Max Stirner: schillernd und umstritten
Tatsächlich hatte zum Beispiel Kropotkin das „Werk Stirners“ zwar als „Revolte gegen den Staat und gegen die neue Tyrannei“ des „autoritären Kommunismus“ interpretiert, aber als eine, die aufgrund des von Stirner vertretenen „Individualismus“ notwendig zu einer aristokratischen Herrschaft einiger Weniger führen müsse (Kropotkin 1913, S. 71). Während Kropotkin damit in gewisser Weise an die Stirnerkritik von Marx/Engels in „Die deutsche Ideologie“ anknüpfte und deshalb auch nicht zufällig mit dem Marxisten Plechanow im Kampf gegen Stirner unausgesprochen „an einer Front“ kämpfte (Stulpe 2010, S. 435f), hat der Austromarxist Max Adler erklärt, dass Stirner „dem Denken und der Auffassung des modernen Sozialismus [gemeint ist: Marxismus; Anm. P.K.] weit näher“ stehe, „als irgend einer anderen revolutionären Richtung, speziell de[m] Anarchismus, für den er so oft fälschlich in Anspruch genommen wird“ (Adler 1906, S. 4f.).Schon diese wenigen Bemerkungen lassen erahnen, dass der „Fall Stirner“ eine durchaus komplexe Angelegenheit darstellt. Aber hatte er nicht selbst erklärt: „Macht damit [mit meinen Gedanken], was Ihr wollt und könnt, das ist eure Sache und kümmert Mich nicht.“ (S. 299)
Herrschaftskritische Ideologiekritik
Stirner, der im Kreis der JungehegelianerInnen verkehrte, intervenierte mit„Der Einzige und sein Eigentum“ in deren Debatten und verfolgte dabei vor allem das Ziel, den ungemein einflussreichen Feuerbach – aber auch Bauer, Hess, Marx, Proudhon – revolutionär-ideologiekritisch zu dekonstruieren. Gegen die siegesfrohe Hoffnung der (angeblichen) AtheistInnen erklärte er kurzerhand: „Das Heilige lässt sich keineswegs so leicht beseitigen, als gegenwärtig manche behaupten“ (S. 46), um hinzu zu setzen: „Unsere Atheisten sind fromme Leute.“ (S. 191)Denn der Glaube an den Menschen, der an die Stelle des Glaubens an Gott gesetzt werde, sei nichts anderes als ein neuer Glauben, ein neues normatives und abstraktes Ideal, dem sich der einzelne, konkrete Mensch zu unterwerfen habe: „Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was das Göttliche? Das Menschliche! So hat sich allerdings das Prädikat nur ins Subjekt verwandelt, und statt des Satzes ‚Gott ist die Liebe' heisst es ‚Die Liebe ist göttlich', statt ‚Gott ist Mensch geworden' –‚der Mensch ist Gott geworden' usw. Es ist eben nur eine neue – Religion.“ (S. 68) Und so wurden generell mit der Moderne „nur andere Begriffe aufs Tapet gebracht, nämlich statt der göttlichen menschliche, statt der kirchlichen staatliche, statt der gläubigen‚wissenschaftliche'“ (S. 105).
Die Herrschaft der Abstraktionen bilde dabei die Grundlage für die Herrschaft der jeweils Herrschenden, a.) indem sich diese dieser Abstraktionen zu bedienen wissen: „Hierarchisch sind Wir bis auf den heutigen Tag, unterdrückt von denen, welche sich auf Gedanken stützen.“ (S. 83) oder b.), indem ihnen die Herrschaft der Abstraktionen unbewusst zugute kommt: „Liegt eine Zeit in einem Irrtum befangen, so ziehen stets die einen Vorteil aus ihm, indes die andern den Schaden davon haben. Im Mittelalter war der Irrtum allgemein unter den Christen, dass die Kirche alle Gewalt oder die Oberherrlichkeit auf Erden haben müsse; die Hierarchen glaubten nicht weniger an dieser ‚Wahrheit' als die Laien, und beide waren in dem gleichen Irrtum festgebannt. Allein die Hierarchen hatten durch ihn den Vorteil der Gewalt, die Laien den Schaden der Untertänigkeit.“ (S. 122)
Das alles bedeutet nicht, dass Stirner davon ausgeht, dass Herrschaft keine materielle Dimension hätte und nur im Kopf existiere, wie dies Marx und Engels in ihrer Polemik unterstellten. „Die Macht der Worte folgt auf die der Dinge: erst wird man durch die Rute bezwungen, hernach durch Überzeugung.“ (S. 350) Worum es geht, ist die ideologietheoretische Frage ins Zentrum zu rücken, wie Menschen überhaupt zur Empörung gebracht werden können, bzw. wann und warum sich diese empören. Stirner beschreibt die grundsätzliche Problematik wie folgt:
„in der Furcht bleibt immer noch der Versuch, sich vom Gefürchteten zu befreien durch List, Betrug, Pfiffe usw. Dagegen ist's in der Ehrfurcht ganz anders. Hier wird nicht bloss gefürchtet, sondern auch geehrt: das Gefürchtete ist zu einer innerlichen Macht geworden, der Ich Mich nicht mehr entziehen kann; Ich ehre dasselbe, bin davon eingenommen, ihm zugetan und angehörig: durch die Ehre, welche Ich ihm zolle, bin Ich vollständig in seiner Gewalt, und versuche die Befreiung nicht einmal mehr. Nun hänge ich mit der ganzen Kraft des Glaubens daran, Ich glaube.“ (S. 81f)
Mit anderen Worten: „Vor dem Heiligen verliert man alles Machtgefühl und allen Mut: man verhält sich gegen dasselbe ohnmächtig und demütig. Und doch ist kein Ding durch sich heilig, sondern durch Meine Heiligsprechung, durch Meinen Spruch, Mein Urteil, Mein Kniebeugen, kurz durch Mein – Gewissen.“ (S. 81) Folgerichtig hat der Kampf um Befreiung immer eine ideologiekritische Dimension zu seiner Voraussetzung:
„Nur die Scheu des Zugreifens und die entsprechende Bestrafung desselben macht ihn zum Pöbel. Nur dass das Zugreifen Sünde, Verbrechen ist, nur diese Satzung schafft einen Pöbel, und dass dieser bleibt, was er ist, daran ist sowohl er schuld, weil er jene Satzung gelten lässt, als besonders diejenigen, welche ‚selbstsüchtig' (...) fordern, dass sie respektiert werde. Kurz der Mangel an Bewusstsein über jene ‚neue Weisheit', das alte Sündenbewusstsein, trägt allein die Schuld. Gelangen die Menschen dahin, dass sie den Respekt vor dem Eigentum verlieren, so wird jeder Eigentum haben (…). Nur aus dem Egoismus kann dem Pöbel Hilfe werden, und diese Hilfe muss er sich selbst leisten und – wird sie sich leisten. Lässt er sich nicht zur Furcht zwingen, so ist er eine Macht.“ (S. 262f)
In diesem Zusammenhang heisst es auch: „Die Arbeiter haben die ungeheuerste Macht in den Händen, und wenn sie ihrer einmal recht inne würden und sie gebrauchten, so widerstände ihnen nichts: sie dürften nur die Arbeit einstellen und das Gearbeitete als das Ihrige ansehen und geniessen. Dies ist der Sinn der hie und da auftauchenden Arbeiterunruhen.“ (S. 124) Siegfried Nacht (alias Arnold Roller) zählte deshalb Stirner in seiner Schrift „Der soziale Generalstreik“ (1905) zu den Vorläufern der Generalstreikidee (Roller 1905, S. 104).
Stirners Perspektive ist eine grundsätzlich herrschaftskritische: „Bis auf den heutigen Tag ist das Revolutionsprinzip dabei geblieben, nur gegen dieses und jenes Bestehende anzukämpfen, d.h. reformatorisch zu sein. So viel auch verbessert, so stark auch der ‚besonnene Fortschritt' eingehalten werden mag: immer wird nur ein neuer Herr an die Stelle des alten gesetzt, und der Umsturz ist ein – Aufbau. Es bleibt bei dem Unterschiede des jungen von dem alten Philister.“ (S. 119) Und im Gegensatz zu dem mit Stirner oftmals in einem Zusammenhang genannte Nietzsche, der „Emanzipation und Autonomie“ wollte, „nicht aber für alle“ (Wallat 2009, S. 256) ist Stirners Ausrichtung universalistisch: „werde jeder von euch ein allmächtiges Ich“ (S. 172).
Eine „Ästhetik der Existenz“ (Foucault)
Grundsätzlich hält er fest, dass „eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben“ (S. 215). Es gehe deshalb darum „sich auszuarbeiten und zu gestalten“ (S. 140) – gegen die „Gefängnisse der Gewissenhaftigkeit“ (S. 305). Und weil die Befreiung von der Selbstermächtigung der Einzelnen ausgehen muss, kann auch keine Partei und kein Staat das Geschäft der Emanzipation übernehmen.Michel Foucault, der in frühen Jahren über Stirner gelehrt hatte, erklärte gegen Ende seines Lebens:
„Ich war immer etwas misstrauisch in Bezug auf das allgemeine Thema der Befreiung (...). Ich will nicht sagen, dass es die Befreiung (...) nicht gibt: Wenn ein kolonialisiertes Volk sich von seinen Kolonialherren befreien will, dann ist dies gewiss im strengen Sinne eine Befreiungspraxis. Aber in diesem übrigens sehr präzisen Falle weiss man sehr genau, dass diese Praxis der Befreiung nicht ausreicht, um die Praktiken der Freiheit zu definieren, die in der Folge nötig sind, damit dieses Volk, diese Gesellschaft und diese Individuen für sich annehmbare und akzeptable Formen ihrer Existenz oder der politische Gemeinschaft definieren können. Deshalb insistiere ich mehr auf den Praktiken der Freiheit als auf den Prozessen der Befreiung, die, um es noch einmal zu sagen, ihren Stellenwert haben, mir aber aus sich selbst heraus nicht in der Lage zu sein scheinen, alle praktischen Formen der Freiheit zu bestimmen.“ (Foucault 1984, S. 876f)
