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Michael Bröning: Flucht, Migration und die Linke in Europa

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Michael Bröning: Flucht, Migration und die Linke in Europa Die neue Gretchenfrage?

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Sachliteratur

Nicht nur in Deutschland eine Debatte: Wie halten es die Sozialdemokrat*innen in Europa eigentlich mit der Migration?

Flüchtlinge in Dobova, Slowenien, auf ihrem Weg nach Westeuropa, Oktober 2015.
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Flüchtlinge in Dobova, Slowenien, auf ihrem Weg nach Westeuropa, Oktober 2015. Foto: Meabh Smith - Trócaire (CC BY 2.0 cropped)

Datum 22. Mai 2018
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Mitte Februar liess eine Nachricht aufhorchen: Mette Frederiksen, Vorsitzende der dänischen sozialdemokratischen Partei, schlug vor, man solle in dem skandinavischen Land das Asylrecht abschaffen. Eine Idee, deren Umsetzung keineswegs unrealistisch erscheint – ob nun durch die derzeit noch regierende liberal-rechte Regierung oder die Sozialdemokraten, denen gute Chancen vorausgesagt werden, 2019 wieder an die Macht zu kommen.

Ist so etwas noch sozialdemokratische oder gar linke Politik? Und wenn nicht, was dann? Die Herausgeber und Autoren des Buches „Flucht, Migration und die Linke in Europa“ stellen diese Frage. Der Umgang der „linken Mitte“ mit Einwanderung sei die Gretchenfrage der Gegenwart. „Bekenntnisse zu gesellschaftlicher Offenheit beziehungsweise Forderungen nach einer stärkeren Regulierung und Reduzierung von Migration“ würden heute als „ideologisch richtungsweisende Grundsatzentscheidung wahrgenommen“ (S. 9), schreiben Michael Bröning und Christoph P. Mohr, die beide für die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung tätig sind.

Migration als Klassenfrage? Fehlanzeige!

Und sicher: Migration ist eines der bedeutendsten Themen der Gegenwart. Doch dass bereits in der Einleitung des Sammelbandes behauptet wird, die Frage nach dem Umgang damit habe jene nach dem Eigentum an den Produktionsmitteln verdrängt, zeigt ein grundsätzliches Problem. Es ist dasselbe, das auch sozialdemokratische Parteien haben: Die Aufgabe von Klassenpolitik und die Eigenverantwortung an der Verarmung von Teilen der westlichen Gesellschaften werden bei der Selbstbefragung danach, was Gründe für die Krise des eigenen Lagers sein könnten, weitgehend ausgeblendet.

So wird schon in der Einleitung des Buches eine Gegensätzlichkeit aufgemacht zwischen sozioökonomischen Fragen, dem klassischen Terrain der Arbeiterparteien, auf der einen und soziokulturellen, „identitätspolitischen“ Fragen auf der anderen Seite. Als Reaktion auf den „strategischen Kurswechsel europäischer Mitte-Links-Parteien Ende der 1990er Jahre“ und die damit einhergehenden „programmatischen Verschiebungen in soziökonomischen Fragen“ seien diese durch „zunehmend progressivere Positionen in soziokulturellen Fragen ergänzt und kompensiert worden“ (S. 2f.). Migration wiederum wird in diesem Schema den kulturellen und nicht den ökonomischen Fragen zugeschlagen. Warum, bleibt offen. Da kaum einer der Autor*innen über ökonomische Kämpfe, Besitzverhältnisse, Verteilungsfragen, kurz, die Klassengesellschaft reden möchte, umkreisen sie das Thema, ohne je zum eigentlich Kern vorzustossen. Denn um zu diesem zu gelangen, müsste man bereit sein, Migration als Klassenfrage zu betrachten.

