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Patsy l'Amour laLove: Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus.

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Patsy l'Amour laLove: Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus. Angriff der Homocons

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Sachliteratur

Der Sammelband möchte die autoritären Sehnsüchte in der queeren Szene entlarven. Doch er benutzt dies für einen neokonservativen Rollback, der vor allem an seiner Feindseligkeit gegenüber Muslimen deutlich wird.

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Patsy l'Amour laLove: Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus.. Foto: Neil Ward (CC BY 2.0 cropped)

Datum 28. September 2017
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KorrekturKorrektur
Kein anderes Buch mit geschlechter- und sexualpolitischer Thematik erzielt zurzeit eine solche Aufmerksamkeit wie der Sammelband von Patsy L'Amour LaLove mit dem knackigen Titel „Beissreflexe“. Es geht um eine Abrechnung und der Vorwurf der Stutenbissigkeit lässt schon erahnen, auf welchem Niveau man das im Untertitel gegebene Versprechen einer Kritik am „queeren Aktivismus“, seinen „autoritären Sehnsüchten“ und „Sprechverboten“ in der Praxis einzulösen gedenkt. Dabei verdankt sich der Erfolg des Buches dem Unbehagen an einer panoptischen Identitätspolitik, die Sabine Hark bereits vor zwei Jahrzehnten am lesbischen Feminismus der 1980er Jahre kritisiert hat – und von der auch die Verlegerin Ilona Bubeck in ihrem Beitrag zu berichten weiss. Warum das, was im Namen von Queer Theory scheinbar überwunden wurde, heute ausgerechnet im Mantel des queeren Aktivismus wiederkehrt, hätte ein interessantes Thema sein können. Stattdessen aber benutzt der Sammelband die breite Anschlussfähigkeit dieser Kritik vor allem als Steigbügel, um seinen Leser_innen eine grundsätzliche Hinwendung zu antideutschen Themen anzutragen.

Restitution des Opferstatus

Dass man den antideutschen Diskurs erstmals auch in einem LSBT-Sammelband rezipiert findet, ist eine grosse Überraschung. Doch wer genauer hinsah, konnte schon länger beobachten, dass die antideutsche Ideologie für eine Reihe junger Schwuler eine besondere Attraktivität entfaltet. Denn während queere Theoretiker*innen seit den 2000er Jahren darauf abstellten, die Verstrickung und Instrumentalisierung von Schwulen in und für staatliche Machtverhältnisse zu reflektieren, bietet ihnen der antideutsche Ansatz eine volle Restitution ihres Opferstatus. Dass dieser auch für Antideutsche nur so weit interessant ist, wie er sich für die Rechtfertigung von Rassismus, Krieg und Besatzung nutzen lässt, weckt dabei offenbar nur wenig Misstrauen.

Seinen Zenit erreicht der Zorn über die wahrgenommene Aberkennung der eigenen Opferidentität durch queere Aktivist_innen im Artikel des schwulen Bahamas-Autors Tjark Kunstreich über den Anschlag des Selbstmordattentäters Omar Mateen auf den Schwulenclub Pulse in Orlando. Besonders zuwider erscheint ihm dabei die Tatsache, dass in Texten, die sich um die rassistische Instrumentalisierung des Geschehens sorgen, immer wieder auf den Charakter des Orts als Treffpunkt von „LatinX“ und „queers of color“ hingewiesen wurde. Gegen diese Sichtweise führt Kunstreich das Motiv des Täters ins Feld, „der nicht LatinX, sondern Leute ermorden wollte, die in einem schwulen Club feiern“ (S. 220). Das Pulse sei angegriffen worden, weil es für Mateen verführerischer und zugleich bedrohlicher „Ausdruck der Dekadenz und der Sittenlosigkeit des Westens gewesen“ sei (S. 223).

Die ideologische Gleichsetzung von Schwulen mit dem Westen ist jedoch genau das, was queere Autor_innen wie Jasbir Puar als Homonationalismus beschreiben. The pride to be gay verwandelt sich in den Stolz auf die westliche Gesellschaft, die „die Möglichkeit bietet, seine sexuelle Orientierung auszuleben“ (S. 223). Das sei zwar auch in Afghanistan möglich, gesteht Kunstreich, aber eben nicht in Abweichung vom vorgezeichneten Lebensweg als Ehemann und Erzeuger. Dass dieser Ausbruch Omar Mateen verwehrt geblieben sei, weil er sich an die Autorität seines konservativen Vaters gebunden gefühlt habe, sei der Grund für seinen verzehrenden Hass auf das Pulse gewesen.

