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Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung

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Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung Der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme entgegen treten

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Sachliteratur

Eine Auseinandersetzung mit den Debatten um reproduktive Rechte und dem Selbstbestimmungsbegriff in der Frauen- und Behindertenbewegung seit den 1970er Jahren.

Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung.
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Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Foto: August Brill (CC BY 2.0 cropped)

Datum 22. September 2016
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Die Besetzung geschlechter- und bevölkerungspolitischer Themen durch konservative und rechte AkteurInnen ist kein neues Phänomen. Es ist jedoch eines, das in den letzten Jahren zunehmend an Sichtbarkeit und Bedeutung gewonnen hat. So bringen die sogenannten „Märsche für das Leben“ regelmässig in verschiedenen deutschen Städten mehrere tausend Menschen auf die Strasse. Motiviert durch ein christlich-fundamentalistisches Weltbild demonstrieren sie gegen Verhütung, Schwangerschaftsabbrüche, Präimplantationsdiagnostik (PID) und Pränataldiagnostik (PND).

Diese Positionen sind auch durch Rassismus und Ableismus (Diskriminierung aufgrund körperlicher und geistiger Fähigkeiten/Behindertenfeindlichkeit) geprägt: Die gewünschte demografische Entwicklung bezieht sich nur auf weisse Deutsche; zu Behinderten wird ein instrumentelles, paternalistisches Verhältnis eingenommen, statt sie als eigenständige, politische Subjekte zu betrachten. Durch Antifeminismus machen extrem rechte und christlich-fundamentalistische AkteurInnen ihre politischen Positionen auch für bürgerliche Spektren anknüpfbar.

Wie dieser politischen Entwicklung aus einer linken, (queer-)feministischen Position zu begegnen ist, ist Thema des Buchs „Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung“ von Kirsten Achtelik. Im Zentrum steht dabei die Verknüpfung von feministischen und antiableistischen Positionen in Bezug auf eine aktuelle und zentrale Fragestellung: Wie können reproduktive Rechte – etwa die Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs – gestärkt werden und gleichzeitig die ableistische Praxis, die mit PID und PND verknüpft ist, politisch problematisiert werden?

Reproduktive Rechte und Ableismus

Schwangerschaftsabbrüche sind – so führt Achtelik aus – in Deutschland nach wie vor rechtswidrig, sie bleiben jedoch unter bestimmten Bedingungen straffrei. Seit 1995 ist dementsprechend ein Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche möglich, wenn die Schwangere nachweisen kann, dass sie eine Beratung bei einer staatlich anerkannten Stelle in Anspruch genommen hat. Nach dieser Pflichtberatung muss eine dreitägige Wartezeit eingehalten werden, erst nach dieser darf der Abbruch vorgenommen werden.

Auch 1995 wurde die sogenannte „embryopathische Indikation“ als Grund für einen Schwangerschaftsabbruch aus dem Gesetz gestrichen – massgeblich aufgrund der Kritik von Behindertenverbänden und Kirchen. Die embryopathische Indikation galt, wenn aufgrund pränataler Untersuchungen mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit davon auszugehen war, dass der Embryo beziehungsweise der Fötus zu einem behinderten Kind heranwachsen würde.

Weiterhin finden jedoch sowohl pränatale Untersuchungen als auch Schwangerschaftsabbrüche in Reaktion auf damit verbundene, positive Diagnosen statt. Die Gesetzeslage erlaubt noch bis zum Ende der Schwangerschaft Abbrüche aufgrund einer „medizinischen Indikation“. Das heisst, ein Schwangerschaftsabbruch ist dann möglich, wenn durch die Fortführung der Schwangerschaft von einer Gefährdung der körperlichen und/oder psychischen Gesundheit der Schwangeren auszugehen ist. Achtelik schreibt hierzu: „Praxis scheint zu sein, dass davon ausgegangen wird, dass das Leben mit einem behinderten Kind unzumutbar ist, weshalb die Diagnose einer schwereren fötalen Behinderung die medizinische Indikation der Schwangeren* impliziert.“ (S. 54). Die Kombination von PND und „medizinischer Indikation“ hat dementsprechend einen ableistischen Effekt: Bei der Diagnose Trisomie 21 („Down-Syndrom“) wird beispielsweise in über 90 Prozent der Fälle die Schwangerschaft abgebrochen (S. 56).

Das Phänomen der PND hat sich in der BRD seit den 1960er Jahren durchgesetzt. Die Zielsetzung der PND ist nicht „Prävention“, sondern „Selektion“, das heisst, nicht die Behandlung einer pränatal diagnostizierten Erkrankung ist angestrebt. Meist ist die einzige Entscheidung, die der Schwangeren bleibt, die, ob sie abtreiben will oder nicht (S. 129). Neben der immer weiter voranschreitenden Normalisierung von PND nimmt ausserdem die PID vor dem Hintergrund des 2011 verabschiedeten Präimplantationsgesetzes an Bedeutung zu.