Die genannte Schwäche bedeutet jedoch nicht, dass sich in dem Buch nicht Aufschlussreiches finden liesse; als Bestandsaufnahme dient der Sammelband allemal. Erstens zum Stand sozialdemokratischer Einwanderungspolitik in Europa. Zweitens zum Stand jener linken Strategiedebatte, die sich um die Fragen dreht: Wieso sprechen Mitte-Links-Parteien die Arbeiter*innen nicht mehr an, weshalb wenden sich viele von ihnen den Rechten zu? Welche Milieus können linke Parteien wie ansprechen, welche müssen sie erreichen? Wie fragmentiert ist der Streit um die Haltung zur Migration die Linken in Europa, was macht das mit ihnen?

„Kommunitarismus versus Kosmopolitismus?“

Zunächst widmen sich die Autor*innen zwölf Länderfallstudien von Schweden bis Italien, von Grossbritannien bis Ungarn. Das dabei entstehende Bild konterkariert allerdings – um es mal vorsichtig auszudrücken – die in der Einleitung aufgestellte Behauptung, mit der Neoliberalisierung der Sozialdemokratien sei eine progressivere Haltung in Sachen Migration einhergegangen. Man denke an den im Dezember 1992 geschlossenen „Asylkompromiss“, der von CDU und SPD durchgesetzt wurde und das Asylrecht massiv einschränkte. Auch die seit 2015 von der Bundesregierung durchgebrachten Asylrechtsverschärfungen wurden von den Sozialdemokrat*innen mitgetragen.

Im zweiten Abschnitt des Buches finden sich einordnende, breiter angelegte Beiträge. In einem Aufsatz macht der Heidelberger Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel eine neue Konfliktlinie zwischen „Kommunitarismus und Kosmopolitismus“ aus. Letzterer stünde für ein Milieu, das für „offene Grenzen“ sei, sich positiv auf supranationale Instanzen wie die EU bezöge, Multikulti gutheisse sowie beruflich und räumlich mobil sei. Alles in allem also: die „Gewinner der Globalisierung“ (S. 301). Kommunitarist*innen hingegen zeichneten sich durch die „jeweiligen Gegenpole zu den kosmopolitischen Charakteristika“ (ebd.) aus. Und wegen dieser „neuen Konfliktlinie“ gerieten, so Merkel, besonders in Westeuropa die Volksparteien – insbesondere die Sozialdemokratien – unter Druck.

Ins gleiche Horn bläst der slowakische Philosoph und Parlamentsabgeordnete Lubos Blaha, der der Fraktion der regierenden – einwanderungskritischen – sozialdemokratischen Partei Smer-SD angehört, die in seinen Worten kommunitaristisch geprägt sei, wie der Grossteil der Linken in Ostmitteleuropa. Blaha geht noch einen Schritt weiter als Merkel: Der „liberale Kosmopolitismus“ sei ein „gefährliches Konzept“, weil er allein dem „transnationalen Kapital“ nütze, das die sozialen Schutzmassnahmen der Nationalstaaten loswerden wolle. Die Kosmopolit*innen würden nur noch „eine gebildete, einigermassen betuchte, globalisierte und mobile Mittelschicht“ ansprechen, der es um ihren Lebensstil und die Anerkennung von Minderheiten gehe, also um „postmaterialistische“ Themen (S. 250). Sie scherten sich nicht um Armut oder die Ausbeutung der Arbeiterschicht, sondern sässen „lieber bei einem leckeren Bio-Flammkuchen in ihrem Lieblingscafé, statt auf die Strasse zu gehen und gegen das transnationale Kapital zu kämpfen.“ Man müsse zwar, so Blaha, rassistischen Hass bekämpfen, doch sollte die Linke in Bezug auf kulturelle Fragen politisch gemässigt auftreten, was die Wirtschaft angeht jedoch „radikal sein und nach sozialistischen Antworten zum neoliberalen globalen Kapitalismus suchen“ (S. 251).

Es gibt viele Fragen, die an diese „Analyse“ gestellt werden könnten. Zum Beispiel, wie der Parlamentsabgeordnete einer Regierungspartei der kapitalistischen Slowakei eigentlich dazu kommt, anderen vorzuwerfen, sie würden nicht gegen das „transnationale Kapital“ kämpfen. Oder was – aus Sicht ausgebeuteter Arbeiter*innen – der Unterschied zwischen transnationalem und nationalem Kapital ist. Oder weshalb sogenannte Minderheitenthemen postmaterialistische Themen sein müssen. Und ob es tatsächlich der Nationalstaat ist, der soziale Schutzmassnahmen bedeutet.

