Eröffnet wird „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ mit dem Schwerpunkt „Linke Betriebsintervention, wilde Streiks und operaistische Politik 1968 bis 1988“. Sieben Artikel und ein Interview liefern interessante Einblicke in die Geschichte einer „anderen Arbeiterbewegung“ (Karl-Heinz Roth), die sich um das Jahr 1968 herum nicht nur in Deutschland neu formierte und jenseits klassischer Gewerkschaftsmethoden in den Betrieben agierte. Zu diesem Zeitpunkt gingen tausende Aktivist_innen der Studierenden- und Jugendbewegung zur revolutionären Agitation in die Fabriken (und blieben mal länger, mal kürzer), während gleichzeitig Betriebsbesetzungen und spontane Streiks um sich griffen (und 1973 einen Höhepunkt erreichen sollten).
Mit dem italienischen Operaismus bildete sich zudem eine marxistische Theorietradition, welche die Arbeitsbeziehungen des fordistischen Kapitalismus der Nachkriegszeit intensiv erforschte und für eine autonome Organisierung der Arbeiter_innen jenseits der vorhandenen Gewerkschaften und Parteien eintrat.
Bereits die Auswahl der Texte macht den transnationalen Charakter der Ereignisse (aber auch der Akteure) deutlich. Dabei steht neben Deutschland mit Italien insbesondere jenes Land im Fokus, das die in diesem Zusammenhang wohl intensivsten (und kontinuierlichsten) Auseinandersetzungen erlebte. Die Aktualität dieses Schwerpunkts und der Beiträge begründet die Redaktion in ihrer Einleitung: Auf der einen Seite könne global ein massiver Zuwachs von Arbeitskämpfen festgestellt werden, auf der anderen Seite finde dies auch zunehmend Beachtung und solidarisches Engagement in den sozialen Bewegungen.
Ziel der versammelten Beiträge sei daher, die Interaktion zwischen den betrieblichen Kämpfen und den sozialen Bewegungen der damaligen Zeit zu untersuchen. Von diesem Blick auf vergangene Auseinandersetzungen kann linke Praxis durchaus profitieren, obwohl sich heutige Konflikte mit ausserbetrieblichen Unterstützungskreisen wie bei Amazon oder an der Berliner Charité nicht immer mit den industriellen Grossbetrieben der 1970er Jahre vergleichen lassen.
Die Geburt der Neuen Linken
Den Auftakt macht ein Beitrag Antonio Lenzis zur Entstehung der italienischen „neuen Linken“ anhand der beiden Gruppen Il Manifesto (eine KPI-Abspaltung, an die heute noch die gleichnamige Tageszeitung erinnert) und Lotta Continua (die zusammen mit einer weiteren Gruppe, Potere Operaio, die operaistische Linie der italienischen radikalen Linken darstellte). Wer sich für die Geschichte der italienischen Linken interessiert, dürfte diesem Beitrag trotz seiner stellenweise etwas sperrigen Sprache mit Genuss lesen - auch, weil es zur Organisationsgeschichte und -politik der Post-68er Gruppen in Italien (leider) nur sehr wenige Veröffentlichungen auf Deutsch gibt.Davide Serfino berichtet anschliessend über einen ohne gewerkschaftliche Unterstützung geführten Arbeitskampf gegen gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen in Genua in den Jahren 1968/69, der in Zusammenarbeit mit linken Medizinstudierenden geführt wurde. Zusammen mit den Studierenden analysierten die Streikenden ihre Situation mithilfe einer „militanten Untersuchung“ und entwickelten daraus neue Forderungen. Das Konzept einer solchen Untersuchung, bei der „militant“ im Sinne von „aktivistisch“ gemeint ist, entstand 1960/61 bei FIAT Turin im Kontext des operaistischen Marxismus. Teilweise auch als „Conricecra“ („Mituntersuchung“) bezeichnet, versuchen dabei aktivistische Forscher_innen gemeinsam mit Arbeiter_innen eine Analyse über die konkreten Arbeits- und Lebensverhältnisse in ihrer Fabrik und ihrem Alltag zu erstellen.
