Dass wir alle einem ständigen Leistungsdrang unterliegen ist bekanntermassen Produkt des Neoliberalismus. Sowohl dessen konkurrenzgetriebene Marktförmigkeit als auch sein kulturell-ideologisches Programm der ständigen Selbstoptimierung haben sich tief in uns eingegraben. Und seit wir Frauen* als (fast) vollwertige Marktsubjekte entdeckt wurden, dürfen wir doppelt ballern: Nicht mehr nur Kind und Heim werden von uns verlangt, sondern nebenbei sollen wir noch die Karriereleiter raufkrabbeln, Erfolg haben, unabhängig sein und dabei nicht meckern. Achso, und verdammt gut aussehen! In diesem Zeitgeist ist eine Figur viral gegangen, die diese Anforderungen scheinbar perfekt meistert beziehunsgweise inszeniert: der Girlboss, nach dem gleichnamigen Buch der Unternehmerin Sophia Amoruso (2014), in dem die Erfolgsstory EINER weissen Frau romantisiert wird. Im Girlboss haben sich alle diese Ideale realisiert, in ihrem Spiegelbild können jene, die solche Erfolge nicht erreichen, sich nur minderwertig fühlen.
Kuschelige Subversion
Shehadeh ruft dagegen die Anti-Girlboss-Bewegung aus. Vom Sofa aus. Und mit reichlich Expertise:„Seit ich beschlossen habe, dass Auszeiten nicht nur angenehm, sondern auch wunderbar subversiv sind, nehme ich sie mir öfter. […] Ich mache gern Dinge, die weder mir noch jemand anderem etwas bringen ausser Spass. Je sinnloser, desto besser. Ich gehe zur Arbeit, weil ich muss. Ich mache Feierabend, sobald ich kann. Ich besitze mehrere Flauschbademäntel, und wenn ich mich nach einem Arbeitstag oder verrichteten Aufgaben in einen einpacke, überkommen mich nahezu religiöse Gefühle“ (S. 12f.).
Na toll, könnte man denken, was ist daran subversiv? Handelt es sich dabei nicht bloss um einen individualisierten Rückzug ins Private? Noch eine produktivitätssteigernde Selfcare-Anleitung? Und ist es nicht einfach nur super privilegiert, sich diese Freiheiten nehmen zu können? Gerade diesen letzten Punkt nimmt Shehadeh sehr ernst. Sie schreibt keine Tipps zur Lebensführung, denn sie weiss, dass viele – insbesondere Frauen – in Lebens- und Arbeitsbedingungen hängen, die wenig Zeit zum Durchatmen lassen und vor allem ein Dasein in ständiger Sorge bedeuten. Shehadeh schreibt vor allem, um Frauen* zu entlasten. Sie zeigt, wie der Neoliberalismus, um uns zur Produktivität anzuheizen, permanent unser Selbstwertgefühl untergräbt. Der eigene Marktwert muss ständig optimiert werden, die Angst, nicht auszureichen ist dem immanent. Frauen, die „es“ nicht schaffen, gelten immer noch als faul. Scham und Schuld sind die Konsequenzen.
Ihre Erzählung ist keine von oben herab. In ihren biographischen Schilderungen wird eins von vielen möglichen Settings sichtbar, die leistungsorientierte junge Frauen* hervorbringen. Während der Vater als Arzt für monetäre Sicherheit sorgt, zieht die Mutter zu Hause die Kinder gross. Arbeit ist der Primat, gefolgt von klassischen Rollenmodellen. Leistung ist Shehadeh als migrantisches Girl in Deutschland ins Mark geschrieben, allein schon, um nicht aufzufallen. Immer fleissig in der Schule, neben dem Studium bis zum Umfallen geackert, um sich und ihren Mann durchzubringen. Bis es nicht mehr weiter geht. Ihre Entscheidung für ein Leben ohne Karriere, Mann und Kind ist erstmal keine politische, sondern eine biographische:
„Ich kannte das Gegenteil eines gemütlichen Lebens aus eigener Erfahrung: Mit wenig bis kaum Geld, anstrengenden Jobs, Überforderung und kaum zu ertragendem Stresslevel. Einmal aus dieser Mühle herausgetreten, hatte ich mich von allem verabschiedet, was mir zu anstrengend erschien. Inklusive Ambitionen.“ (S. 57f.)