Die Argumentation ist jedoch insofern verquer, als auch im Pulse viele ungeoutete Schwule verkehrten. Ein Vater weigerte sich sogar, die Urne seines Sohnes entgegenzunehmen, nachdem er im Zuge des Anschlags Kenntnis über dessen sexuelle Orientierung erlangt hatte. Das sich verbreitende Gerücht, Omar Mateen sei selbst regelmässiger Besucher des Pulse gewesen, führte deshalb bei vielen der Gäste zu einer Art bizarren psychologischen Identifikation. Eine Drag Queen erklärte, Mateen sei ihr Freund gewesen, andere wollten ihn auf schwulen Dating Apps gesehen haben, aber kaum jemand reagierte mit einem irrationalen Ausbruch von Hass auf „die Muslime“. Zu gegenwärtig war die Erfahrung von Homophobie im eigenen Milieu – und die von Rassismus in Amerika. Dass der Anschlag so eher zu einer Annäherung der LGBT-Community mit muslimischen Gemeinden in Orlando und darüber hinaus führte, denunziert Kunstreich dabei mit Michel Houellebecq als queere „Unterwerfung“ unter den Islam (S. 235). Offenbar kann die eigene, volle Opferidentität nur wiederhergestellt werden, wenn sie Muslime restlos zu Tätern stilisiert.

Mateen, „der Afghane“

Die von den Stammgästen des Pulse vorangetriebene Fokussierung auf die möglicherweise unterdrückte Homosexualität des Täters war für die Polizeiorgane vor allem deshalb delikat, weil sie die Frage aufwarf, ob es wirklich eine bestimmte religiöse Ideologie war, die ihn motivierte, oder ob er sich diese nicht vielmehr zum Vorwand nahm, um seine eigene, innere Zerrissenheit zu verdecken. Das FBI war daher sehr bemüht, die Glaubwürdigkeit der vielen Zeugen zu untergraben, um das Ereignis nahtlos in die bekannte Reihe islamistischer Attentate einzufügen. Dagegen legte der CIA nahe, dass Mateen in Wahrheit keinerlei Verbindung zum Islamischen Staat gehabt hatte; dass er sich mal als Mitglied der schiitischen Hisbollah, mal als Anhänger der sich mit ihr (und dem IS) bekriegenden Al-Nusra-Front ausgab, was für den Geheimdienst den Schluss nahelegte, dass sich Mateen mit der Ideologie des IS, wenn überhaupt, dann nur sehr oberflächlich beschäftigt hatte.

Kunstreich aber geht einen dritten Weg. Er will weder über die Ideologie des IS noch über möglichen homosexuellen Selbsthass sprechen, sondern über die unterdrückerische „Kultur“ der Muslime. Dafür muss er aber den in New York geborenen Omar Mateen zum vollgültigen Exponenten einer anderen Lebensweise erklären. Dies geschieht natürlich primär über das Verhältnis von Vater und Sohn, die in Kunstreichs Sicht „nach eigenen Regeln lebten“ (S. 222). Der Vater ist der einzige, der seinen Sohn bestrafen darf; gegen die Massregelungen der Lehrer wird der kleine Mateen stets verteidigt. Was andere als Zeichen seiner dissozialen Persönlichkeitsstörung lesen – die ständigen Konflikte mit Mitschüler_innen und Kolleg_innen –, interpretiert Kunstreich als die Wände, die er nach aussen aufrichtete, um sich von uns abzuschotten. Dass er das Herkunftsland seines Vaters vermutlich nie gesehen hatte, Amerikanisch so fliessend sprach wie nur irgendein_e Muttersprachler_in und auch in keiner der in Deutschland gefürchteten „Parallelgesellschaften“ aufgewachsen war (die man in den USA wertfrei Communities nennt) – einerlei, es hindert Kunstreich nicht, Omar Mateen als den schlechthinnigen Fremden darzustellen.