Ziel ist es, anhand dieser Reflexion individuelle wie kollektive Widerstandsformen zu erkennen und somit gemeinsame Organisierungsprozesse zu unterstützen. In eben dieser Absicht entwarf schon Karl Marx 1880 einen „Fragebogen für Arbeiter“, der zu seiner Zeit aber nie systematischen Einsatz fand.
Sebastian Kasper gibt anschliessend einen Überblick über die Betriebsinterventionen der vom Operaismus beeinflussten deutschen Gruppen um die Zeitschrift „Wir wollen alles“ (dazu gehörten unter anderem der „Revolutionäre Kampf“ in Frankfurt/Main, die „Arbeitersache“ in München oder die „Proletarische Front“ in Hamburg und Bremen) in der ersten Hälfte der 1970er Jahre. Torsten Bewernitz schreibt über eine Welle wilder Streiks im Rhein-Neckar-Gebiet 1973, die vor allem durch so genannte Gastarbeiter_innen (siehe beispielsweise Dieter Braegs Buch zum Streik bei Pierburg in Neuss) geprägt waren. Nelli Tügel vergleicht den wilden Ford-Streik 1973 in Köln mit einem Besetzungsstreik bei Krupp in Duisburg-Rheinhausen 1987/88.
Von Dietmar Lange folgt die Übersetzung eines zeitgenössischen Berichts über eine europäische Konferenz diverser linksradikaler, vor allem operaistischer Gruppen im April 1973 zur Betriebsarbeit. Abgeschlossen wird der Schwerpunkteil mit einem – leider nur sehr knappen – Interview zu Betriebsinterventionen und deren internationalen Dimension mit Karl-Heinz Roth, der in den 1970er Jahren selbst Aktivist der „interventionistischen“ Proletarischen Front war.
Eine neue Generation
Vervollständigt werden die 100 Seiten im Schwerpunkt durch zwei weitere Artikel, unter anderem zur Diskussion um „moderne Sklaverei in Brasilien“, Konferenzberichte aus der Sozialgeschichte und diverse, thematisch passende Buchbesprechungen. Im Übrigen ist „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ keine vollkommen neue Zeitschrift, sondern aus dem seit 2002 erschienen „Jahrbuch für Forschung zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ hervorgegangen (das entgegen dem Titel übrigens mehrmals im Jahr erschien). Das Jahrbuch wiederum war die Fortsetzung der „Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ als offizieller Fachzeitschrift der DDR. Wurde die Redaktion des Jahrbuchs noch entsprechend stark von DDR-sozialisierten Wissenschaftler_innen mitgetragen, so hat sich jene von „Arbeit – Bewegung – Geschichte“ deutlich um eine in den 1980er Jahren geborene Historiker_innengeneration verjüngt.Der nun vollzogene Relaunch unter neuem Namen und mit neuem Verlag ist aber auch ein programmatischer: Ein weit gefasster Begriff von Arbeit und ein umfassender Blick auf soziale Bewegungen können die Zeitschrift für ein breiteres Publikum öffnen. Kommende Ausgaben sollen sich mit den Schwerpunkten „Lohnarbeit, spontaner Protest und Organisation vom 19. bis in das 21. Jahrhundert“ sowie „Marginalisierung und Emanzipation im globalen Revolutionszyklus 1917 bis 1923“ beschäftigen.
Insgesamt also eine empfehlenswerte erste Ausgabe eines hoffentlich erfolgreichen Projekts. Positiv erscheint auch, dass die verwendete Sprache und das vorausgesetzte Wissen in den meisten Texten für eine akademische Zeitschrift noch vergleichsweise zugänglich bleiben. Als einziger Schwachpunkt dieser Ausgabe bleibt die starke Dominanz einer männlichen Autorenschaft. Kommende Ausgaben mögen da hoffentlich Abhilfe schaffen. Wer gleich noch mehr zum Thema Betriebsintervention und wilde Streiks in Deutschland erfahren will, kann sich auch noch das ebenso lesenswerte Buch von Jan Ole Arps „Frühschicht. Linke Fabrikinterventionen in den 70er Jahren“ oder Peter Birkes Dissertation zu „Wilde Streiks im Wirtschaftswunder“ zulegen.