Eugenische Diskurse lassen sich jedoch noch weiter zurückverfolgen – sie entwickelten sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts. Anfang des 20. Jahrhunderts waren sie nicht nur von reaktionären Kräften geprägt, auch Teile der ersten Welle der Frauenbewegung sowie Anarchist_innen und Kommunist_innen vertraten eugenische Positionen. Damals wie heute sind die in dem Themenbereich verorteten politischen Bewegungen und Diskurse – so arbeitet Achtelik heraus – nur vor dem Hintergrund einer ableistisch geprägten Gesellschaft zu verstehen.

Ein Blick zurück

Den grössten Raum im Buch nimmt die Beschäftigung mit den historischen Auseinandersetzungen um reproduktive Rechte seit den 1970ern ein. Insbesondere werden die Debatten um den Begriff der Selbstbestimmung beleuchtet. Dazu stellt Achtelik einerseits die Debatten in der von nicht-behinderten Frauen* dominierten Frauenbewegung dar und andererseits die Debatten in der Behindertenbewegung.

Dass in den 1970ern Schwangerschaftsabbrüche zum zentralen Thema der Frauenbewegung wurden, war durchaus nicht unumstritten. So gab es etwa Zweifel an der Relevanz des Themas. Die Forderung nach Selbstbestimmung schwang zuerst implizit mit und wurde im Laufe der Jahre immer expliziter formuliert. Am Selbstbestimmungsbegriff gab es jedoch auch von verschiedenen Seiten Kritik, unter anderem aufgrund seiner individualisierenden Stossrichtung. An den Debatten um die Einführung der embryopathischen Indikation in dieser Zeit beteiligten sich die nicht-behinderten Feministinnen gar nicht erst.

Auch für die Behindertenbewegung war der Selbstbestimmungsbegriff „ein wichtiger Abwehr- und Kampfbegriff“ (S. 80). Die politische Praxis richtete sich auch auf den Ausbau von eigenen Strukturen wie ambulanten Diensten und Assistenzgenossenschaften, durch die die Behinderten selbstbestimmter leben konnten. In Bezug auf die Auseinandersetzungen um den §218 unterschied sich die Situation der behinderten Frauen von denen der Nicht-Behinderten: Während von den letzteren in der Regel verlangt wurde, jedes Kinder auszutragen, wurden den ersteren häufig nahegelegt Schwangerschaftsabbrüche durchführen zu lassen.

Selbstbestimmung nur in kollektiven Strukturen

Das Verständnis von PND und selektiven Schwangerschaftsabbrüchen als „originär gesellschaftspolitische […] Probleme“ (S. 11) – wie Achtelik sie verhandelt – lässt insbesondere für queer-feministische Bewegungen interessante Erkenntnisse zu. Besonders beeindruckend ist Achteliks Auseinandersetzung mit den historischen Debatten in der Frauen- und Behindertenbewegung: Es stimmt, dass komplexe und kontrovers geführte Bewegungsdebatten rückblickend vereinheitlicht werden, ein Narrativ die Oberhand gewinnt und der Rest zu oft dem Vergessen preisgegeben wird. Insbesondere die in Vergessenheit geratene historische Kritik am Selbstbestimmungsbegriff ist auch für die heutige Kritik – nicht nur – an selektiven Abtreibungen relevant: Selbstbestimmung kann nicht sinnvoll ohne Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gefordert werden.

Die kapitalistischen, rassistischen und ableistischen Verhältnisse verhindern, dass Entscheidungen wirklich „selbstbestimmt“ getroffen werden können. Dem sollte eine kollektive Perspektive entgegen gesetzt werden, um der Individualisierung von gesellschaftlichen Problemen entgegen zu treten – sowohl in Bezug auf sexistische als auch in Bezug auf ableistische Phänomene. Dementsprechend ist eine Kritik an PID und PND bei gleichzeitiger Beibehaltung der Forderung nach der Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen notwendig. Diese Kritik ist auch deshalb wichtig, um den „Lebensschützern“ nicht das Feld zu überlassen und deren sexistischen, ableistischen und rassistischen Positionen eine emanzipatorische entgegen zu setzen.

Ein politisch wichtiges und durch und durch empfehlenswertes Buch.

Charlie Kaufhold
kritisch-lesen.de

Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Verbrecher Verlag, Berlin 2015. 223 Seiten, ca. 24.00 SFr ISBN: 978-3-95732-120-6