Die sogenannte Remilitarisierung der deutschen Aussenpolitik seit 1989/91 gliedern Ruf et al. grob in drei Phasen, die historisch fliessend ineinander übergegangen sind, aufeinander aufbauen und peu à peu zur „Wiedererlangung der vollen Souveränität“ (S. 7) der BRD als bürgerlicher Nationalstaat führten. Dieser vom ehemaligen Bundesverteidigungsminister Volker Rühe (CDU) als „Salamitaktik“ (S. 54) charakterisierte Prozess begann Anfang der 1990er Jahre mit den ersten Auslandseinsätzen deutscher Soldaten nach 1945 in Kambodscha 1991 und 1993 in Somalia noch unter „humanitären“ Vorzeichen. Die zweite Phase des Prozesses begann Mitte der 1990er Jahre. Zwischen 1994 und 2001 zeichnete sich die deutsche Aussen- und Sicherheitspolitik vor allem durch die allmähliche Ausweitung der Auslandseinsätze deutscher SoldatInnen im Rahmen von sogenannten Systemen kollektiver Sicherheit aus, zu denen neben der UNO vor allem die NATO und die EU zählen. In diese Periode fällt die womöglich grösste „Zäsur“ (S. 78), die dem Prozess der Wiederbewaffnung der deutschen Aussenpolitik und ihrer Exterritorialisierung auf das Gebiet von Staaten ausserhalb der Grenzen westlicher Bündnisse explosionsartig beschleunigt hat: der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999. Dieser NATO-Krieg, für dessen Rechtfertigung die damaligen Regierungsparteien SPD und Bündnis '90/Die Grünen sogar die Erinnerung an den Holocaust instrumentalisierten, war der Dammbruch. Seitdem „sind Auslandsmissionen für deutsche Soldaten zur Normalität geworden“ (S. 106). Mit dem Afghanistankrieg 2001 läutete ebenfalls Rot-Grün die dritte Phase der Remilitarisierung der deutschen Politik im Ausland ein, die bis zum Ende des Untersuchungszeitraums 2010 reicht. Ihr zentrales Merkmal ist die Ausweitung und Zunahme der deutschen Auslandseinsätze der Bundeswehr unter dem Dach der EU und der Aufbau, die Erprobung und Konsolidierung eines militärischen Arms der EU unter deutsch-französischer Führung.
Legal, illegal, scheissegal?! Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994
Eine Neujustierung des politisch-rechtlichen Rahmens für die bewaffnete Aussenpolitik der BRD mit historischer Tragweite wurde Mitte der 1990er Jahre vorgenommen. Bis 1994 existierte keine „klare rechtliche Grundlage für Auslandseinsätze der Bundeswehr“ (S. 49). Das Grundgesetz erlaubt bis heute Kriege nur zur „Verteidigung“ bei einem Angriff auf die BRD. Der 2+4-Vertrag vom 12. September 1990 verpflichtet die BRD ebenfalls dazu, „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“ (S. 15f). Selbst Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) erklärte noch bezüglich einer Beteiligung der Bundeswehr am Krieg gegen den Irak 1991, dass eine Entsendung deutscher Truppen in Gebiete ausserhalb des NATO-Territoriums „auf der Basis des Grundgesetzes nicht möglich sei“ (S. 49). Jedoch hinderte auch diese Position die damalige schwarz-gelbe Koalition nicht daran, trotz dieser Auffassung wiederholt SoldatInnen in sogenannte out-of-area-Einsätze zu schicken, die de facto gesetzeswidrig waren.Mit der richtungsweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 12. Juli 1994 änderten sich die Interpretation des damals geltenden Rechts und damit auch die entsprechende Rechtsgrundlage vollständig. Der von einer breiten parteipolitischen Mehrheit aus SPD, FDP und Grünen angestrengte höchstrichterliche Beschluss bildet bis heute die juristische Basis für die Auslandseinsätze der Bundeswehr. Der Verweis auf das Urteil findet sich in nahezu allen Strategiepapieren der Bundesregierungen von Kohl bis Merkel. Das BVerfG entschied, „dass friedenssichernde Missionen der Bundeswehr im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit verfassungskonform seien“ (S. 49). Folgt man der Interpretation der AutorInnen der Studie, basierte dieses Urteil vor allem auf einer neuen Interpretation des Begriffs des „System kollektiver Sicherheit“. Unter einem System kollektiver Sicherheit wurde traditionell ein System gegenseitiger Garantien zwischen Nationalstaaten zur Wahrung der territorialen Integrität aller Mitglieder verstanden. „In einem solchen System gilt ein Angriff auf ein Mitglied als ein Angriff auf alle Mitglieder.“ (S. 50). Die UNO ist ein klassisches Beispiel für ein System kollektiver Sicherheit. Bei einem System kollektiver Verteidigung hingegen, wie es zum Beispiel die NATO und – seit der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon – die EU sind, handelt es sich um ein System, das „Beistandsverpflichtungen unter den Vertragspartnern auf einen Angriff von ausserhalb des Systems bezieht“ (ebd.). Das BVerfG sah 1994 keinen wesentlichen Unterschied zwischen beiden Systemen, folgte damit der damals dominierenden Auffassung im politischen Establishment und ebnete mit dem Urteil den Weg für die legale Verschickung deutscher Truppen in alle Welt zur Verteidigung eines Systems kollektiver Sicherheit. Ausschliesslich deutsche Militärinterventionen in einem anderen Staat sind dadurch zwar illegal. Angesichts der heutigen Kriegsführung und militärischen Kapazitäten wäre die BRD dazu allerdings auch nur sehr eingeschränkt in der Lage. Politisch wird dies ohnehin bis dato nicht gewollt. Holiday in Yugoslavia, Libanon, Congo, Somalia, Afghanistan...
