Kritik der Moral: Eine unmoralische Streitschrift Der Egoismus der materialistisch-feministischen Post-Allzudeutschen
Sachliteratur
Anfang Dezember las ich die Spannende Broschüre Kritik der Moral. Eine unmoralische Streitschrift (November 2023), welche bei der Gruppe „Exil“ heruntergeladen werden kann.
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19. Juni 2024
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Korrektur
Mit ihrer Kritik der Moral möchten die Autor*innen offenbar eine ernsthafte Debatte initiieren und zum produktiven Streiten einladen – das finde ich super. Im vorletzten Abschnitt ihrer Schrift schreiben sie: „Immer weniger geht es darum, Verhältnisse zu überwinden und diesen Kampf als den der Unvollkommenen zu verstehen. Statt dessen entwickelt man eine Position der moralischen Integrität, nein Perfektibilität und Überheblichkeit, die sich zur Arroganz eines permanenten Urteils über die politisch falsche Position der jeweils Anderen ausweitet“ (S. 32).
Und weiter: „Dem Begriff »rechtsoffen« fehlt es an analytischer Schärfe; denen die ihn benutzen, fehlt es an Bereitschaft, die Gesellschaft in Widersprüchen zu denken und vor allem fehlt es ihnen an der Fähigkeit, sich selbst als widersprüchlich in widersprüchlichen Verhältnissen zu denken“ (S. 33). Ich begrüsse, die anti-christliche Einstellung um vom Schuldkomplex getriebener Moral-Linken wegzukommen und eine fundierte Gesellschaftskritik zu betreiben. Weiterhin unterstütze ich das Anliegen, in Widersprüchen denken zu lernen, damit Emanzipationsprozesse – entgegen all den Schwierigkeiten, die die mit ihnen verbunden sind – stattfinden können.
Es gibt viele Aussagen in der Broschüre, denen ich mich inhaltlich und von der Absicht her anschliessen kann und auch ihre Ausformulierung gelungen finde. Die Stärke der Autor*innen liegt dementsprechend meines Erachtens darin, dass sie Kritiken zusammenfassen, auf den Punkt bringen und bereit sind, den Finger in die Wunde einer gefühlsduseligen, moralistischen Linken zu legen. Für mich ist darin nicht viel Neues erhalten, aber umgekehrt ist diese Kritik in linken Szenen wohl noch einige Jahre anzubringen. Letztendlich bleibt „Exil“ mit ihrer Perspektive auf dem halben Weg stehen. Eine emanzipatorische Ethik zu formulieren, wagen sie nicht – und verbleiben mit ihrem Modus einer vermeintlich reinen Kritik im Egoismus privilegierter Bürgerkinder. Ironischerweise liest sich die Schrift daher konsequenterweise auch als eine krampfhafte Selbstreflexion und angewiderte Selbstdistanzierung.
Deswegen reagieren die Autor*innen über, indem sie beispielsweise verkennen, dass die Entwicklung von Sozialtechniken in linken Milieus und ihre Adaption von neoliberalen Managementratgebern letztendlich ein wechselseitiger Prozess war und ist (vgl. Bröckling 2017). Ein genaueres Verständnis, was neoliberal und was emanzipatorisch ist, entwickeln die Autor*innen nicht (vgl. z.B. S. 15). Dies mag angesichts der Fokussierung der Broschüre nicht ausführlich beschreiben werden können, scheint mir aber grundlegend verkürzt zu sein.
Beispielsweise schiessen sie in ihrem Abschnitt „Polizeiliche Logiken oder der Schrei nach Awareness“ über das Ziel hinaus, wenn sie schreiben: „Diese Anklage aber erlaubt keine Diskussion, denn wer sich als Opfer definiert, der hat Recht, dem muss geglaubt werden, dessen Forderungen sind umzusetzen. Zwischen Opfer und Täter ist kraft der moralischen Definition ihrer Rollen eine Aushandlung genauso undenkbar, wie sich auch verbietet, das vom Opfer hervorgebrachte in Frage zu stellen“ (S. 8). Implizit ausgeblendet wird nämlich, dass es durchaus strukturelle Diskriminierung von Menschen in verschiedenen sozialen Positionen gibt – und es für emanzipatorische Anliegen entscheidend ist, diese überhaupt mitzudenken.