Stirner hätte dem wohl zugestimmt, hatte er doch selbst betont: „Eine Revolution führt gewiss das Ende nicht herbei, wenn nicht vorher eine Empörung vollbracht ist!“ (S. 321) Denn: „Die Revolution zielte auf neue Einrichtungen, die Empörung führt dahin, Uns nicht mehr einrichten zu lassen, sondern Uns selbst einzurichten, und setzt auf ‚Institutionen' keine glänzende Hoffnung.“ (S.319) Oder, um wieder Foucault zu bemühen: „Die Freiheit der Menschen wird nie von Institutionen oder Gesetzen garantiert, deren Aufgabe es ist, Freiheit zu garantieren. Deshalb kann man die meisten dieser Gesetze und Institutionen drehen und wenden. Nicht weil sie mehrdeutig wären, sondern weil man ‚Freiheit' nur ausüben kann.“ (Foucault 1982, S. 330)
Nettlau betonte zu Recht:
„Mit einem Wort, er [Stirner] sah, was erforderlich war und ist, wirkliche Anarchisten zu machen oder vielmehr, jeden einzelnen freiheitlich handeln zu lassen, und er erklärte dies; er übersah keine der Schwierigkeiten der Losreissung der Geister aus der autoritären Mentalität. Es wäre leicht gewesen, diese Schwierigkeiten zu ignorieren und eine optimistische antistaatliche Propagandaschrift zu schreiben. Stirner wies, wie noch keiner vor ihm und gewiss wenige nach ihm, auf die an den Revolutionär durch seine Aufgabe gestellten Anforderungen hin und warnte vor den autoritären Gefahren.“ (Nettlau 1925, S. 173)
Zur Studienausgabe
„Der Einzige und sein Eigentum“ ist ein schwieriges, aber ungemein anregendes Buch, wenn man sich nicht von der Wortwahl und dem manchmal etwas sehr überreizten Gestus Stirners abschrecken lässt. Man sollte sich Zeit nehmen, um verstehen zu versuchen, was diesen „Einzigen“ ritt, als er sich zur Niederschrift entschloss. Und so ist es begrüssenswert, dass dank des Karl Alber Verlags nun – neben der Reclam-Ausgabe – eine ausführlich kommentierte Studienausgabe von „Der Einzige und sein Eigentum“ vorliegt. Bisweilen hätte der Stellenkommentar des ausgewiesenen Stirner-Kenners und Herausgebers Bernd Kast etwas ausführlicher ausfallen können. Und es bleibt zu fragen, ob man bestimmte Lesarten eines solchermassen komplexen Textes tatsächlich einfach als „ausrottbare Missverständnisse“ (S.370) widerlegen kann, wie es der Herausgeber im Nachwort versucht – wenngleich ich Kasts Interpretation weitgehend teile.Stirners Replik auf die ersten Kritiker
Besonders erfreulich und hervorzuheben ist es, dass dieser Ausgabe die wichtige Replik Stirners (Rezensenten Stirners, S. 405-446) auf seine ersten Kritiker (Hess, Szeliga, Feuerbach) beigefügt wurde. Denn so ganz egal war die Lesart, der man seine Schriften unterzog, Stirner dann doch nicht. Und so stellt er hier manches noch einmal klar, zum Beispiel:„Der Egoismus (…) ist kein Gegensatz zur Liebe, kein Gegensatz zum Denken, kein Feind eines süssen Liebeslebens, kein Feind der Hingebung und Aufopferung, kein Feind der innigsten Herzlichkeit, aber auch kein Feind der Kritik, kein Feind des Sozialismus, kurz, kein Feind eines wirklichen Interesses: er schliesst kein Interesse aus. Nur gegen die Uninteressiertheit und das Uninteressante ist er gerichtet: nicht gegen die Liebe, sondern gegen die heilige Liebe, nicht gegen das Denken, sondern gegen das heilige Denken, nicht gegen die Sozialisten, sondern gegen die heiligen Sozialisten usw. Die ‚Ausschliesslichkeit' des Egoisten, die man für ‚Isoliertheit, Vereinzelung, Vereinsamung' ausgeben möchte, ist im Gegenteil volle Beteiligung am Interessanten durch – Ausschliessung des Uninteressanten.“ (S.429)
Und nebenbei wendet er gegen den Vorwurf von Moses Hess, der die klassisch marxistische Stigmatisierung Stirners als „Bürgerlichen“ vorwegnahm, ein, dass ihm, Stirner, „die bürgerliche Gesellschaft ganz und gar nicht am Herzen“ liege (S. 442). Schon in „Der Einzige und sein Eigentum“ hatte er ja erklärt: „Es ist (…) immer fördersam, dass Wir Uns über die menschlichen Arbeiten einigen, damit sie nicht, wie unter der Konkurrenz, alle unsere Zeit und Mühe in Anspruch nehmen. Insoweit wird der Kommunismus seine Früchte tragen.“ (S.272)