Dass der Klimawandel sofort aufgehalten werden muss, ist der kategorische Imperativ, der im Subtext jeder der 704 Seiten der wortgewaltigen und lesenswerten Streitschrift Naomi Kleins „Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima“ mitschwingt. Er ergibt sich für den neuen Popstar der Bewegung für Klimagerechtigkeit einerseits aus der „Existenzkrise für die menschliche Spezies“ (S. 26), die der Klimawandel darstelle. Andererseits habe „unser jahrzehntelanges kollektives Leugnen (…) alle graduellen, schrittweisen Lösungen unmöglich gemacht“ (S. 34).
Bevor Klein ihre Vorschläge zur Lösung der Klimakrise diskutiert, betreibt sie in ihrem jüngsten Buch, das 2014 im englischen Original und im Frühjahr 2015 in deutscher Übersetzung publiziert wurde, im ersten von insgesamt drei Abschnitten Ursachenforschung. Im Zweiten analysiert sie die bisherigen politisch-ideologischen Projekte zur Bekämpfung des Klimawandels, die von Fraktionen der herrschenden Klasse verfolgt werden. Im dritten Abschnitt bestimmt die Autorin schliesslich die Subjekte des sozialökologischen „Wandels“ (S. 559) und deren politische Forderungen.
Das Problem: Klima vs. Extraktivismus?
In der Sache ist der Titel der dritten international erfolgreichen Publikation Naomi Kleins nach „No Logo!“ (2000) und „Die Schock-Strategie“ (2007) richtig. „Unser Wirtschaftssystem und unser Planetensystem befinden sich miteinander im Krieg“ (S. 33), und der Klimawandel ist ein „Kampf zwischen dem Kapitalismus und der Erde“ (S. 35). Aber der Titel spiegelt Kleins Argumentation nicht präzise wider. Denn sie macht nicht die kapitalistische Produktionsweise für den Klimawandel verantwortlich, sondern den „Extraktivismus“.Dabei handele es sich um „eine einseitige, herrschaftsbasierte Beziehung zur Erde, bei der es nur ums Nehmen geht“ (S. 209f.). Diese Beziehung sei verbunden mit einer „Mentalität, die viele Menschen, unsere Vorfahren ebenso wie uns Heutige, glauben liess, wir dürften so gewaltsam mit der Erde umgehen“ (S. 209), wie es zum Beispiel im Bergbau oder bei der Erdölförderung geschieht. Diese Sorglosigkeit stehe im Kern des extraktivistischen Wirtschaftsmodells. Sie komme in den dem Kapitalismus „zugrunde liegenden Narrativen von endlosem Wachstum und Fortschritt“ (S. 211) zum Ausdruck.
Der „Schutzheilige“ der „modernen Extraktionswirtschaft“ sei der englische Philosoph, Wissenschaftler und Staatsmann Francis Bacon, der die „Vorstellung einer vollkommen erfassbaren und kontrollierbaren Erde“ (ebd.) im 17. Jahrhundert zur vorherrschenden Ideologie gemacht habe. Bis heute sei sein „ursprüngliches, biblisch inspiriertes Denkgerüst (…) weitgehend unangetastet“ (ebd.) geblieben: die Vorstellung, Menschen hätten das Recht, „sich über das uns tragende Ökosystem zu stellen und die Erde zu malträtieren, als wäre sie eine seelenlose Maschine“ (ebd.). Auf dieser Form des „Materialismus“ gründe der moderne Kapitalismus.
Dieser Extraktivismus habe die Industrialisierung des Kapitalismus und den Kolonialismus forciert, die moderne Welt geschaffen und zur „weitreichendsten Krise“ (S. 551) geführt, die wir heute kennen: zum Klimawandel.
Dass aus dem Klimawandel eine Klimakrise geworden ist, liege laut Naomi Klein an „unserem Wirtschaftsmodell (dereguliertem Kapitalismus kombiniert mit Sparzwang für öffentliche Haushalte)“ (S. 84) und an der „Ideologie des Marktfundamentalismus“ (S. 81). Denn „vor Beginn der neoliberalen Ära“ habe sich angeblich „das Emissionswachstum verlangsamt“ (S. 103f.). Aber drei historische Entwicklungen hätten zu einem „Hyperwachstum der Emissionen“ (S. 105) geführt: 1. die Implementierung der „drei politischen Säulen“ (S. 95) der „marktliberalen Konterrevolution“ (S. 157) (gemeint sind Privatisierung, Deregulierung und Steuersenkungen für die Unternehmen bei gleichzeitigen Kürzungen der öffentlichen Haushalte); 2. die Internationalisierung der kapitalistischen Produktion und Zirkulation nach 1989/90 durch Freihandelsabkommen und der WTO zugunsten der Konzerne; und 3. das gleichzeitige Scheitern diverser Klimaschutzverhandlungen.