Neben der historischen Untersuchung der deutschen Bündnispolitik und der Anpassung der politisch-rechtlichen Grundlagen an die Erfordernisse von Auslandseinsätzen widmen sich die AutorInnen der Studie auch der konkreten Analyse einzelner Militäroperationen. Die fünf Einsätze, die genauer unter die Lupe genommen werden, sind mit Bedacht ausgewählt worden, weil sie bestimmte Entwicklungsschritte auf dem Weg zur vollen aussenpolitischen Souveränität markieren, auch wenn ihre Relevanz nur partiell auf den ersten Blick ersichtlich ist. Während die Berücksichtigung des Kosovokriegs gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 und des Afghanistankriegs seit 2001 sofort einleuchtet, müssen der dreimonatige Kurzeinsatz der EU im Kongo 2006 (EUFOR RD Congo), die seit mehreren Jahren andauernde UNIFIL-II-Mission im Libanon sowie die vermeintliche Anti-Piraterie-Mission der EU vor dem Horn von Afrika (EU NAVFOR ATALANTA) genauer betrachtet werden. Die AutorInnen können aber zumindest für die Operationen im Kongo und im Libanon plausible und spezifische Gründe für die Entsendung der Bundeswehr anführen.
Beim Kosovokrieg handelte es sich um den ersten völkerrechtswidrigen (Angriffs)Krieg der NATO ausserhalb ihres Bündnisgebiets ohne ein UN-Mandat, mit dem die transatlantische Organisation seine damals neue strategische Doktrin aus dem Jahre 1999 erkennbar für alle Welt in die Praxis überführte und mit dem in Deutschland die rot-grüne Bundesregierung unter SPD-Kanzler Schröder und Aussenminister Joseph Fischer endgültig das Eis für deutsche Kriege im Ausland brach.
Der Afghanistankrieg ist nicht nur der längste und umfassendste Krieg, den die Bundesrepublik Deutschland und die NATO in ihrer Geschichte bislang geführt haben. Er ist auch „der Prüfstand“ für die in den entscheidenden wesentlichen Strategiepapieren der Bundesregierung Mitte des Jahrzehnts entwickelten
„neuen Aufgaben der Bundeswehr. Sie umfassen nahezu alle denkbaren Formen militärischer Beteiligung an Auslandseinsätzen. Die Bundeswehr kämpft und sichert, sie bildet aus, und baut auf (soweit dies möglich ist), sie setzt Spezialeinheiten ein und versucht sich in zivil-militärischer Kooperation. Der Afghanistan-Einsatz und die aus ihm zu ziehenden Lehren sind von herausragender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Aussenpolitik mit militärischen Mitteln.“ (S. 158f)
Der Einsatz am Hindukusch ist also ein Lackmustest für die militärischen Fähigkeiten des neuen deutschen Imperialismus.
Die militärische Stippvisite in der afrikanischen Republik Kongo 2006 sollte vor allem für zwei Entwicklungen bahnbrechend wirken, die einen längeren Vorlauf hatten. Zum einen machte die EU damit deutlich, dass sie unabhängig von den USA beziehungsweise der NATO selbständig Militär in entlegene Teile der Erde entsenden kann und dass die dafür vorgesehenen schnellen Eingreiftrupps – die sogenannten EU-Battlegroups – funktionsfähig waren. Zum anderen zeigte der Einsatz, dass nicht nur die ehemaligen europäischen Kolonialmächte wie Frankreich und Belgien Anspruch auf Afrika erhoben, sondern die EU insgesamt Ansprüche geltend machen kann und auch dazu in der Lage ist, diese mit Waffengewalt durchzusetzen.
