2013 ist im Unrast Verlag ein 80-seitiges Büchlein mit dem Titel „Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus“ erschienen. Der Autor Lucius Teidelbaum ist Historiker und freier Publizist, dessen Fachgebiet die extreme Rechte und Rechtspopulismus ist. Sein Buch soll dazu beitragen, dass Obdachlosenfeindlichkeit und dem zugrundeliegenden Sozialdarwinismus mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dazu beleuchtet er vor allem die rechte Gewalt gegen Obdachlose und erläutert in diesem Zusammenhang „wie Sozialdarwinismus funktioniert, wo er seine Wurzeln hat und welche Verbreitung er findet“ (S. 6).
Sozialdarwinismus als Grundlage für Obdachlosenhass
Zur Einführung gibt Teidelbaum einen Überblick über das Ausmass der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Deutschland. Er beleuchtet die verschiedenen Ursachen, reisst die finanzielle und gesundheitliche Situation von obdachlosen Menschen an und verweist auf die besondere Situation von Frauen und Mädchen in der Obdachlosigkeit, die aufgrund fehlender Rückzugs- und Schutzräume einem grösseren Risiko sexueller Gewalterfahrungen ausgesetzt sind.Teidelbaum zeigt nun den Zusammenhang zwischen Sozialdarwinismus und Obdachlosenfeindlichkeit auf. Unter Sozialdarwinismus wird die Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft beziehungsweise der vermeintlichen Nichtbeteiligung an geregelter Lohnarbeit verstanden. Damit basiert dieser auf dem Arbeitsethos und Leistungsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft. Als wichtigste Funktion des Sozialdarwinismus benennt der Autor die Transformation sozialer Ungleichheit in Ungleichwertigkeit. Durch die Bewertung von Menschen nach ihrer (wirtschaftlichen) Leistung und Leistungsfähigkeit wird soziale Ungleichheit naturalisiert, und die gesellschaftlichen Bedingungen werden verschleiert. So erscheinen beispielsweise Armut, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit nicht mehr als gesellschaftliche, sondern als individuelle und selbstverschuldete Probleme.
Sozialdarwinismus kann nun in latenter Form, als abwertende Einstellungen gegenüber ökonomisch Benachteiligten, oder in manifester Form, als verbale Beschimpfungen, körperliche Übergriffe oder institutionelle Benachteiligung, auftreten. Obdachlose Menschen sind dabei nur eine Opfergruppe. Ebenso davon betroffen sind unter anderem Menschen in Armut, Menschen mit Behinderung und arbeitslose Menschen. Der speziell gegen Obdachlose gerichtete Sozialdarwinismus kann als Obdachlosenfeindlichkeit, -abwertung oder -hass bezeichnet werden.
Verharmlosung und Entpolitisierung des Obdachslosenhasses
Nach einem aufschlussreichen Kapitel zur Geschichte der Obdachlosenfeindlichkeit, welches die Vagabund_innen-Bewegung in der Weimarer Republik und die Verfolgung von Obdachlosen als „Asoziale“ während des deutschen Faschismus beleuchtet und das Thema in der DDR zu erfassen versucht, erfolgt eine nähere Betrachtung des gegen Obdachlose gerichteten Sozialdarwinismus in der heutigen Zeit. Hier greift der Autor auf die gängige Unterscheidung zwischen struktureller und institutioneller Diskriminierung zurück. Neben dem strukturellen Sozialdarwinismus gegen Obdachlose legt Lucius Teidelbaum den Fokus vor allem auf die institutionelle Gewalt und Ausgrenzung durch Behörden wie Polizei, Arbeitsämter und Gerichte.Weitere Kapitel befassen sich mit der sozialdarwinistisch motivierten Gewalt gegen obdachlose Menschen, deren extremste Folge der Tod von Obdachlosen ist. Teidelbaum macht darauf aufmerksam, dass viele solcher Gewalttaten durch Polizei und Justiz entpolitisiert werden, indem der Obdachlosenhass verharmlost und durch andere Motive (wie Alkoholkonsum, Langeweile oder Aggressionen) verschleiert wird. Teils überschneiden sich bei gewalttätigen Übergriffen sozialdarwinistische Motive mit rassistischen, antiziganistischen, antisemitischen, homophoben sowie behindertenfeindlichen Motiven.