Es ist eine abenteuerliche Konstruktion, die es ihm aber ermöglicht, auch Mateens Sexualität als anders zu konstruieren. So habe dieser gleichgeschlechtliches Begehren „nicht als Frage der sexuellen Orientierung betrachtet“ (S. 223). Denn in Afghanistan verweigere man Männern noch die Ehre, sie am Geschlecht der begehrten Personen als entweder homo- oder heterosexuell zu spezifizieren. Mateen habe das Pulse daher weniger aus eigener Homophobie angegriffen, sondern weil die Existenzweise der Schwulen für den radikalstmöglichen Ausbruch aus der familiären Vater-Sohn-Dyade stehe.

Natürlich ist das alles eine absurde Fiktion, weil Mateen, der „Afghane“, spätestens bei einem Flirt mit einem anderen Mann auf die Existenz sexueller Identitätskategorien gestossen worden wäre. Es ist das gleiche, was am Hindukusch einheimischen Übersetzern passiert, wenn sie mit amerikanischen Soldaten schäkern und erstmals die Erfahrung machen, deshalb als „faggot“ beleidigt zu werden. Es gibt Videos solcher Interaktionen im Internet, die hochgeladen wurden, weil sich US-Soldaten über das „schwule“ Verhalten ihrer afghanischen Dolmetscher belustigten. Die Annahme, man könne Kultur wie ein Gepäckstück über die Grenze tragen, vergisst, dass Kultur, wie Kunstreich selber sagt, eine Organisationsweise menschlicher Gesellschaft ist, die die Migration in eine andere nicht lange überstehen kann. Deshalb war bereits Mateens Vater ein unausstehlich homophober Kerl und hat seinen Sohn, der sich niemals ganz von ihm lösen konnte, damit womöglich in eine absolut verzweifelte Situation gebracht.

Kunstreichs Argumentation läuft auf eine Logik der kulturalistischen Verweisung Omar Mateens aus der amerikanischen Gesellschaft hinaus. Deshalb ist es so komisch, wenn er queeren Muslim_innen „Kulturessentialismus“ vorwirft, da sie den Islam in eine unentrinnbare Identität verwandeln würden. Dabei ist schon die Unterstellung falsch, dass die von ihm kritisierten Autor_innen den Islam als „schützenswerte Kultur“ verstanden wissen wollten. Denn anders als für Kunstreich ist der Islam für sie gar keine Kultur, sondern eine Religionsgemeinschaft. Ihre liberale Lesart des Korans orientiert sich nirgendwo an tradierten Vorstellungen gleichgeschlechtlichen Begehrens, wie sie in der muslimischen Welt jahrhundertelang als gültig erachtet wurden. Vielmehr versteht sie das Buch als ganz gegenwärtige Offenbarung, die im Horizont eines modernen westlichen Identitätsverständnisses neu gelesen werden kann. So führt Scott Kugle für eine queere Deutung des Korans Sure 49, Vers 13, an: „O ihr Menschen, Wir haben euch von Mann und Weib erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet“ (Kugle 2010, S. vi). Die Lust am gleichen Geschlecht mit dem Konzept eines distinkten Volks oder, wie es im Englischen heisst, einer Community zu identifizieren, entspricht aber ganz der amerikanischen Vorstellung von der Sache – was zugleich die engen Grenzen der Universalisierbarkeit seines Ansatzes verdeutlicht.

Umschiffung des christlichen Fundamentalismus

Dass die von der Herausgeberin eingeforderte Religionskritik sich in allen Beiträgen, die dieser Aufforderung Folge leisten, scheinbar wie von selbst als exklusive „Islamkritik“ zu erkennen gibt, findet zumindest bei Kunstreich den Versuch einer Rechtfertigung durch den Hinweis, dass die christlich-fundamentalistische „Moral Majority in den Vereinigten Staaten nie einen terroristischen Flügel“ hatte (S. 230). Sehen wir einmal von den seit 1973 verübten 41 Bombenanschlägen und 173 Brandstiftungen gegen Abtreibungskliniken ab, ist die Frage, ob diese unterstellte Differenz rein auf der Ebene der Ideologie anzusiedeln wäre oder nicht vielmehr auf die unterschiedlichen Ermöglichungsbedingungen verweist: hier das Agieren der evangelikalen Fundamentalist_innen in den Schützengräben der amerikanischen Zivilgesellschaft, dort das Parasitieren der Dschihadisten an lokalen Gewalträumen im Gefolge von Bürgerkriegen und imperialen Invasionen.

