1964: Die King-Reden in Ost-Berlin
King befand sich im Vorfeld der Friedensnobelpreisverleihung 1964 in Europa, nur ein paar Tage in West-Berlin, später in München, dann in Rom. Trotz vorheriger Einladungen war sein Besuch in Ost-Berlin abenteuerlich. Als Feind des eigenen Landes betrachtet, wurde von den Berliner US-Behörden sein Reisepass eingezogen. Am Checkpoint Charlie sagte er, er habe seinen Pass „vergessen“ und zeigte seine Kreditkarte mit Foto vor, worauf ihn die DDR-Grenzer durchliessen. Die Predigt in der überfüllten Marienkirche war nur durch den US-Sender RIAS angekündigt worden, alles andere lief über Mund-zu-Mund-Propaganda. Spontan wurde am späten Abend noch eine zweite Rede in der nahe gelegenen Sophienkirche ermöglicht, die dann ebenfalls voll war (S. 57). Insgesamt hörten wohl ca. 3.000 Leute den beiden Reden zu.Im Band berichten Teilnehmer*innen von ihrem überwältigenden Eindruck, etwa Anneliese Vahl, später DDR-Biografin Kings: „Es war schwungvoll, es waren sehr viele junge Leute da. (…) Er hat ja über die Mauer gesprochen, über die man springen muss und ‚einen Stein der Hoffnung herausschlagen'. Das merkte man richtig, wie alle dankbar waren, dass es jemand auch so ausspricht.“ (S. 60) Die damals 21jährige Irmtraut Streit: „Dass so oft das Wort ‚Freiheit' in der Predigt fiel. Also ich dachte: ‚Er hat ja Mut, hier das jetzt so zu sagen.' Und es sollte uns auch Mut machen.“ (S. 59) Die King begleitende US-Gemeindehelferin Alcyone Scott: „Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Keiner hustete, niemand nieste. (…) Die Kirche war wahrscheinlich der einzige Ort, in dem er im Osten hatte sprechen und das sagen können.“ (S. 59)
Die Sprengkraft der offiziellen und oppositionellen King-Rezeption
Der Band dokumentiert manche, nur auf den ersten Blick überraschende Parallelen der DDR-Opposition zur US-Bürgerrechtsbewegung: Wie die afrikanischen Amerikaner*innen in den Südstaaten sich in den Kirchen Schwarzer versammelten, bevor sie ihre Märsche starteten, so versammelten sich die DDR-Oppositionellen 1989 in den evangelischen Kirchen, um von dort ihre Demos zu beginnen. Im Gegensatz zur West-Rezeption Kings, die zwar meist oppositionell war, dabei aber um 1968 minoritär, weil die APO eher gewaltsam denn gewaltfrei orientiert war, entfaltete sich in der DDR eine doppelte Sprengkraft der King-Rezeption: Es gab in der offiziellen, Lenins Gewalt propagierenden SED-Doktrin die Ambivalenz, Kings „sogenannten gewaltfreien Widerstand“ einerseits als „gesellschaftsgefährlich“ und als „Untergrundtätigkeit“ (S. 66) zu werten.Andererseits versuchte man, King nach seiner Kritik am Vietnamkrieg und seiner Solidarität mit den Müllarbeitern 1968 sogar als antiimperialistischen „Arbeiterführer“ (S. 93) systemkonform zu instrumentalisieren. Das wurde z.B. auch von Anneliese Vahl verlangt, was sie mutig verweigerte. Ikonographisch wurde King von der SED immer Angela Davis zur Seite gesetzt, die aber kurzzeitig Mitglied der bewaffneten Black Panther Party und langjähriges Mitglied der KP der USA war. Aufgrund dieser Ambivalenz der als subversiv interpretierten Gewaltfreiheit und der Instrumentalisierung als Anti-Imperialist fiel es der SED schwer, eine oppositionelle Lesart der Lehren Kings in kirchlichen Räumen zu unterbinden.
„Dann war mein Leben nicht umsonst!“ – der Ost-West-Schmuggel des Films
Das Buch informiert über eine Vielzahl von King-Rezeptionen, seien es DDR-Publikationen durch den Union-Verlag, seien es nach ihm benannte Kirchenräume und „Martin-Luther-King-Häuser“, seien es Gospel-Chöre und musikalische Bezüge zu Jazz und Blues oder bildende Kunstwerke bis hin zu Treffen der DDR-Bausoldaten, zum Christlichen Friedensseminar Königswalde (Verbreitung des Aufnähers „Schwerter zu Pflugscharen“) oder der DDR-Friedensbewegung der 1980er-Jahre. Besonders beeindruckt die Geschichte des Ost-West-Schmuggels einer Kopie des 16mm-Films „Dann war mein Leben nicht umsonst!“ (Ely Landau, 1970), den Ulli Thiel aus Karlsruhe zusammen mit Georg Meusel in Werdau durch den Verkauf von dessen DDR-Sammlerbriefmarken finanzierte. (S. 106) Er wurde ab 1987 in Kirchen 138mal gezeigt, erreichte ein Publikum von Zehntausenden und inspirierte direkt die gewaltfreien Aktionen von 1989.Im Buch findet sich sogar ein Foto vom Besuch Clayborne Carsons im Werdauer King-Zentrum 2004, als die GWR eine Lesetour seines Buches „Zeiten des Kampfes“ über die Geschichte des SNCC, die radikale studentische Basisorganisation direkter gewaltfreier Aktionsgruppen in den Sechzigerjahren, die angesichts Kings christlicher Organisation (SCLC) oft übersehen wird, organisiert hatte (S. 107). Carson, der Direktor des M.L. King Papers Projects, der Gesamtausgabe von Kings Reden und Schriften, erfuhr erst dort via mündlicher Erzählung durch Georg Meusel vom Besuch Kings 1964 in Ost-Berlin und dessen weitreichenden Folgen.