Nobody wants to work these days
Und genau darum geht es. Warum abrackern in einem System, dem du nie genügst, dich selbst zurichten für ein Minimum an Anerkennung und einem unerreichbaren Ideal hinterherjagen? Ein Anti-Girlboss zu sein ist nicht nur eine Entscheidung gegen die Chefetage. Es ist eine Entscheidung gegen das, was ganz alltäglich von uns erwartet wird: nicht immer müssen, keine Extra-Aufgaben schinden, sich nicht abhetzen, auf das Versprechen der Anerkennung durch besonderen Fleiss verzichten. Auch wenn sich materielle Zwänge dadurch nicht aufheben lassen, so lässt sich doch das Mindset darin zumindest kritisch zu hinterfragen. Leicht ist das nicht:„Als Mädchen, Frau oder queere Person einfach nur existieren zu dürfen, ohne sexistischen und kapitalistischen Anforderungen standzuhalten, ist nach wie vor revolutionär. Sich genau diesen Strukturen zu entziehen, ist die viel grössere Herausforderung, als sich mit Leistungs- und Begehrlichkeitszwängen zu belasten.“ (S. 114) Glücklicherweise kommt der Anti-Girlsboss allmählich in Mode: „The Girlboss Era is over. Welcome to the Age of the Girlloser.“ (Bloggerin Gabrielle Moss, S. 104). Shehadeh nimmt eine kulturelle Revolution des Ausruhens wahr, „der Trend geht weg von zu viel Arbeitseifer. Popkulturelle Äusserungen, die den ‚hustle' oder ‚grind' als latent peinlich darstellen, erfreuen sich auf jeden Fall grosser Beliebtheit in dem Milieu, in dem ich mich bewege“ (S. 169). Die gewaltige Empörung über Kim Kardashians Fauxpas „It seems like nobody wants to work these days“ war nicht nur ein Marker dafür, dass Frauen den Wert ihrer Arbeit krass verteidigen müssen. Der Hohn über ihre Aussage lässt eben auch erkennen, dass Viele schon verstanden haben, dass die Versprechen des Neoliberalimus uneinlösbar sind.
Chillen statt Ellenbogen-Feminismus
Auch wenn Shehadeh immer wieder um sich selbst als Beispiel kreist, gelingt es ihr mit Leichtigkeit, den Radius zu erweitern und ihr Thema historisch und politisch einzuordnen. Ihre Kritik an Arbeit im Kapitalismus und am neoliberalen Feminismus ist differenziert und deutlich. Sie stimmt dabei auch ein in die Kritik Schwarzer Feministinnen, zum Beispiel bell hooks' Kritik jener Version des Feminismus, der „suggerierte, dass Arbeit Frauen von männlicher Dominanz befreien würde“ (hooks, S. 81). Schliesslich sei die Meritokratie eine Arbeitsethik der männlichen (und weissen) Vorherrschaft, und während im neoliberalen Geschlechterregime „harte Arbeit und Ehrgeiz als wichtige Instrumente der Selbstermächtigung und als Mittel zur Veränderung der Gesellschaft“ (S. 18) als Feminismus verhandelt werden, so ist doch klar, dass keine Befreiung des einen unterdrückenden Systems durch den Aufbruch in das andere erreicht werden kann. Sich der Produktivität zu entziehen, kann also ein politisches Mittel sein. Und ist auch historisch gesehen eins, dass in politischen Bewegungen immer wieder eine Rolle spielte, wie beispielsweise Streiks.Zugegeben, als Linke die Hände in den Schoss zu legen in einer Welt, die gerade nicht dazu einlädt, scheint gegen unsere Instinkte zu gehen. Aber wir tun sicherlich gut daran, uns selbst als Leistungssubjekte zu hinterfragen. Vielleicht schaufeln wir damit auch Ressourcen frei, die wir wiederum politisch einsetzen können. Zum Beispiel für jene Frauen*, die dem hustle nicht so leicht entkommen können. So formuliert es auch Shehadeh: „Girlunions statt Girlboss-Gehabe“ (S. 159). Ausgeruhtsein schafft mehr Platz für Solidarität. Leider führt sie diesen Punkt viel zu wenig aus. Ansonsten ist „Anti-Girlboss“ ein Buch, dass sich mit Vergnügen liest. Nicht zu viel Text, gerade so viel wie nötig, mit Witz und leichter Sprache. Shehadeh lädt zum längerweiligen Nachdenken über eigene Ansprüche ein und macht Lust auf „Nein“-Sagen. Ein Stinkefinger, der gut tut!