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Peter Schadt: Digitalisierung

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Peter Schadt: Digitalisierung Ausbeutungsmaschine

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Sachliteratur

Mit der Digitalisierung werden die Schrauben der Rationalisierung angezogen. Arbeit wird billiger und verdichtet, aber nicht überflüssig.

Industrieroboter bei Tesla an einem Model S.
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Industrieroboter bei Tesla an einem Model S. Foto: Steve Jurvetson (CC-BY 2.0 cropped)

Datum 14. Juli 2023
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Die Digitalisierung läuft auf Hochtouren. Begeistert sind aber wohl nur noch die PR-Agenten des Kapitals, und auch sie zunehmend verhaltener. Selbst sie machen sich Sorgen, dass ChatGPT das Zeug hat, sie zu ersetzen. Gerüchte, dass der Schritt zur gefühlsbegabten KI vollzogen sei, ruft die notorischen Warner auf den Plan, die gesellschaftlichen Folgen zu bedenken, wenn die KI die dunklen Seiten ihrer Persönlichkeit entdeckt – und auslebt. Elon Musk & Co. fordern daraufhin ein Moratorium auf KI-Forschung, und aufmerksame Beobachter:innen fragen sich, ob das nicht auch wieder nur ein Werbecoup ist.

Vor einigen Jahren noch liessen sich viele, auch Linke, vom Digitalisierungsoptimismus eines Paul Mason anstecken, der dem tendenziellen Fall der Profitrate einen neuen, ermutigenden Twist gegeben hatte: Die Digitalisierung eröffnete hiernach die Möglichkeit, sozusagen in den Falten des Kapitalismus, diesen zu überwinden. Und dies gerade wegen der Besonderheit, die die Informationstechnologie vor ihren analogen Pendants auszeichnet, nämlich zu ihrer Vervielfältigung praktisch keiner Arbeit mehr zu bedürfen. Produktion auf der Grundlage dieser Technik hat, so schwelgte man, im Prinzip also bereits den Übergang einprogrammiert zum „Postkapitalismus“ (so auch der Titel seines 2016 erschienen Buches).

Seither ist die Zuversicht der Ernüchterung gewichen. Weder ist die Produktion auf dem Weg, von der Waren- auf Gebrauchsgüterwirtschaft umzustellen, noch haben sich die Erwartungen erfüllt, dass mithilfe der digitalen Techniken andere Formen der sozialen Praxis allgemein werden: Sharing-Ökonomien sind von Plattform-Ökonomien übernommen worden; die Organisierung einer kritischen Masse bleibt das kleinteilige Geschäft, das es von jeher war, aus dem Flashmob will einfach keine soziale Bewegung werden.

Folgen der Digitalisierung

Die Digitalisierung ist schal geworden. Wir haben in ihr nicht den Algorithmus der Befreiung gefunden. Schon die Verwendung des Begriffs zur Beschreibung eines sozial-technologischen Komplexes muss sich den Vorwurf gefallen lassen, damit im Grunde das System zu affirmieren, wie Tom Strohschneider in der OXI bereits vor über drei Jahren festhielt. Er ist verbraucht und taugt nicht mehr zur emanzipatorischen Emphase. Das sollte uns aber nicht davon abhalten, uns weiter mit dem Phänomen zu befassen. Mit fortschreitender Durchdringung sind die Konsequenzen der digitalen Techniken aktueller denn je: für die Gesellschaft, für die Art, wie wir produzieren und konsumieren, wie und unter welchen Bedingungen wir arbeiten.

Peter Schadt hat in der Reihe Basiswissen von PapyRossa eine kleine Einführung zur Digitalisierung vorgelegt, die sich derartigen Folgeabschätzungen widmet. Er steht damit keineswegs allein. Doch seine Einführung sticht insofern heraus, als sie die Digitalisierung in der Produktion und spezifischer in der Automobilindustrie betrachtet. Es geht darum, die Folgen der Digitalisierung auf den Gesamtprozess der Reproduktion des Kapitals – dort also, wo sich Produktions- und Zirkulationssphäre verschlingen – in den Blick zu bekommen. Da erweist es sich als hilfreich, dass er gleich zu Anfang mit der Vorstellung aufräumt, die Folgen liessen sich aus den Besonderheiten der digitalen Technik ermitteln. Nicht die Technik als solche ist entscheidend, sondern wer die Technik zu welchem Zweck einsetzt und dies meint, die Digitalisierung mit den jeweils eigenen Zielsetzungen vorantreibt.

