Verfehlte Erinnerungsstrategien
Adamczak ist überzeugt, dass eine Verleugnung des kommunistischen Terrors der Vergangenheit jedem kommunistischen Projekt der Zukunft nachhaltig schadet. Es helfe weder, einen wie auch immer identifizierten „wahren Marx“ gegen den Stalinismus in Stellung zu bringen, noch, der Bewegung zur Verwirklichung einer herrschaftsfreien Welt einen neuen Namen zu geben.Sowohl die Rehabilitierungsversuche von antiautoritären Marxolog:innen als auch Experimente eines Neuanfangs – gegenwärtig versuchen etwa Anhänger:innen des „Commonismus“ Praxen der solidarischen (Re-)Produktion mit einem neuen, unschuldigen Namen zu betiteln – könnten Adamczaks Diagnose folgend als verfehlte Erinnerungsstrategien interpretiert werden. Denn beide weichen einer paradoxen Wahrheit aus, deren Anerkennung gerade aufgrund ihres aporetischen Charakters schwer in konkrete Erinnerungspraxen integriert werden kann: Der Stalinismus „war nicht der Kommunismus, aber [er] war gleichzeitig nicht nicht der Kommunismus“ (S. 56).
Erst die Akzeptanz dieser paradoxen Wahrheit ermögliche eine schmerzliche Geschichtsarbeit, die ohne das „Phantasma einer unschuldigen Position“ (S. 26) auskommt. Adamczak fordert von Kommunist:innen, ihre Beziehung zu den Ursachen des grausamen Umschlags von Befreiung zu Terrorherrschaft zu klären. So stellt sie etwa die Frage, warum so viele Kommunist:innen Angst vor dem Bruch mit der Partei hatten.
Adamczak glaubt nicht, dass allein strategische Erwägungen und äussere Umstände die Kommunist:innen an die Partei gebunden haben. Stattdessen resultierte die Angst vor dem Bruch laut Adamczak oft aus einem metaphysischen Glauben an die siegreiche Zukunft, an die von der Partei verkörperte Verknüpfung von Macht und Wahrheit, an die historisch einmaligen Versprechen der kommunistischen Bewegung. Die Zukunft rechtfertigte die Gegenwart, der Zweck heiligte die Mittel. Der Bruch mit der Partei hätte im damaligen Europa unweigerlich in die absolute Einsamkeit geführt.
Sieg und Scheitern der Revolution als notwendige Einheit
Adamczak beschreibt, wie die Aufständischen von Kronstadt den Bruch dennoch gewagt haben. Sie verpflichteten sich ausschliesslich dem Versprechen der Revolution und forderten 1921 Selbstbestimmung statt Parteiherrschaft – und wurden auf Trotzkis Befehl hin vernichtend geschlagen. Vielleicht wäre die Kronstädter Forderung die nächste Stufe der Revolution gewesen? Diese Frage lässt Adamczak unbeantwortet und verweist auf das tragische Verhältnis von Revolution und Konterrevolution: Die Gewalt der Konterrevolution hat die bolschewistischen Revolutionär:innen bis zur Paranoia kontaminiert. Der Sieg im Bürgerkrieg musste demnach zum Scheitern des Kommunismus führen. Diese Aporie kann nicht einseitig aufgehoben werden, sie ist laut Adamczak nicht theoretisch lösbar. Sie kann nur in konkreter Praxis als Widerspruch insgesamt bekämpft werden.Es ist die grosse Stärke des Essays, dass Adamczak sich ihres eigenen Wissensvorsprungs bei der rückblickenden Kritik bewusst ist. Immer wieder reflektiert sie die historischen Bedingungen und behauptet nicht, dass sie in der vergangenen Gegenwart klüger gehandelt, es besser gewusst, hätte. Adamczak erkennt damit das Marxsche Diktum an, dass die Menschen ihre Geschichte unter unmittelbar vorgefunden Umständen machen.