Wie fiktional die essentialistische Konstruktion eines friedfertigen Christentums ist, zeigt jedoch die Rechtfertigung des Massenmords in Orlando durch Pastor Steven Anderson:

„Diese Homosexuellen sind ein Haufen Perverser und Pädophiler, das ist, wer das Opfer hier war, ein Haufen ekelerregender Homosexueller in einer Schwulenbar. […] Die schlechte Nachricht ist, dass viele der Homos in der Bar noch immer am Leben sind, so dass sie weiter Kinder belästigen und Menschen in ihren schmutzigen homosexuellen Lebensstil rekrutieren werden“ (zit. n. Tashman 2016).

Durch die Gleichsetzung mit Pädophilen versucht Anderson auf seinen Missionsreisen in Afrika, eine Hysterie unter der lokalen Bevölkerung anzustacheln und so die Einführung der Todesstrafe für Homosexuelle zu bewerben. Im Hinblick auf den Anschlag in Orlando verkündet er deshalb: „Die Menschen hätten in jedem Fall getötet werden sollen, aber sie hätten getötet werden sollen durch die richtigen Kanäle, sie hätten hingerichtet werden sollen durch eine rechtmässige Regierung” (zit. n. Tashman 2016). Vor seinen Aktivitäten gewarnt, verweigerte Südafrika ihm im September 2016 die Einreise, und Botswana liess ihn nach einer Hasspredigt in der grössten Radiostation des Landes festnehmen und ausweisen.

Anderson orientiert sich in Stil und Taktik an den erfolgreicheren Missionsreisen von Pastor Scott Lively, der 2006 mit lettischen Evangelikalen die homophobe Hassgruppe „Watchmen on the Walls“ gegründet hatte und eine 50-Städte-Tour durch die ehemalige Sowjetunion antrat, um an Universitäten sowie in persönlichen Treffen mit Mitgliedern des Parlaments für die Einführung nationaler Gesetze zu werben, die die „öffentliche Befürwortung von Homosexualität“ unter Strafe stellen. Die Umsetzung dieser Forderung in acht der neun von ihm bereisten Länder betrachtet Lively dabei als sein grösstes Verdienst. 2012 wurde er in Massachusetts schliesslich von der Gruppe Sexual Minorities Uganda wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, weil er sich in ihrem Heimatland aktiv an der Verfolgung ihrer Community beteiligt habe. Obwohl der Richter zu erkennen gab, dass er den Vorwurf für substanziiert halte, wurde die Klage nach fünf Jahren abgewiesen, weil der Supreme Court in der Zwischenzeit entschieden hatte, dass Völkerrechtsverstösse von US-Bürgern im Ausland nicht unter die Rechtsprechung amerikanischer Gerichte fallen.

Bloss kein linker Kulturrelativismus

Dass sich Verbrechen wie die Ermordung des LSBT-Aktivisten David Kato in Uganda auch in Ländern mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung ereignen, wird für Beissreflexe-Koautor Vojin Saša Vukadinović zum Anlass, so zu tun, als ob es sich bei der weltweiten homophoben Gewalt um ein vorwiegend muslimisches Problem handle. So beginnt er seinen Artikel mit einer Reihe von Zeitungsüberschriften, die ausschliesslich auf Akte der Grausamkeit in der sogenannten Islamischen Welt Bezug nehmen und deshalb von queeren und postkolonialen Autor_innen totgeschwiegen würden. Leider interessiert sich aber auch Vukadinović nicht für diese Ereignisse oder versucht gar, sie zu rekonstruieren und in einen politischen Kontext einzuordnen. Denn dann würden ja die gesellschaftlichen Widersprüche deutlich, während es dem Autor aber gerade um den Anschein kultureller Homogenität geht.

Da ist zum Beispiel das Attentat auf Xulhaz Mannan, den schwulen Redakteur eines LSBT-Magazins im streng säkularistischen Bangladesch. Die einzige religiöse Partei, Jamaat-e-Islami, hatte hier 1991 einen Überraschungserfolg mit sage und schreibe 12,1 Prozent der Stimmen, sank aber in den folgenden Jahren schnell wieder auf ihren Anfangswert von knapp unter 5 Prozent. Als die Partei als „Königsmacher“ nicht mehr gebraucht wurde, kam es in der Zeit zwischen 2013 und 2015 zu einer Verhaftungswelle, bei der ein Grossteil ihrer Führung wegen Verbrechen im Unabhängigkeitskrieg von 1971 zum Tode verurteilt wurde. Die Partei selbst wurde zwar nicht aufgelöst, aber durch das Oberste Gericht von den Wahlen ausgeschlossen. Dies führte zur Radikalisierung eines Teils ihrer Anhänger, der auf seine politische Auslöschung mit einer Welle von tödlichen Macheten-Angriffen reagierte. Es traf vor allem junge, säkularistische Aktivisten, darunter auch Xulhaz Mannan, der als Organisator des jährlichen Regenbogen-Marsches für eine scheinbar religionslose Jugend stand.