„Die Wahrheit“ sei also, „dass der derzeitige, superglobalisierte Kapitalismus die Klimakrise zwar verschärft, aber nicht verursacht hat.“ (S. 198) Der Klimawandel ist, folgt man Naomi Klein, vielmehr ein Problem der politisch-ideologischen Herrschaft des Extraktivismus.
Die Zauberlehrlinge: Öko-NGOs, grüne Milliardäre und die Wettermacher
Die politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten stellen allerdings die Macht der Konzerne wie ExxonMobil, Shell, BP Chevron und so weiter nicht in Frage, die am meisten vom Geschäft mit den fossilen Energieträgern und dem Vabanquespiel mit dem Klima profitieren. Sie setzen auf andere strategische Projekte im Umgang mit dem Klimawandel. Diesen Ausgeburten des „magischen Denkens“ (S. 231), das Lösung der Klimakrise und den Kapitalismus miteinander versöhnen will, widmet sich Naomi Klein im zweiten Abschnitt ihres Buchs.Grosse Naturschutzorganisationen, wie zum Beispiel Nature Conservancy oder der WWF, kämpften „gar nicht gegen die Unternehmen und deren Interessen – sie haben sich mit ihnen vereinigt“ (S. 238). „Big Business und grosse Umweltschutzorganisationen“ (S. 233) unterhalten eine Art sozialökologischer Partnerschaft. Konzerne und ihnen nahestehende Stiftungen spenden den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) Geld, entsenden VertreterInnen in NGO-Beiräte und gewähren den NGO-VertreterInnen Zugang zu elitären Zirkeln der Macht. Im Gegenzug forcierten diese „regelmässig und in aggressiver Weise Methoden der Krisenbewältigung, die den grössten Treibhausgasverursachern des Planeten die geringste Last auferlegen und ihnen in vielen Fällen sogar nutzen“ (S. 242), zum Beispiel indem sie Erdgas oder Atomenergie als Teil der Lösung der Klimakrise rehabilitieren. Nach der „konzernfreundlichen Wende grosser Teile der Umweltbewegung“ (S. 252) in den 1980er Jahren suchten beiden Seiten, Konzerne und Umweltschutz-NGOs, in den folgenden „Jahrzehnten grüner Kumpelei“ (S. 405) eine „Harmonisierung ökonomischer Interessen“ (S. 256). Der Klimawandel werde „ausschliesslich als technisches Problem dargestellt, mit einem unerschöpflichen Potential gewinnträchtiger Lösungen innerhalb der Marktwirtschaft“ (S. 256).
Aus den Kreisen der Gewinner des fossilistischen Kapitalismus kommt ein anderer perfider Vorschlag zur Reduktion von CO2-Emissionen: Öko-Charity. Naomi Klein zeigt anhand der Geschichte des Eigentümers einer der grössten Flugzeugflotten der Welt, Virgin-Group-Gründer Richard Branson, dass es sich bei dem Konzept um phänomenalen Betrug handelt. Er dient dazu, gesetzliche Regelungen durch freiwillige Selbstverpflichtungen und Vertrauen in das ökologische Gewissen der „grünen Milliardäre“ (S. 281) abzuwenden.
Schliesslich kritisiert Klein in einer Reportage über eine Tagung der Royal Society, der bekannten Akademie der Wissenschaften Grossbritanniens, die Fixierung der Wissenschaften und ihrer Geldgeber auf eine technologische Antwort auf den Klimawandel. Anstatt „die grundlegende Ursache des Klimawandels zu beseitigen“, werde „nur das offenkundige Symptom behandelt: höhere Temperaturen“ (S. 316). Und zwar indem man durch sogenanntes Geo-Engineering das Klima manipuliert. Dass Eingriffe in die Natur von dieser Tiefe und diesem Umfang zu neuen Klimaproblemen führen, liegt auf der Hand.