Ähnliches geschieht bei der Beschreibung im Abschnitt zur „Befindlichkeitsrunde“. So heisst es: „Als der gesellschaftliche Niedergang der Linken insgesamt dann in den 90er Jahren zu beobachten war, wurde diese soziale Praxis und die negativen Erfahrungen der Subjekte unbewusst reflektiert, und im Ergebnis wollte man diese Kaltschnäuzigkeit und Rücksichtslosigkeit nicht wiederholen“ (S. 10). Statt die erkannte Geschichte der Befindlichkeitspraktiken aufzugreifen, sie als Sozialtechniken zu verstehen und damit zeitgemäss weiterzudenken, tendieren die Autor*innen meines Erachtens nach dazu, sie letztendlich zu verwerfen. Damit verkennen sie jedoch gerade ,was sie ja bereits begriffen haben – das bestimmte Praktiken in spezifischen gesellschaftlich-historischen Konstellationen richtig und sinnvoll sind. Dies gilt es also bewusst zu machen. Dementsprechend ist auch der vermeintliche Amoralismus, den Exil proklamieren lediglich die Kehrseite des in linken Szenen verbreiteten Hypermoralismus – statt ihre Weiterentwicklung hin zu einer offen gehaltenen, verhandelbaren, nicht-universalistischen Ethik.
Problematisch wird es dann im Abschnitt „»Intersektionalität« – der ineinander verschränkte Schmerz“. Hier zeigt sich das mehr oder weniger bewusste Fehlverständnis intersektionaler Theorien. Zurecht kritisiert werden deren liberale Ausprägungen, die tatsächlich Einzug in staatliche Ministerien gefunden haben. Falsch ist, dass die Autor*innen dies mit weiterhin in sozialen Bewegungen vorhandenen intersektionalen Ansätzen gleichsetzen. So handelt es sich bei der folgenden Aussage um eine billige Strohpuppen-Behauptung: „Zum einen suggeriert dies die Möglichkeit, dass alle im Kapitalismus einen Platz an der Sonne zugebilligt bekommen können, wenn man nur intersektional und möglichst aware für jede Art von Diskriminierung Fördermassnahmen verteilt. Es ist doch kein Geheimnis, dass im Kapitalismus nicht jede*m ein Platz an der Sonne vergönnt ist“ (S. 16). Auf ähnliche Weise täte es den Autor*innen meiner Ansicht nach gut, ihre eigene privilegierte Herkunft zu hinterfragen.
Denn bei den Debatten um „Klassismus statt Klasse“ geht es nicht allein oder vorrangig um Identität (auch wenn dies sicherlich fortwährend so falsch verstanden wird), sondern tatsächlich um eine Hinterfragung der Exklusivität linker Szenen, der in ihnen verwendeten Sprache und Verhaltenscodes. So zeigen Exil auch hier, dass sie Nachbesserungsbedarf haben: „Während es der ArbeiterInnenbewegung um die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt in dem Sinne ging, dass von ihr aus die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage gestellt und letztlich überwunden werden können, geht es jetzt darum, diese ArbeiterInnen nicht schlechter zu behandeln als andere Teile der Gesellschaft“ (S. 22).
Es ist schlichtweg falsch, wenn sie suggerieren, die von ihnen kritisierten Linken würden vorrangig „Chancengleichheit“ fordern oder herstellen wollen. Es geht um die Einbeziehung verschiedener Gruppen, entgegen einer arrogant-abgehobene Linke, denen die Autor*innen ebenfalls angehören – was sich zeigt, weil es ihnen stellenweise nicht gelingt, ihre akademische Prägung – die selbst ein exklusives Identitäts- und Zugehörigkeitsmerkmal darstellt – zu kaschieren (vgl. S. 31).
Dazu passt auch gut das Argument der „Gesamtscheisse“, die es zu überwinden gälte, statt sich angeblich „nur noch die Ausschlüsse bestimmter Gruppen aus der kapitalistischen Gesellschaft bekümmert“ (S. 23). Hier kommt der eigene privilegierte weiss-deutsch-akademische Standpunkt vollends durch, mit welchem auch angenommen wird, der „von selbstkritischen, rassismusbewussten weissen Menschen verlangte voluntaristische Rassenverrat verkennt die strukturelle Dimension des Rassismus und dessen koloniale Entstehung sowie dessen ökonomische Basis“ (S. 25).
