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Mathijs van der Sande: Prefigurative Democracy

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Mathijs van der Sande: Prefigurative Democracy Anarchist theory light

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Sachliteratur

In seinem fundierten akademischen Buch Prefigurative Democracy versucht sich Mathijs van der Sande meinem Verständnis nach in mehrfacher Hinsicht an einer anarchistischen Theorie „light“.

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Datum 24. Dezember 2024
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Erstens verwendet er – ausgehend von radikalen Demokratietheorien – einen breiten, offenen, inklusiven Politikbegiff, mit welchem die Politisierung weiter gesellschaftlicher Bereiche jenseits des Staates angestrebt wird. Zweitens bezieht sich der Autor auf anarchistische Stichwortgeber, verknüpft jene jedoch mit anderen Strängen von Linken rezipierter Theoretiker*innen, darunter insbesondere Hannah Arendt und Ernesto Laclau. Drittens versucht er damit eine Brücke zwischen anti-politischen Positionen und ausser-akademischen Beiträgen und einem emanzipatorischen politischen Projekt, sowie dessen akademischer Ausformulierung zu schlagen.

In Hinblick auf den ersten Punkt handelt es sich um die selten behandelte, aber naheliegende Leerstelle einer anarchistischen Interpretation radikaler Demokratietheorien – etwa entgegen ihrer sozialdemokratisch-populistischen Ausprägung, beispielsweise bei Chantal Mouffe. Diesen Versuch hat auch Markus Lundström in seinem Buch An Anarchist Critique of radical Democracy (2018) oder – in etwas anderer theoretischen Ausprägung, aber mit der selben Implikation – schon vorher Takis Fotopoulos in Towards an Inclusive Democracy. The crisis of the growth economy and the need for a new liberatory project (1997) gewagt.

Wie auch im Denken etwa von Simon Critchley, Miguel Abensour oder David Graeber bleibt die Grundannahme dabei meiner Annahme stets dieselbe: Die Demokratie beinhalte das Potenzial ihrer eigenen Überschreitung, welche konsequenterweise auf ein Jenseits des Staates verweise und somit könne das in inhärente Potenzial entdeckt und radikalisiert werden. Tatsächlich wird diese Herangehensweise auch von etlichen Anarchist*innen geteilt. Zugleich beinhaltet der Anarchismus noch einiges mehr und gibt es auch Stränge in ihm, welche sich explizit gegen diese Annahme wenden, sondern stattdessen darauf insistieren, dass Demokratie – schon angefangen bei der Wortbedeutung, aber auch in all ihren konkret ausgeprägten Mechanismen, Institutionen und Narrativen – Herrschaft war, ist und bleiben wird.

Daraus ergibt sich für die zweite, leichtere Herangehensweise an das Politikproblem, dass der „klassische“ Anarchismus etwa Bakunins oder Kropotkins insofern als „verkürzt“ angesehen wird, als dass er sich anti-politisch darstelle – und damit das Potenzial zeitgenössischer Bewegungen verkenne, wesentlich flexibler in-gegen-und-jenseits den herrschenden Verhältnissen und Institutionen agieren zu können. Es mag stimmen, dass es der klassische Anarchismus aufgrund seines teilweise teleologischen Fortschrittsverständnisses, seines anthropologischen Optimismus, seiner naturalisierten Grundannahmen und mehr zu dekonstruieren ist. Dies betrifft auch die in ihm vorhandene Verweigerung strategisch über die Organisierung von Gegen-Macht und die Konkretisierung der Utopie nachzudenken. Die damit verbundene skeptische Haltung in allen Ehren reicht es nicht aus, sich lediglich zu verweigern, sondern sollte es auch Anarchist*innen darum gehen, konkrete Alternativen vorstellbar zu machen.

Doch genau das tun sie auch in vielerlei Projekten und mit verschiedenen Aktionen. Grundlage dafür ist gerade die Verweigerung von herkömmlicher Politik statt ihre Erneuerung und Umformulierung als „linke“, „sozialistische“, „wahre“ etc. Politik. Einen emphatischen und philosophischen Politikbegriff zu verwenden und diesen mit abstrakter „Freiheit“ zu assoziieren, wie Arendt es tut, verbleibt letzten Endes meiner Ansicht nach in der Illusion der emanzipatorischen Handlungsfähigkeit in der politischen Sphäre, welche Bestandteil der Ideologie von Staatlichkeit ist. Mit anderen Worten halte ich nichts vom damit verbundenen Idealismus.

Zumindest, wenn man sozial-revolutionär denkt, scheint es mir weit sinnvoller zu sein, der unangenehmen Tatsache des politischen Herrschaftsverhältnisses Staat ins Auge zu schauen. Auch damit mag man sich in der praktischen Auseinandersetzung in Widersprüche begeben, geht an diese jedoch anders heran, als wenn man sich das Politikmachen schön redet.

Wie vergleichbare Arbeiten ist das Buch von Mathijs van der Sande der Versuch, tiefgründig und klug Schlussfolgerungen aus der vorhandenen „linken“ Theorieentwicklung zu ziehen und diese auch potenziell für Interessierte in sozialen Bewegungen fruchtbar zu machen. Solche Übersetzungstätigkeit zwischen verschiedenen Bereichen ist unheimlich wichtig und die Grundlage dafür, gesetzte Vorstellungen immer wieder neu durchdenken zu können.

Van der Sande kann man insofern den gleichen Pauschaulvorwurf machen, Wissen aus widerständigen und selbstorganisierten Zusammenhängen für den akademischen Betrieb nutzbar zu machen. Meiner Erfahrung nach liegt tatsächlich nicht hierin das entscheidende Problem, sondern darin, dass der akademische Diskurs so selbstreferentiell ist. Die darin im engeren und weiteren Umfeld Tätigen bemerken meiner Wahrnehmung nach nicht einmal, dass sie sich eines radical chic bedienen, anstatt wirkliche Unterstützung für aktive in sozialen Bewegungen zu bieten. Dies mag nicht speziell Mathijs van der Sande Beitrag betreffen, lässt sich anhand seines Buches aber paradigmatisch diskutieren.

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Mathijs van der Sande: Prefigurative Democracy. Edinburgh University Press 2022. 224 Seiten. ca. SFr. 148.00. ISBN: 978-1-4744-5185-7.