Blaha - früher selbst ein Liberaler - entwickelt in seinem Beitrag eine auch bei vielen Linken beliebte Denkfigur: Der Liberalismus ist das Feindbild, nicht die kapitalistische Produktionsweise. Jene, die für gesellschaftlichen Liberalismus, wie zum Beispiel Minderheitenrechte, eintreten, werden zu Komplizen eines wirtschaftlichen Liberalismus – gemeint ist in der Regel des Neoliberalismus – erklärt. Dagegen gesetzt wird ein „guter“, nationalstaatlich „geschützter“ und wenn es sein muss antiliberaler Kapitalismus. Smer-SD versucht, dieses Konzept auch als Regierungspartei umzusetzen. Das hat zweifelsohne in manchen Bereichen positive Folgen, wenn beispielsweise Privatisierungen verhindert werden. Auf der anderen Seite schloss Smer-SD eine links-rechts Koalition, um regieren zu können – und schmiedete ein Bündnis mit den nicht nur gegen Migration wetternden, sondern auch auf Arbeiterrechte pfeifenden Regierungen Ungarns, Polens und Tschechiens als es gegen die Verteilung von Kriegsflüchtlingen innerhalb der EU-Staaten ging.

Blahas Beitrag hinterlässt eine wichtige Frage: Ist der Liberalismus die Ursache des Übels auf der Welt? Ich denke: Nein. Natürlich bietet die linksliberal angehauchte Mittelschicht ein dankbares Feindbild, an dem man sich mit überspitzten „Bio-Flammkuchen“-Sprüchen abarbeiten kann. Doch letztlich hat man es mit einem Pappkameraden zu tun. Und eine radikale Vision, eine Idee, wie Ausbeutung zu überwinden ist, hat Blaha nicht zu bieten.

Wirtschaftsliberalismus, Globalisierung und der Abbau von „Schutzmassnahmen“ sind Folge des Kapitalismus. Die Agenda 2010 der Schröder-Regierung, der grösste Abbau sozialer Schutzmassnahmen in Europa seit Thatcher, wurde nicht von supranationalen Institutionen „verordnet“, sondern weil die nationale Bourgeoisie der Bundesrepublik dafür einen Klassenkampf von oben führte. Der vielen Linken, die wie Blaha argumentieren, vorschwebende fordistische Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit war einer Ausnahmesituation geschuldet, er wurde nicht wegen eines neoliberalen „Plans“ besonders bösartiger Kapitalisten abgeschafft, sondern weil der Kapitalismus an seine Grenzen stiess.

Ausläufer bis in die Linkspartei

Die skizzierte Debatte ist indes längst nicht auf die Slowakei oder die Sozialdemokratie begrenzt. Im Gegenteil. Die von Blaha und Merkel repräsentierte Sichtweise wird auch in der kürzlich erst wieder hochgekochten Debatte in Deutschland, die in und um die Linkspartei herum geführt wird, von nicht wenigen vertreten.

Umso bedauerlicher, dass in vielen der anderen Beiträge all diese Fragen nicht einmal im Ansatz vorkommen. Weder bei Lisa Pelling vom Stockholmer Think Tank Arena Idea, die erklärt, warum ihrer Ansicht nach Linke für offene Grenzen sein sollten noch in dem Beitrag der ehemaligen Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Aydan Özoğuz, die über die „Chancen von Integration“ nachdenkt.

Doch die Debatte ist nötig. Auch wenn man die Antworten von Blaha und Co. falsch findet – die Fragen stehen im Raum. Sie zu ignorieren hiesse, auf der Stelle zu treten.

Nelli Tügel
kritisch-lesen.de

Michael Bröning / Christoph P. Mohr (Hg.): Flucht, Migration und die Linke in Europa. Dietz Verlag, Bonn 2017. 399 Seiten, ca. SFr 29.00, ISBN 9783801205065

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