteten und deren Generalunternehmen der Offenbacher Konzern Kaczor war, findet im Buch Erwähnung. Unterstützung bekamen sie von der IG-Bau, die die nicht nur arbeits- sondern nach dem Ende der Beschäftigung auch wohnungslosen Arbeiter zunächst in einem gewerkschaftlichen Bildungsheim unterbrachten.
In Berlin war im Herbst 2014 das Büro der Basisgewerkschaft Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) die temporäre Bleibe für acht rumänische Bauarbeiter der Mall of Berlin, die es als Mall of Shame bald zu unrühmlicher Bekanntheit brachte. Auch dieser Arbeitskampf wird von Dietl und Birner in einem eigenen Kapitel als „Symbol für den Widerstand migrantischer Beschäftigter“ (S. 115) gewürdigt. Dass sie mehrere Prozesse gewonnen, aber am Ende ihren Lohn nicht bekommen haben, zeigt auch, wie schwer es ist, die Gesetze des Kapitals zu durchbrechen, die im Fall der Mall of Shame dafür sorgten, dass der Generalunternehmer nicht in Haftung genommen werden konnte.
Da hilft nur die Selbstorganisation der Beschäftigten und eine solidarische Öffentlichkeit. In der Danksagung hoffen Birner und Dietl, dass ihr Buch ein wenig dazu beitragen kann. Das könnte auch deshalb gelingen, weil es anders als die meisten wissenschaftlichen Bücher zu diesem Thema in einer leicht lesbaren Sprache geschrieben ist und einen guten Überblick über die Thematik gibt. Einzig: Als Handreiche für die Praxis wäre am Ende eine Liste mit Internetadressen für solidarische Netzwerke und Gruppen hilfreich gewesen.