Dass sich hinter diesem Diskurs kein Spiegel der Wirklichkeit, sondern ein riesiges Spektakel verbirgt, ist leicht zu erahnen. Der Band „Generalverdacht. Wie mit dem Mythos Clankriminalität Politik gemacht wird“ schaut hinter die Kulissen und entlarvt die Strategien und Ziele dieser Debatte. Entstanden ist er in Kooperation mit der Neuköllner Initiative Kein Generalverdacht, mit der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (KOP Berlin) und dem Komitee für Grundrechte und Demokratie. In zahlreichen, allesamt sehr lesenswerten Beiträgen werfen die Herausgeber*innen und Autor*innen aus aktivistischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven Schlaglichter auf die „Clan“-Debatte. Wer verfolgt welche Interessen, wer profitiert, welche Narrative werden bemüht und vor allem: Wen trifft es eigentlich?
Rassistische Legitimationen
Um eines gleich vorwegzunehmen: Es gibt keine statistischen Belege, dass die Zugehörigkeit zu einer Familie zu gesteigerter krimineller Aktivität führt: „Was in den Kriminalstatistiken der meisten Bundesländer als ‚Clankriminalität' gelabelt wird, macht trotz des hohen Verfolgungsdrucks gerade einmal zwischen 0,18 und 0,6% aller aufgenommen Straftatermittlungen aus.“ (S. 14) Schaut man sich die in Medien, Politik und von Polizeivertreter*innen geführte Debatte an, erhält man hingegen den Eindruck, die Unterwanderung des Rechtsstaats sei weit fortgeschritten. Mit der – in unzähligen Medienbeiträgen stetig wiederholten – angeblichen Gefährdung der Sicherheit in „Problemkiezen“ durch „arabische“ oder „kurdisch-libanesische Familienclans“ (S. 87), die sich sinnbildlich als Gewaltexzesse in den Silvesternächten der letzten Jahre gezeigt habe, werde eine „Moralpanik“ (S. 127) erzeugt, schreibt Çağan Varol in seinem Beitrag.Diese diene unter anderem der Polizei, Handlungsbedarf und -macht zu demonstrieren und Mittel zur Aufrüstung zu beanspruchen – mit der Argumentation, nur eine starke, hart durchgreifende Polizei könne das Problem angehen und für Sicherheit sorgen. Die Moralpanik stärke zudem den Rückhalt aus der nicht-migrantisierten Gesellschaft: „Über den Modus der Moralpanik werden städtische Eliten aktiviert und über einen zivilisatorischen Auftrag in die Disziplinierung der devianten Individuen eingebunden“ (S. 130), so Varol. In der Hegemoniekrise der Staatsapparate würden so Teile der Bevölkerung wieder an den Staat gebunden.
Die Beiträge zeigen anhand vieler Beispiele, welchem Zweck die „Clan“-Kriminalisierung dient: Über die Konstruktion der „Ausländerkriminalität“ wird die weisse Vorherrschaft abgesichert. Durch das Fortschreiben des Rassismus – vor allem des antimuslimischen Rassismus – wird die Abwertung und Entrechtung von Menschen im Bleiberecht, im Sozialwesen und auf dem Arbeitsmarkt fortgeschrieben.
„Clans“ sind kein Fakt, sondern ein diskursives Element zur Aufrechterhaltung des rassistischen Status quo. Die Kriminalisierung funktioniert indes über verschiedene Hebel des Rassismus wie racial profiling und sogenannte kriminalitätsbelastete Orte (kbO). Lina Schmid führt in ihrem Beitrag dazu aus, dass die Polizei Orte, an denen sich vor allem migrantisierte Personen bewegen, nach eigenem Ermessen als „kriminalitätsbelastet“ ausweist, um gesonderte Befugnisse – zur anlasslosen Kontrolle etwa – zu erhalten und damit das Verbot des racial profiling zu umgehen.
Der Grund für eine Identitätsfeststellung muss an diesen so markierten Orten kein strafrechtlich relevantes Verhalten sein. Dabei werden vornehmlich jene kontrolliert, die in das rassistische Raster der Polizei passen – racial profiling durch die Hintertür. Damit wird die Kriminalisierung von Personengruppen stark vorangetrieben, denn in der öffentlichen Wahrnehmung werden Polizeikontrollen meist als begründet betrachtet.
Die Polizei geniesst ein grosses Vertrauen in weiten Teilen der Bevölkerung: Wo sie also kontrolliert oder andere Massnahmen ergreift, muss etwas vorgefallen sein. Ein Bewusstsein über kbOs oder „ortsbezogene Kriminalisierung“ (S. 162) gibt es in der Öffentlichkeit nicht. Die Befugnisse der Polizei durch kbOs ordnet Schmid als verfassungsrechtlich bedenklich ein. Und dennoch sind sie absolut gängig. Vermutlich, weil es kaum Gegenwind gibt.
Dass insbesondere Stadtteile als kbOs definiert werden, in denen viel migrantisches Leben und Arbeiten stattfindet, ist also kein Zufall. Es zeigt, dass Polizeiarbeit historisch und weiterhin vor allem ein Mittel ist, um problematisiertes Leben unter Kontrolle zu halten. Das gebündelte „kriminelle“ Potenzial muss dann für die Legitimität auch entsprechend demonstriert werden. In so genannten Verbundeinsätzen beziehungsweise Razzien in migrantischen Gewerben, Kiosken oder Vergnügungsorten (die berühmt-berüchtigten „Shisha-Bars“ et cetera) wird mit einem Grossaufgebot von Polizei, Ordnungsamt und Medien unter öffentlichkeitswirksamen Getöse die angebliche Gefahr vorgeführt.