Wahre Interessen

Wofür das Buch bei der Digitalisierung interessieren will, sind ihre Akteure und deren Interessen. Folgerichtig sind die vier Kapitel des Buches jeweils einem der Akteure gewidmet: den Unternehmen, dem Staat, den Lohnabhängigen und den Ideologen.

Wie die Verhältnisse beschaffen sind, kann es nicht überraschen, dass die Folgen der Digitalisierung dem Zweck der kapitalistischen Produktionsweise entsprechen: der Mehrung der Profite, indem die Arbeitskraft ausgebeutet wird. Egal ob in der Smarten Fabrik oder im Internet der Dinge, mit dem Einsatz und der Vernetzung von digitalen Techniken zielen die Unternehmen stets auf die Steigerung der Profitrate. Sie erwarten von der Digitalisierung höhere Profite durch Verbilligung und Verdichtung von Arbeit, durch die Beschleunigung der Umschlagszeiten, durch die Erweiterung von Marktanteilen. Der Staat ist dem Kapital verpflichtet, daran ändert auch die Digitalisierung nichts, weil er die Voraussetzungen für die Kapitalakkumulation schafft und erhält. Er setzt ihre Rahmenbedingungen durch Infrastruktur und Recht und sichert sie, im Zweifel auch militärisch, ab. Die Lohnabhängigen erleben, dass ihre Tätigkeiten immer fragmentierter, einseitiger, langweiliger und gleichzeitig stressiger werden.

Überdies sehen sie, dass ihre Aufgaben auf ein immer kleinteiligeres Format heruntergestutzt werden, was vorausverweist auf ihre baldige Ersetzung durch eine mehr oder minder intelligente Softwarelösung. Ersetzt werden sie allerdings nur dann, wenn die Kosten für die digitalen Maschinen niedriger sind als ihre Lohnkosten; solange dies nicht der Fall ist, dürfen sie sich weiter abrackern. Den Ideologen liefert die Digitalisierung den Stoff für ihre Narrative. Sie spinnen Erzählungen von einer unpersönlichen Kraft, der wir uns nicht entziehen können; sie rufen auf zu verhindern, dass die Maschinen übernehmen und appellieren an einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz; sie fordern, uns die Arbeit zu erhalten, indem alles dafür getan werde, das Potenzial der Digitalisierung freizusetzen; sie geben vor, uns von den Banken und anderen Intermediären durch Kryptowährung zu befreien.

Das Buch liefert keine Anhaltspunkte, wo sich Gegenkräfte formieren und wo sie ansetzen sollten. Ebenso erfahren die Leser:innen nichts darüber, wo sich Widerstand gegen die Folgeerscheinungen der Digitalisierung bereits artikuliert. Es kümmert sich nicht um die Gegenmacht. Aber es diskutiert kritisch (mögliche) Gegentendenzen, die auf den ersten Blick geeignet scheinen, einige Wirkungen des digitalisierten Kapitalismus abzubremsen.

Kommunitaristische Produktionsgemeinschaft statt kommunistischer Produktionsweise?

Der Ruf nach einem gemeinsamen Standard, den die umfassende Vernetzung der Maschinen und Dinge durch Vereinheitlichung von Protokollen und Dateiformaten erfordere, ist in der öffentlichen Diskussion zur Digitalisierung schon zum Topos geworden. Damit verbindet sich die Erwartung, die einzelnen Unternehmen aus der Tech-Branche und der Fertigungsindustrie sollten und könnten im gemeinsamen Interesse ihr Eigeninteresse zurückstellen. Konkret meint das, ihre idiosynkratischen, das heisst herstellerspezifischen Datenformate zugunsten einer einheitlichen Lösung aufzugeben.

Der Standard wird als das gemeinsame Ziel zum Nutzen aller stilisiert – der im Feld tätigen Unternehmen, ebenso wie der Gesellschaft insgesamt. Denn nur wenn alle Produkte, Maschinen wie Endprodukte, tatsächlich miteinander kommunizieren können, indem der Datenaustausch reibungslos funktioniert, kann die Smarte Fabrik und das Internet der Dinge Wirklichkeit werden. Die Vereinheitlichung von Protokollen, der Standard, ist dafür nicht der einzige Weg, aber unzweifelhaft der effizienteste. Eine Einigung ist indessen nicht in Sicht.

