Sie entwickelten sich zu hochgelobten Bestsellern - trotz vielerlei Mängel, etwa der Nichtbeachtung der neueren Forschungen und Diskussionen, die auf der MEGA beruhen. Dass Michael Heinrich mit dem ersten Teil einer auf drei Bände angelegten umfassenden Biographie und Werkentwicklung angesichts des bereits bestehenden Angebotes eine weitere Veröffentlichung wagt, erweist sich in mehrfacher Hinsicht als Glücksfall.
Zum ersten ist Heinrich ein ausgewiesener Kenner auch der neuesten Veröffentlichungen von Marx (und Engels), die in der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erschienen. Seine Darstellung bewegt sich also tatsächlich auf dem aktuellen Stand und Niveau der Marx-Forschung; er arbeitet mit der gesamten Breite des Marxschen Werkes, inklusive der Briefe.
Rechenschaftsbericht im Anhang
Zum zweiten zeichnet sich seine Herangehensweise durch ein hohes Niveau an Reflexion und Transparenz aus. Er verliert sich nicht in Spekulationen. Plausible Annahmen werden von ihm nachvollziehbar gekennzeichnet, biographische Lücken werden nicht phantasievoll ausgefüllt, sondern als solche benannt. Besonders deutlich wird sein spezifischer Zugriff im Anhang, einer Art Rechenschaftsbericht, dessen Titel lautet: „Wie ist biographisches Schreiben heute möglich? Zur Methodik einer Marx-Biographie“.All dies schlägt sich in auch in sprachlicher Hinsicht nieder: Heinrich schreibt präzise, nachvollziehbar, sachlich, verzichtet auf blumige und emotionale Umschreibungen und eine effekthascherische Sprache, ohne dabei trocken und langweilig zu formulieren. Er versetzt sich als Autor nicht in die Lage von Marx, imaginiert keine psychischen Zustände und verdeutlicht, dass er als Biograph nicht allwissend ist und das auch nicht sein kann. Den Leser_innen wird deutlich vor Augen geführt, dass der Lebensweg von Marx nicht zwangsläufig vorherbestimmt war.
Zum dritten liefert er an vielen Stellen eine kritische Auseinandersetzung vorgehender Biographien, darunter besonders häufig derjenigen der oben genannten. Diese Kritiken und Richtstellungen erweisen sich als besonders wertvoll – geben sie doch einen Hinweis darauf, wie ernst zu nehmen andere Darstellungen eigentlich sind. Besonders schlecht kommt das flott und leichtfüssig geschriebene Werk von Francis Wheen (1999) weg.
Heinrich weist auf gravierende Darstellungsfehler hin, die entweder der Fantasie des Autors entsprangen oder ohne Angabe von Quellen von anderen Autor_innen übernommen wurden. Generell wird deutlich, dass viele andere Biographen bereits zu ihrer Entstehungszeit zugängliche Informationen nicht oder auch nur selektiv berücksichtigen, aus welchen Gründen auch immer. Aber der grösste Unterschied von Heinrichs' Darstellungen gegenüber den meisten anderen ist der Umstand, dass er sich intensiv mit Marx' Werken inhaltlich auseinandersetzt und sie in den Kontext hinsichtlich der politisch-gesellschaftlichen Umstände und Diskurse der jeweiligen Entstehungszeit einbettet. An diesem Punkt wird der immense Mehrwert dieser neuen Biographie besonders deutlich.
Ambitionierte Marx-Lektüre
Und natürlich kann man als Leser_in noch einiges lernen. Heinrichs' Fazit im Anhang, dass „[j]ede Generation […] unter den historisch veränderten Umständen eine neue Perspektive auf Leben und Werk von Marx entwickeln [wird]“ – gerade vor dem Hintergrund einer wohl „nie abgeschlossene[n] Rezeptions- und Überlieferungsgeschichte“ (S. 384) – beweist sich bei der Lektüre an vielen Stellen. Gewissheiten der bisherigen Marx-Darstellungen und -Interpretationen geraten ins Wanken oder werden zumindest in ihrer Komplexität erweitert.Heinrich beschäftigt sich unter anderem mit den vielfach übersehenen oder schlicht ignorierten Marxschen Gedichten und bettet sie in die Entwicklung seines Denkens ein. Die in der Literatur häufig klare Unterscheidung in gute Jung- oder Linkshegelianer versus schlechte Rechtshegelianer wird hinsichtlich ihrer personellen wie inhaltlichen Zuordnung infrage gestellt. Auch die Beurteilungen der Romantik, des Idealismus und die Meinungen über Hegel werden gründlich durchgewirbelt und vieles mehr. Alles in allem also eine anregende Lektüre auf der Höhe der Zeit, die gegenüber anderen Veröffentlichungen in Sachen Qualität, Sorgfalt und Detailtiefe heraussticht.
Wie es Heinrich allerdings fertigbringen möchte, die Jahre nach 1842 in nur zwei weiteren Bänden abzuhandeln, bleibt rätselhaft – Anerkennung muss man ihm bereits vorab zollen und ihm für dieses Unterfangen viel Kraft wünschen. Die Wartezeit bis 2020 und 2022 wird sich angesichts der bisherigen Ergebnisse vollends lohnen – mit Heinrich in dem Bewusstsein, dass es auch danach ohne Zweifel „zu einer neuen Marx-Biographie“ kommen wird.