Der Autor verdeutlicht auch, dass Gewalt gegen Obdachlose häufig von Gruppen ausgeht und dabei der rechte Hintergrund der Täter oder ihrer Motive kaum wahrgenommen wird. In separaten Informationskästchen werden immer wieder Beispiele von Gewalttaten gegen Obdachlose geschildert, die den Lesenden einen Eindruck von den Taten, den Opfern, den Täter_innen und der Strafverfolgung vermitteln. Erschreckend ist dabei vor allem die Brutalität der sozialdarwinistisch motivierten Gewalttaten sowie das fehlende Unrechtsbewusstsein der Täter_innen auch nach Übergriffen. Viele der Täter_innen scheinen den Obdachlosen den Status eines vollwertigen Menschen abzusprechen.
Teidelbaum plädiert dafür, Obdachlose vor allem als Opfer rechter Gewalt in den Blick zu rücken, wobei diese aufgrund fehlender Rückzugsräume eine besondere Schutz- und Wehrlosigkeit aufweisen. Einer der wichtigsten Aspekte des Buches wird am Ende nochmals deutlich: Rechte Gewalt gegen Obdachlose muss als Spitze des gesellschaftlich weit verbreiteten Sozialdarwinismus gesehen werden. Das bedeutet auch, es bedürfte einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft, damit dem Sozialdarwinismus seine ökonomische Grundlage entzogen werden könnte. In einer immer stärker leistungsorientierten Gesellschaft scheinen wir davon jedoch weit entfernt.
Ein guter Einstieg
Lucius Teidelbaum hat mit seinem 80-seitigen Buch einen Spagat geschafft, der die wichtigsten Aspekte einer sozialdarwinistisch motivierten Obdachlosenfeindlichkeit beleuchtet, diese historisch einbettet, ihre heutige Ausprägung aufzeigt und notwendige Gegenmassnahmen benennt. Bedauerlich ist der stellenweise etwas belehrende Charakter. Wenn das Buch beispielsweise mit dem Satz „Obdachlose sind Menschen!“ (S. 8) beginnt, erscheint es den Lesenden, als unterstelle man ihnen mögliche menschenfeindliche Einstellungen. Dabei sollen sich die Bücher der Reihe „unrast transparent“ an wache, politisch denkende Lesende wenden. Freilich sind auch solche nicht frei von Vorurteilen, ein belehrender Ton erscheint hier aber überzogen.Den Begriff des Sozialdarwinismus mit dem der Obdachlosenfeindlichkeit zu verknüpfen, ist durchaus einleuchtend und gewinnbringend. Allerdings bleibt der Begriff des Sozialdarwinismus im Buch etwas unscharf. Einerseits wird er auf die „Abwertung von Transferleistungs-Empfänger_innen und soziale Randgruppen“ (S. 16) reduziert, andererseits wird er an anderen Stellen wieder in einem breiteren Verständnis verwendet. Vor allem überrascht, dass dem sozialdarwinistischen Prinzip des „Rechts des Stärkeren“ kaum Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Gerade bei sozialdarwinistisch motivierter Gewalt gegen Obdachlose dürfte dies eine Rolle spielen. Weitere Ungenauigkeiten betreffen die Trennschärfe von Sozialdarwinismus im Allgemeinen und speziell sozialdarwinistisch motiviertem Obdachlosenhass. Im Kapitel zur Geschichte der Obdachlosenfeindlichkeit und -verfolgung beispielsweise wird im Abschnitt zur DDR der Sozialdarwinismus im Allgemeinen behandelt. Der Lesende erfährt zwar noch, dass es in der DDR vermutlich keine Obdachlose gegeben hat, wartet aber vergeblich auf weitere Erläuterungen.
Stattdessen wird erklärt, welche Gruppen in der DDR von Ausgrenzung, Diskriminierung et cetera betroffen waren. Welche Rolle die kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) und die geringen Mieten in der DDR im Zusammenhang mit dem Nichtauftreten von Obdachlosigkeit spielten, wird leider nicht einmal angerissen. Solche Passagen erschweren es dem Lesenden stellenweise, dem roten Faden zu folgen.
Sozialdarwinismus ist nicht das einzige Motiv für Obdachlosenfeindlichkeit. Auf 80 Seiten ist allerdings kaum Platz, um zum Beispiel näher auf das romantisierende Obdachlosenbild als Projektionsfläche für den Unmut oder Frust über die eigene Unfreiheit einzugehen. Es ist also zu berücksichtigen, dass das Buch eben nur eine – vermutlich die bedeutendste – Ursache von Obdachlosenfeindlichkeit beleuchtet. Abgesehen von diesen Kritikpunkten führt das Buch kurz und informativ in die Thematik ein und ist ein wichtiger Beitrag, um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema Obdachlosenhass zu lenken. Wer sich noch wenig mit diesem Thema beschäftigt hat, findet mit diesem Büchlein eine lohnenswerte Einführung.