Der Einsatz der deutschen Marine seit 2006 unter dem UNIFIL II-Mandat vor der libanesischen Küste war für die herrschende Klasse der Bundesrepublik ein Meilenstein, weil sie seitdem auch in die Region der Erde Truppen schicken kann, die bis dahin für deutsche Soldaten tabu war: in die direkte Nachbarschaft zu Israel in den geostrategisch, machtpolitisch und ökonomisch gewichtigen Nahen Osten. „Mit dieser Entscheidung wurde die Frage nach etwaigen geografischen Einsatzbeschränkungen der Bundeswehr gleichsam abschliessend beantwortet: Es gibt keine.“ (S. 127)
Die Bedeutung und Begründung des ATALANTA-Einsatzes vor dem Horn von Afrika wird von den AutorInnen allerdings überschätzt. Für sie handelt es sich um einen „Paradigmenwechsel“, weil im Gegensatz zum „Grossteil der deutschen Auslandseinsätze seit 1990“, der „gar nicht oder nur schwer in einen direkten Bezug zu Massnahmen gebracht werden konnte, die sich der Sicherung von Rohstoffen und Handelswegen verschrieben haben“, „nun wirtschaftliche Interessen im Vordergrund“ (S. 147) stünden. Die ökonomischen Beweggründe für die Militäroperationen vor der Küste Somalias sind unbestreitbar. Nicht umsonst tummeln sich an der „Schlagader des maritimen Handelsverkehrs“ (S. 138) Militärschiffe zahlreicher globaler Führungs- und Mittelmächte. Die Marineeinheiten der EU, Chinas und Russlands patrouillieren dort neben zum Beispiel indischen, südkoreanischen, japanischen und iranischen. Dass es sich aber um einen Bruch mit der vorherigen Sicherheitspolitik handelt, weil mit dem ATALANTA-Einsatz offen ökonomische Interessen verfolgt werden, steht nicht nur im Widerspruch zu allen Strategiepapieren der Bundesregierung seit 1992 und zu den Aussagen führender Politiker der grün-rot-schwarz-gelben Einheitsfront im deutschen Bundestag. Auch die zahlreichen Analysen des Afghanistaneinsatzes aus den Reihen der Friedens- und Antikriegsbewegung sowie der KriegsbefürworterInnen legen eine andere Interpretation nahe. Die Besonderheit ATALANTAs liegt vielmehr darin, dass die VertreterInnen rivalisierender Kapitalismen vor der afrikanischen Ostküste mit militärischen Mitteln Weltinnenpolitik betreiben, und darin, dass die BRD sich daran beteiligt.
Unausweichliche Debatten
Anlass für unausweichliche Debatten innerhalb der Friedens- und Antikriegsbewegung bieten einige „friedenspolitische Empfehlungen“ (S. 185ff), mit denen die VerfasserInnen ihre Studie abschliessen. Dort befürworten sie zum Beispiel die „Stärkung“ der UNO, unter anderem durch die Rückkehr zum „bewährten“ Blauhelm-Peacekeeping nach Kapitel VI der UN-Charta und durch „eine Erhöhung des deutschen Beitrags zu Friedensmissionen der Vereinten Nationen“ (S. 188). Ganz davon abgesehen ob es jemals funktionierende oder reine friedenserhaltende Massnahmen unter dem Dach der UNO gegeben hat oder nicht, widerspricht diese positive Bewertung der UNO und des Völkerrechts den von den AutorInnen im Laufe der Studie angeführten Fakten zur Entwicklung der Weltorganisation. Diese hat sich ihnen zufolge „zu einer Art Selbstbedienungs-Institution für Mandatsvergabe entwickelt“ (S. 26). Noch nie zuvor sind so viele Militäroperationen von der UNO legitimiert worden wie in den knapp mehr als zwei Dekaden nach dem Ende des „Kalten Kriegs“. Aber nicht nur das. Auch jüngere Studien wie etwa die der Informationsstelle Militarisierung (IMI) dokumentieren eine rasante Militarisierung der UNO. Zudem ist es zum Teil unmöglich geworden, zwischen Kapitel VI- und Kapitel VII-Einsätzen zu unterscheiden. Der ISAF-Einsatz in Afghanistan, das geht aus der vorliegenden Studie hervor, ist dafür ein anschauliches Beispiel. Ebenso konstatieren die AutorInnen auch die Wiederbelebung der „humanitären Intervention“, das heisst der humanitär gerechtfertigten Kriegseinsätze, unter dem Dach der UNO und unter dem Schlagwort der „Responsibility to Protect (R2P)“ (S. 47). Letztlich sind „friedliche“ Kapitel VI-Einsätze keineswegs an sich sinnvolle Instrumente, sondern ebenfalls ein Weg, imperialistische Politik mit sanfteren Mitteln zu betreiben. Aus allen diesen Entwicklungen ziehen die VerfasserInnen leider keine Konsequenzen für ihre politischen Handlungsanweisungen und für ihre Bewertung der UNO, obwohl es eigentlich an der Zeit ist anzuerkennen, dass die UNO keineswegs mehr ein Hemmschuh, sondern die zentrale Legitimationsinstanz für neoimperialistische Militäreinsätze – von der Ausbildung bis zur Besatzung – geworden ist. Die gegenwärtigen Positionen zur UNO und zum Völkerrecht müssen dringend vor dem Hintergrund der internationalen politisch-ökonomischen Konstellation nach 1989/91 neu analysiert und beurteilt werden.Trotz einiger kritikabelen politischen Ratschläge ist die Studie für EinsteigerInnen eine hervorragende und empfehlenswerte Einführungslektüre, die eine Menge unerlässliches Basiswissen vermittelt. Fortgeschrittenen kann sie dazu dienen, ihre Argumentationen zu schärfen und einzelne Aspekte zu vertiefen. Für ExpertInnen ist sie eine geeignete Diskussionsgrundlage, um vortrefflich untereinander und gegen den neuen Imperialismus der BRD zu streiten.