Von den Autor*innen unverstanden bleibt, dass sich Menschen gegen den Kapitalismus betätigen, indem sie sich gegen „Ausschlüsse bestimmter Gruppen“ organisieren und engagieren. Ebenso wie der „Rassenverrat“ eben geradezu eine konsequente Schlussfolgerung aus der Einsicht in die strukturelle Dimension des Rassismus und koloniale Kontinuitäten ist. Wer sich hierbei immer des Gesamtscheisse-Arguments bedient bleibt – Adorno hin oder her – nichts weiter als ein verkappter Sozialdemokrat.
Damit komme ich auf den Beginn der Broschüre zurück, dem ich wie erwähnt absolut zustimme: „Ob es die Debatte um Anerkennungskämpfe und Identitätspolitik ist, ob es um ein intersektionales Politikverständnis, den Imperativ zur Selbstreflexion wie critical whiteness oder kritische Männlichkeit, Definitionsmacht, Bedürfnisorientierung oder kulturelle Aneignung geht – im Zentrum geht es dabei immer um die moralische Frage danach, ob wir als Linke auf der richtigen Seite stehen oder nicht.
Diese Auseinandersetzungen, die meist aus der Perspektive unhintergehbarer subjektiver Betroffenheit und eben nicht auf dem Hintergrund theoretisch fundierter Positionen geführt werden, werden oftmals nur unterschwellig statt im politischen Streit ausgetragen“ (S. 2). Meine Schlussfolgerung darauf ist allerdings insofern eine andere, als das ethische Anliegen die Ausgangspunkt, die Zielorientierung und damit auch Orientierung auf dem Weg zur Erkämpfung emanzipatorischer Bestrebungen bilden. Dies gilt es offengehalten, transparent und zugänglich zu verhandeln und zu benennen.
Selbstverständlich ist der Hypermoralismus in linken Gruppen zu kritisieren, der mit der repressiven Erzeugung von Scham und einem ekelhaften Rechtschaffenheitswettbewerb einhergeht. Mit diesem wird vermieden, sich jemals die Finger schmutzig zu machen und mit Leuten in Kontakt zu kommen, welche abweichenden ethischen Werten anhängen – was komplizierte Gesellschaftskritik zugunsten eines autoritären Gutmenschentums verhindert.
In diesem Sinne beende ich meinen Kommentar mit der gelungenen Aufforderung, welche die Autor*innen selbst aussprechen und wünsche ihnen spannende Streitgespräche: „Ausgehend von diesem Unbehagen müssen wir endlich unsere Sprachlosigkeit überwinden und unsere Handlungsunfähigkeit durchbrechen. Kommen wir endlich in den Streit, statt hinterrücks zu denunzieren und denunziert zu werden. Wir gehen mit dieser unmoralischen Streitschrift davon aus, dass wir an einem historischen Punkt angekommen sind, an dem in der radikalen Linken alles zur Disposition steht. Klar ist jedoch, dass eine Politik, die sich aus schlechtem Gewissen und der Kontrolle des eigenen Verhaltens sowie dem der anderen bestimmt, nicht der Dramatik der globalen Verhältnisse adäquat entgegentreten kann“ (S. 3).
P.S.: Ihr wollt euch nicht schlecht fühlen sollen. Das habe ich gehört ???? Wäre dennoch auch nett zu erwähnen, dass emanzipatorische Anliegen stets auch in den sie vorbringenden Subjekten selbst (widersprüchlich) wirksam werden sollten.
P.S.: Die Überschrift Der Egoismus der materialistisch-feministischen Post-Allzudeutschen habe ich gewählt, weil die entfalteten Narrative des anarchistischen Egoismus und der Allzudeutschen meiner Wahrnehmung nach im Wesentlichen von gekränkten Bürgerkindern vorgetragen werden – und sich dabei stark überschneiden. Der mit dem Zauberwort „materialistische“ Feminismus beinhaltet die in der Broschüre ausformulierte Kritik an Critical Whiteness und die Angst vor dem Verlust des Subjekts „Frau“. Auch „Post-Allzudeutsche“ scheint mir passend, insofern dies das Lager ist, in welchem ich den Text, aufgrund seiner Sprache und der Nachahmung des Standpunktes vermeintlich distanzierter Intellektueller, verorte. Dabei ist er dankenswerter Weise selbstkritisch in Hinblick auf zurecht als identitär benannte „bedingungslose Israelsolidarität“.
Kritik der Moral: Eine unmoralische Streitschrift