Sie wird aber auch dem ersten Teil des berühmten Satzes von Karl Marx aus dem 18. Brumaire gerecht: Die Menschen machen ihre eigene Geschichte. Die materielle und historische Struktur begrenzt die Handlungsfreiheit der Handelnden, gleichzeitig ist diese Struktur aber auch eine Folge von menschlichen Entscheidungen, die reflektiert werden müssen. Der ausschliessliche Fokus auf die Umstände tendiert hingegen zur Schuldabwehr.
Unter diesen Prämissen zu erinnern könnte also zweierlei erfordern: kritische Distanz und empathische Nähe zu vergangenen Kämpfen. Adamczak ist dieser Balanceakt eindrucksvoll gelungen.
Erinnern ans Träumen als kollektive Tätigkeit
Adamczak zeigt, wie allein die Existenz der Sowjetunion mit ihrem einzigartigen Versprechen, erstmals in der Menschheitsgeschichte den Sprachlosen eine Stimme zu geben, auf die Revolutionär:innen eine grössere Wirkung ausübte als jede Wahrheit ohne Macht. Dass dieses Versprechen nicht eingelöst wurde – schlimmer noch: in sein Gegenteil umschlug – mündete in der Resignation der 1990er Jahre. Der Verlust der Hoffnung, eine Affirmation des Bestehenden und ein resignativer Realismus sind die ideologischen Formen des konkreten geschichtlichen Verlaufs.Teil dieser Geschichte sind aber nicht nur die grossen politischen und ökonomischen Entwicklungen, sondern auch eine fehlgeleitete Praxis des Erinnerns. Denn Adamczak sieht einen Grund des gegenwärtigen Utopieverlustes in der verdrängten Trauer um das Mögliche. Die Möglichkeit der umfassenden Herrschaftsfreiheit wurde vom Kommunismus in die Welt gesetzt.
Dieses historische Versprechen sollten heutige Kommunist:innen erinnern, um die Begierde nach einer klassenlosen Gesellschaft zu wecken, ohne die gewaltvolle Geschichte dieses Versprechens von ihrer eigenen Identität abzuspalten. Es geht demnach nicht um das Betrauern eines metaphysischen Glaubens an die Erlösung, der die Kontingenz der Geschichte radikal verleugnet. Sondern um ein Erinnern an das Träumen, das von Kommunist:innen Anfang des 20. Jahrhunderts als kollektiv geteilte Tätigkeit begriffen wurde.
Literarische Rekonstruktion kommunistischer Ästhetik
Um zu bergen, was damals wünsch- und denkbar war, ruft Adamczak Zeitzeugen wie Manès Sperber, Franz Jung oder Georg Glaser an. In ihren autofiktionalen Erzählungen schildern diese Schriftsteller die damaligen Gefühle und Erfahrungen, Bilder und Träume, vor allem aber die entsetzliche Einsamkeit enttäuschter Revolutionär:innen. Weil Trauerarbeit nicht betrauern kann, was nicht da war, trauert Adamczak um die nicht erfüllten Träume. Denn die Träume waren real und sind es heute nicht mehr, da sie vom Albtraum der Geschichte überlagert wurden.Der Essay liefert keine Antworten auf praktische Fragen der Revolution und kein Rezept für einen Umgang mit der Zukunft. Er zeigt aber auf, wie vergangene Träume literarisch rekonstruiert werden können und wie eine erinnerungspolitische Spurensuche rückwärts tastend Fehlentscheidungen kritisieren und die unerfüllte Zukunft der Vergangenheit hervorholen kann, ohne die geschichtlichen Zwänge der damaligen Aktivist:innen zu verkennen. Ein spannender methodischer Zugang, den Bini Adamczak im 2017 veröffentlichten Text „Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman“ mit einer eventualgeschichtlichen Betrachtung der Russischen Revolution noch konkreter zur Anwendung gebracht hat.