Hätte Vukadinović mehr als nur die Überschrift zitiert, wäre für andere vielleicht deutlich geworden, dass Bangladesch kein islamisches, sondern ein laizistisches Land ist. Ein Land, in dem zwar 90 Prozent der Bevölkerung Muslime sind, die Islamisten aber einen Wähleranteil hinter sich versammeln, der sich in seiner Grössenordnung am ehesten noch mit den Ergebnissen rechter Parteien in Deutschland vergleichen lässt. Das ist insofern relevant, als Vukadinović homogenisierende Aussagen über „ganze Weltgegenden“ macht, die er unterschiedslos durch Barbarei, religiöse Finsternis und Unterdrückung gekennzeichnet sieht.

Der Blick in die Berichterstattung von CNN und BBC, gibt Vukadinović zu bedenken, sei heute allemal erhellender als der der in das Queer-/Poscolonial-Sortiment wissenschaftlicher Buchhandlungen. Man hätte sich nur gewünscht, er hätte diesen Blick auch selbst einmal gewagt. Denn englischsprachige Medien berichten nicht nur über Episoden islamistischer Gewalt, sondern versuchen auch, den Alltagserfahrungen mit gleichgeschlechtlicher Liebe und Lust auf die Spur zu kommen – wie etwa John R. Bradleys Essay „Gay Damascus“ im Spectator, der von Syriens Hauptstadt in der Zeit der friedlichen Massendemonstrationen gegen das Regime handelt: „Keiner der Männer, mit denen ich in dem Damaszener Café sprach, ist je belästigt worden, und sie spöttelten über die Idee – die von Schwulenrechtsaktivisten im Westen heftig beworben wird –, dass sie verfolgt seien“ (Bradley 2011; Übers. gk).

Anders im Königreich der Wahhabiten, wo eine fundamentalische Religionspolizei die Gesellschaft schon seit vielen Jahrzehnten in Fesseln hält. Doch Nadya Labis „The Kingdom in the Closet“, erschienen im Atlantic, vermittelt den Eindruck, dass sich nur wenige Männer von den angedrohten Strafen beeindrucken lassen. Das Cruising sei „ziemlich schamlos“, befindet ein schwuler Saudi-Amerikaner (Labi 2007; Übers. gk). Und in den Toilettenräumen der Mädchenschulen sehe es nicht viel anders aus. Manche empfänden jetzt allerdings auch Schuldgefühle – wegen der neuen Konzepte von Homo- und Heterosexualität aus dem Fernsehen und dem Internet.

Dagegen stellt der Journalist Mobeen Azhar mit seinem Artikel und Hörfunk-Feature „[Inside] Gay Pakistan” neben der leichten Verfügbarkeit von schwulem Sex selbst an öffentlichen Plätzen und Heiligenschreinen auch die Zwänge heraus, die sich aus der Verpflichtung auf die patriarchalen Institutionen von Ehe und Familie ergeben. Er bietet aber zugleich positive Gegenbeispiele wie das von Akbar und Ali, die sich mit der Unterstützung ihrer Familien ein gemeinsames Zuhause eingerichtet hätten. Hierfür musste sich Akbar bemühen, die Gunst von Alis Grossmutter zu gewinnen, der Matriarchin der Familie. Dabei ging es „nicht um ein ‚Coming-out' im formalen Sinn“ (Azhar 2013; Übers. gk), sondern darum, sie zu überzeugen, dass er ein guter Mensch sei und auf Dinge achtgebe.

Solche Beiträge sucht man bei Vukadinović vergeblich, weil für ihn Lesben und Schwule nur das Futter für eine neokonservative Weltsicht sind, in der der Westen für die Freiheit und der Süden für die Barbarei steht. Es ist eine bequeme Perspektive, die es ermöglicht, die Brutalitäten von Krieg und Besatzung in einen Akt der Selbstverteidigung der Zivilisation gegen den Islam umzudeuten. Dass Bomben und Checkpoints vor als LSBT angerufenen Individuen im Nahen Osten keinen Halt machen, stellt dabei scheinbar kein Hindernis dar, um sie für neokoloniale Diskurse zwangszuverpflichten.