Schadt erteilt all denen eine Absage, die auf eine faire Aushandlung des Standards oder auf die beste Lösung als Standard hoffen. Die Erfahrung aus der Vergangenheit spricht ohnehin eher dafür, dass am Ende einer der Big Player seinen Standard den anderen aufdrücken wird. Die Digitalisierung nötigt die Kapitalisten zur Kooperation, schafft aber nicht die Voraussetzungen dafür. Die Konkurrenz kann auch von den Kapitalen selbst nicht zugunsten einer Produktionsgemeinschaft überwunden werden. Sie handeln strategisch und einige Strategien favorisieren Transparenz vor Geschäftsgeheimniskrämerei. Aber nicht die Digitalisierung drängt die Kapitale zu einer Open-Source-Politik, sondern manchmal ist die Open-Source-Politik die erfolgreichste Strategie, um in der Konkurrenz zu bestehen.

Ausbeutung und Produktivität

Im letzten Teil des Buches nimmt Schadt den Faden noch einmal auf. Unter der Frage „Geht uns die Arbeit aus?“, so die Überschrift des letzten Unterkapitels, widmet er sich den Versuchen, aus eben dem Widerspruch herauszufinden, der sich aus den Konsequenzen der Digitalisierung zu ergeben scheint: Wenn die digitalen Techniken langfristig die menschliche Arbeitskraft ersetzten, bedeutet dies nichts anderes, als dass die Lohnarbeit verschwindet – und, so kann man ergänzen: die kapitalistische Produktionsweise an ihr Ende gelangt. Für diese Frage erweist sich die Wachstumslogik des Kapitalismus als richtungsgebend, und zwar unabhängig davon, ob man dabei hoffnungsvoll einem Postkapitalismus à la Mason entgegenblickt oder bei den düsteren Aussichten auf Krise und Zusammenbruch erschaudert.

Der Zwang zur Produktivitätssteigerung, der den Kapitalismus ausmacht, kann aussehen, als wäre er sein Selbstreperaturmechanismus. Er bewahrt den Kapitalismus davor, sich selbst aufzuheben. Produktivitätssteigerung hat eine Ausweitung der Produktion zur Folge und dies wiederum, dass, absolut gesehen, auch wieder mehr Arbeitskraft nötig wird. Stellvertretend für diese Sicht zitiert Schadt Michael Frenzel,

„Kommunalpolitiker und bis 2013 Vorstandsvorsitzender der Preussag AG bzw. der TUI AG und Gründungsmitglied des Wirtschaftsforums der SPD: ‚Erst wenn der Produktivitätszuwachs das Wirtschaftswachstum überholt, wird es für Arbeitsplätze gefährlich'.“ (S. 108)

In dieser Logik hängt also alles daran, dass die Produktivität tatsächlich durch die Digitalisierung gesteigert wird und die so erzeugte Flut an Waren auch verkauft wird. Anders als Schadt könnten die Leser:innen nun darauf verfallen, dem Ideologen Frenzel das Produktivitätsparadox entgegenzuhalten, nach dem die Steigerung der Produktivität in den letzten Jahren, relativ gesehen zu den massiven Investitionen in digitale Techniken, wider Erwartungen ausbleibt.

Was also bräuchte es zum Takeoff in Sachen Produktivitätssteigerung durch Digitalisierung oder anders gefragt: Warum bricht mit dem sich digital erneuerten Kapitalismus nicht der nächste Wachstumszyklus an? Würde Schadt am Ende seines Buches tatsächlich diese Frage stellen, dann fühlte der Leser oder die Leserin sich womöglich mit der Lektüre wieder an den Anfang verwiesen – sicherlich nicht der beste, da irgendwie zyklische, Schluss für eine Einführung ins Thema.

Aber das Problem ist ohnehin nicht das Produktivitätsparadox, denn die masslose Produktivitätssteigerung ist selbst höchst prekär. Sie ist darauf angewiesen, sich stets neue Absatzmärkte zu schaffen, soll sie nicht unweigerlich auf eine Überproduktionskrise zusteuern. Doch Schadt gibt den Leser:innen am Ende, dem echten Ende des Buches, noch eine bedenkenswerte Einsicht mit auf den Weg. Sie nämlich bestimmt das Verhältnis von Produktivität und Arbeit als das, was es ist: Ausbeutung von Arbeitskraft. Die Digitalisierung hebelt nicht das Wertgesetz aus. Darum ist die Produktivität nicht auf die Verringerung der Arbeitskraft zu beziehen, sondern auf die Verringerung der Arbeitskosten. Die Steigerung der Produktivität steht im Verhältnis zur Intensivierung der Arbeit, nicht zu ihrer Ablösung.

Theresa Hanske
kritisch-lesen.de

Peter Schadt: Digitalisierung. PapyRossa, 2022. 118 S., ca. 16.00 SFr., ISBN 978-3-89438-783-9