„Blockadia“ und ein „Marshallplan für die Erde“
Wenn Umwelt-NGOs gemeinsame Sache mit den Energiekonzernen machen, Unternehmen in Kenntnis der wissenschaftlichen Fakten an der Förderung und Verbrennung fossiler Rohstoffe festhalten und wenn hoch dekorierte WissenschaftlerInnen es vorziehen, am Wetter herumzuschrauben, statt die politisch-ökonomischen Ursachen des Klimawandels zu untersuchen – wer sind dann die Träger des „Aufbruchs in die neue Zeit“ (S. 353)?Naomi Kleins Antwort: eine „konstruktive“ (S. 487), „weltweite“ (S. 389) und „mächtige Massenbewegung“ (S. 17), die ein „globales Basisnetzwerk auf breiter Grundlage“ (S. 358) unterhält und in der die „Führung von unten kommt“ (S. 559). Klein übernimmt von der nordamerikanischen Aktionskampagne „Tar Sands Blockade“ für diese Bewegung den Namen „Blockadia“ (S. 355). Er bezieht sich auf die zahlreichen Blockaden und Proteste auf dem gesamten Erdball gegen neue Bergwerke, Transportstrecken und Verladehäfen von fossilen Energieträgern. Die Speerspitze Blockadias bildeten indigene Volksgruppen. Sie lebten nicht nur häufig in den Gebieten, in denen Gas-, Öl- und Kohle-Konzerne agieren. Nicht selten hätten sie auch juristisch einklagbare Ansprüche auf die umstrittenen Territorien und schliesslich verfügten sie über „Modelle für eine nicht-extraktive Lebensweise“ (S. 488).
Kernprojekt Blockadias soll ein „Marshallplan für die Erde“ (S. 550) sein, um „die unvollendete Aufgabe der stärksten Befreiungsbewegungen in den letzten zweihundert Jahren“ (ebd.) zu Ende zu bringen: „eine profunde und radikale wirtschaftliche Transformation“ (S. 544, Herv. i.O.). Diese müsse eine Machtverschiebung von den grossen Konzernen zu den Gemeinschaften bewirken und ein „weitaus gerechteres Wirtschaftssystem als das gegenwärtige“ (S. 20) hervorbringen. Gelingen soll dies einerseits durch „ein gewisses Mass“ (S. 159) „langfristiger Wirtschaftsplanung“ (S. 165) des Staates und andererseits durch die Demokratisierung der Energieproduktion und -versorgung.
Der Staat müsse bestimmte Formen der Energiegewinnung verbieten, die Rohstoffkonzerne nach dem „Verursacherprinzip“ (S. 139) besteuern, um Investitionen in erneuerbare Energien tätigen zu können, und den Markt für „grüne“ Energien regulieren. Ferner befürwortet Klein ein „dezentrales Eigentumsmodell“ (S. 156), durch das „eine ganz neue Art von Versorgungsbetrieben“ entstünde, die „durch die Kommunen, die sie nutzen, als Genossenschaften oder 'Allmende'“, „demokratisch betrieben“ (S. 164) würden.
Neben der unmittelbar politischen Auseinandersetzung sollen die versammelten Kräfte Blockadias „eine andere Weltsicht in Konkurrenz zu jener“ vorstellen, „die Hauptverursacher der ökologischen Krise ist“ (S. 554), um „mit der extraktivistischen Mentalität“ (S. 536) zu brechen und einen „grundlegenden Ideologiewechsel“ (S. 130) durchzusetzen.
Letztlich müsse Blockadia mit seinem grünen Marshallplan auf „eine tiefgreifende Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Menschen und der natürlichen Welt“ (S. 473f., Herv. i.O.) hinarbeiten.
Falsche Hoffnung
Naomi Kleins Strategieentwurf steht und fällt mit ihrer Analyse der Ursachen des Klimawandels. Zu Recht kritisiert sie die kapitalistische Produktionsweise scharf, begnügt sich aber mit der Denunziation ihrer neoliberalen Variante. Sie rügt „marktorientierte Programme“ (S. 242) zur Lösung der ökologischen Krise, will aber den Markt nur besser regulieren und für den ökologischen Umbau nutzen. Sie stellt dem bürgerlichen Staat und der politischen Klasse ein vernichtendes Urteil über ihre Unfähigkeit aus, den sozialen und ökologischen Problemen angemessen zu begegnen und den Konzernen ihre Macht zu rauben, rät aber zu mehr staatlicher Planung und gesetzlichen Anordnungen. Sie denunziert mit viel Verve, dass letztlich immer der Imperativ privater Betriebe, Kapital zu generieren, „über den Klima-Imperativ gesiegt“ (S. 307) habe.Trotzdem will sie das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht antasten. Schliesslich macht sie politische Projekte und Ideologien für den Klimawandel verantwortlich, obwohl der Extraktivismus ein Kind des Kapitalismus ist. Die Falle, in die man durch die begeisternde Lektüre von Naomi Kleins Manifests tappen kann, ist, zu hoffen, dass eine grüne Sozialdemokratie es schon irgendwie richten kann. Das kann sie nicht.