Queere Muslime stehen uns im Weg

Und es ist diese Sichtweise, die auch die Angriffe mehrerer Autor_innen auf queere Aktivist_innen of Color erklärt. Bei Tjark Kunstreich sind es Eman Abdeladi und Muneer Ahmad, die nach dem Attentat in Orlando in Artikeln und Reden auf ihre doppelte Zugehörigkeit zur lesbisch-schwulen und muslimischen Community hingewiesen hatten. Kunstreich aber empfindet das als störend, weil es die Einstellung eines „Don't fuck with us!“ untergrabe. Dies führt schliesslich so weit, dass er den Autor_innen gar ihr eigenes Queersein abspricht: „Könnte es sein, dass damit schlicht nur eine Haltung verbunden ist, aber keineswegs Homo- oder Transsexualität“ (S. 233)? Lesbische und schwule Muslime existieren in diesem Kopf eben nur als Opfer und nur insofern, als man sie für einen Generalverdacht gegen die muslimische Gemeinde instrumentalisieren kann. Entsprechend findet in Kunstreichs Artikel auch die durch amerikanische Medien verbreitete Erklärung des Council of American-Islamic Relation (CAIR) keine Würdigung.

Die grösste muslimische Bürgerrechtsorganisation der Vereinigten Staaten hatte nach dem Anschlag nicht nur ihre Sympathien mit der LGBT-Community ausgedrückt, sondern auch klar Schiff gegen jede Form von Homophobie gemacht: „Wir dürfen eine hasserfüllte Rhetorik, die zu Gewalt gegen Minderheiten aufstachelt, nicht tolerieren. [...] Homophobie und andere Phobien rauben jeden Tag Leben in diesem Land und wir müssen für die Opfer und ihre Familien aufstehen” (zit. n. Johnson 2016; Übers. gk). Ausserdem erklärte CAIR-Vorsitzender Nihad Awad „Homophobie, Transphobie und Islamophobie“ zu „miteinander verknüpften Systemen der Unterdrückung“ (zit. n. Johnson 2016), die nicht unabhängig voneinander niedergerissen werden könnten. Was bei Kunstreich vermutlich einen Herzanfall auslöste, war für junge, queere Muslim_innen ein wichtiges Zeichen, dass sie mit ihren Sorgen nicht allein sind.

An der Einleitung der Herausgeberin wird deutlich, wie sehr das Buch den Geist einer Sehnsucht nach Rückkehr zu den einfachen Identitätspolitiken der 1970er Jahre atmet. Damals musste man sich nicht fragen, wie Homosexuelle in dieser Gesellschaft als „Andere“ hergestellt werden, sondern konnte, gerade umgekehrt, die Anerkennung als dieser Andere verlangen, ohne dass dies sogleich als Unterwerfung sichtbar wurde. Der Sammelband löscht die gesamte Reflexionsarbeit des Mainstreams konstruktivistischer schwuler Historiker, für die ja nicht nur der Name Michel Foucault steht, einfach aus. Ebenso werden die intersektionalen Ansätze des Feminismus, welche sich im Zuge langer Kämpfe herausgebildet haben, kurzerhand über Bord geworfen.

Anscheinend hat bell hooks ihre Bücher ganz umsonst geschrieben. In der Retro-Welt, die so entsteht, muss man sich nicht mehr fragen, ob konfrontative Strategien in jedem Falle sinnvoll und befreiend sind, oder sich Gedanken darüber machen, was es bedeutet, wenn die eigenen Identitätspolitiken durch neoliberale Politiker_innen und neurechte Kulturkrieger_innen für ihre Zwecke angeeignet werden. Und so ist der Sammelband, auch wo er eine verständliche Abneigung gegen die Beicht- und Busspraktiken der queeren Szene bedient, vor allem selbst ein einziges Dokument der politischen Regression.

Georg Klauda
kritisch-lesen.de

Patsy l'Amour laLove (Hg.): Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Querverlag, Berlin 2017. 272 Seiten, Paperback. SFr. ca. 21.00 ISBN: 978-3-89656-253-1

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