Unter dem rechtlichen Rahmen der Gewerbekontrollen findet die Polizei Zugang zu Räumen, an denen sie Ermittlungen durchführt, „welche üblicherweise einen Gerichtsbeschluss benötigen würden. Das Narrativ der staatsfeindlichen ‚Clans' lässt jedoch diese rechtliche Unsicherheit verwischen, um durch eine vermeintliche gesellschaftliche Legitimität politisch zu trumpfen“ (S. 46), so Mohammed Ali Chahrour in seinem Beitrag. Dass bei solchen Einsätzen in den allermeisten Fällen nicht mehr als kleine Ordnungswidrigkeiten aufgedeckt werden, sieht die Öffentlichkeit nicht. Sie sieht den starken Staat, der gegen kriminelle Machenschaften hart durchgreift. Wo Kriminalität herrscht, herrscht kein Rassismus.
Politische Ambitionen
Jüngst gipfelte die Debatte um „Clankriminalität“ in Nancy Faesers Vorschlag, Menschen mit „‚Clan'-Zugehörigkeit auch dann abzuschieben, wenn sie für keine Straftat verurteilt worden sind.“ (S. 17) Dies zeigt, wie weit die Unschuldsvermutung ausgehebelt ist, wenn es darum geht, reaktionäre Politik zu machen. Allein die Zugehörigkeit zu einer Familie soll dazu dienen, Menschen zu sanktionieren und ihren Verbleib in der Gesellschaft zu verunsichern. Mit der Kriminalisierung wird fortgeführt, was für manche Menschen seit jeher deutsche Realität ist: die Verdrängung an den Rand der Gesellschaft, sei es räumlich, sozial oder aufenthaltsrechtlich.Die Kontinuität dieser Verunsicherung wird insbesondere in den Kapiteln zu Beginn des Buches eindrücklich geschildert. Anhand der Beschreibung des Asylsystems der letzten Jahrzehnte wird deutlich, wie die Nicht-Anerkennung von Menschen mit Fluchthintergrund zu einer permanenten Diskriminierungserfahrung wurde. Über das Mittel der Kettenduldungen aufgrund angeblich nicht geklärter Staatsangehörigkeit wird Menschen ein Platz zugewiesen, der sie in ständiger Armut und Perspektivlosigkeit hält. Wie gleich mehrere Beiträge aufzeigen, sind, neben Rom*nja und Sint*ezze, oftmals vor dem Bürgerkrieg aus dem Libanon geflohene Menschen von der jahrelangen Kriminalisierung betroffen:
„Ähnlich wie an den Checkpoints verschiedentlicher bewaffneter Gruppen des libanesischen Bürgerkriegs stand auch in den Ausländerbehörden die ‚wahre' Identität dieser Menschen im Fokus. Diese ‚wahre' Identität meinte nicht etwa ihre Fluchterfahrung oder ihr Leben im Bürgerkrieg. Ihre Identität durften diese Menschen nie selbst bestimmen. Sie war immer eine Fremdzuschreibung. Ohne einen Staat, der ihre Identität beglaubigte, standen die Schutzsuchenden unter Generalverdacht. Sie waren Illegale von zweifelhafter Herkunft.“ (S. 32)
Wie sich mit rassistischen Kampagnen Karriere machen lässt, zeigt Michèle Winkler in ihrer kurzen Diskursanalyse zur „Clan“-Debatte in Nordrhein-Westfalen. Anhand der Auswertung kleiner und grosser Anfragen im Landtag sowie Medienberichten zeichnet sie nach, wie seit 2015 der Begriff „Clan“ systematisch zur Diskursverschiebung eingesetzt wurde. Zunächst von CDU und FDP, später, nach dem Regierungswechsel, besonders intensiv von der AfD. Winkler zufolge sind die Wahlerfolge von CDU/FDP und schliesslich der Regierungswechsel 2017 auf die offensive Kampagne zum Thema „Clankriminalität“ zurückzuführen.
Seitdem sei sie „tragende Säule ihrer Politik“ (S. 79), angeführt von CDU-Innenminister Herbert Reul: Wer in NRW „Clan“ sagt, muss auch Reul sagen. Er hat sich das Thema zum Steckenpferd auserkoren und macht auf dem Rücken rassistisch adressierter Personen Karriere. Winkler beschreibt ausführlich, mit welchen Mechanismen und welchen Narrativen das Thema gesetzt wurde: „Die den Sicherheitsdiskurs dominierenden Themen ‚No-go-Areas' und ‚Familienclans' waren zuvor massgeblich durch Polizeivertreter*innen gesetzt, von den Medien aufgegriffen und verstärkt und von CDU und FDP parlamentarisch verankert worden.“ (S. 91)
Dies zeigt deutlich, wie eng verwoben die Zusammenarbeit der einzelnen Organe ist, wenn es darum geht, reaktionäre Politik zu machen. Und es zeigt, wie Polizeivertreter*innen als politische Subjekte fungieren, die Themen vorgeben und deren Lageeinschätzungen ungebrochen bis verstärkt von Medien und Politik aufgegriffen werden. Für Betroffene schafft das eine gesellschaftliche Atmosphäre der Unsicherheit. Naiv, wer Attentate wie in Hanau damit nicht in Zusammenhang bringt!
Das Buch gibt einen umfassenden Einblick in die Debatten um „Clankriminalität“ und seziert ihre Diskursstrategien auf allen Ebenen, auf denen sie wirksam werden. Die kritische Perspektive ist fundiert und hält einige Erkenntnisse bereit. Die einzelnen Beiträge sind gut lesbar und werden durch Dokumentation von Augenzeug:innen und Presseartikeln bereichert.