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Urbane, reflektierte Wut

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Robert Sommer: Wie bleibt der Rand am Rand Urbane, reflektierte Wut

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Sachliteratur

Das gegenwärtige System produziert unweigerlich und unaufhörlich einen sozialen Rand. Robert Sommer schreibt von diesem „Alltag der Repression und Exklusion“ anhand des Beispiels Wien.

Obdachlose halten sich immer noch gerne auf Bahnhöfen auf. Obwohl man ihnen alles genommen hat, was ihre Anwesenheit am Bahnhof halbwegs erträglich macht. Wien Mitte, Kunst Installation.
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Obdachlose halten sich immer noch gerne auf Bahnhöfen auf. Obwohl man ihnen alles genommen hat, was ihre Anwesenheit am Bahnhof halbwegs erträglich macht. Wien Mitte, Kunst Installation. Foto: Gugerell (PD)

Datum 4. Juli 2016
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Der oder die Obdachlose, der/die in Wien auf der Strasse steht mit einer Zeitschrift zum Verkauf auf der in grossen Lettern Augustin steht, gehört nach Wien wie der leicht charmante, leicht grantige (schlecht gelaunte) Kellner im Wiener Kaffeehaus – ein Klischee übrigens, das als eines der wenigen tatsächlich immer wieder zutrifft. Nur: ein entscheidender Unterschied zum Kellner tut sich dann doch auf. Sind diese begehrt bei TouristInnen und WienerInnen gleichermassen, ist der/die Augustin-VerkäuferIn ein nicht wirklich willkommener Teil der fröhlichen Mischung aus Stephansdom, Wienerschnitzel und Fiaker. Und das trifft nicht nur für den noblen 1. Bezirk zu, über den der „Innenstadtmetternich Ursula Stenzel“ (S. 32) von der konservativen Österreichischen Volkspartei wacht (ja, das darf als Drohung verstanden werden).

Die Menschen, die die Strassenzeitung Augustin verkaufen und/oder für sie schreiben, ein System, das sie exkludiert und mit Repressalien überzieht und was daraus für Geschichten, Schicksale und skandalöse Normalzustände entstehen, ist der Fokus von „Wie bleibt der Rand am Rand“. Geschrieben wurde es von dem Journalisten Robert Sommer, der 1995 den Augustin, diese „Tribüne textlicher Zeugnisse von Outsidern (…), denen die Mehrheit der Gesellschaft nichts anderes zutraut als ‚den Steuerzahlern' auf der Tasche zu liegen“ (S. 84), mit gegründet hat und seither mit dabei ist.

Repression und Exklusion

Der Autor führt den/die LeserIn mit seinen Reportagen in verschiedene Bereiche, in denen diese Marginalisierten, die aus unterschiedlichen Gründen an den sozialen Rand gedrängt werden, landen. Eben jener soziale Rand hat, wie man schon im Klappentext erfährt, laut dem Autor systemstabilisierende Wirkung. Es bilde sich eine „soziale Schicht (…) deren Integration – entgegen allen politischen Beteuerungen – nicht vorgesehen“ sei.

Die Bereiche, auf die der Autor thematisch eingeht sind die Stadt und damit verbundene Phänomene wie Gentrifizierung oder soziale Säuberung; die Obdachlosenszene auf Wiens Bahnhöfen und wie sich der Charakter dieser Beziehung im Laufe der Zeit änderte; Fragen zum Straf- und Gefängnissystem; das Thema Psychiatrie und ihre Rolle in unserer Gesellschaft; Alten- oder SeniorInnenheime, die Sommer in Anlehnung an Erving Goffman als ein Beispiel einer „totalen Institution“ (S. 105) bezeichnet; Drogen und Drogenpolitik; sowie die Entwicklungen, die sich in der „BettlerInnenszene“ seit der EU-Osterweiterung getan haben und der begleitet wird von einem antiziganistischen Backlash. Abgerundet wird das Ganze von einer Art Pro- und Epilog, die allgemeine Reflexionen zu bereits Geschriebenem oder Neuem enthalten. Wie sich im Laufe der Lektüre herausstellt, schreibt der Autor über all dieses Felder sprachlich hervorragend, politisch radikal und ohne naive Illusionen – eine wahre Wohltat!

Von Bahnhöfen, Gefängnissen und Psychiatrien

Robert Sommer beginnt seine Ausführungen mit einem Kapitel zur (neoliberalen) Stadt und ihr Verhältnis zu jenen, die sich nicht in eine Verwertungs- und Nützlichkeitslogik einfügen wollen oder können. Als Augustin-Mitarbeiter hat er hier einiges zu berichten: „Ich glaube, niemand (ausser der Polizei) verfügt über eine grössere Sammlung der Grausamkeiten auf dem Gebiet der Unsichtbarmachung oder Vertreibung der Armen aus den Kommerzzonen der Stadt als der ‚Augustin'“ (S. 27f). Begleitet wird dieser Teil des Buches von teils skurrilen, teils erschreckenden Geschichten über realsatirische Verordnungen, wie man beispielsweise StrassenmusikerInnen oder BettlerInnen ihr Handeln verbieten könnte. Das reicht dann von Gesetzen, die „unbegründetes Stehen“ (S. 26) illegal machen oder die Kunststücke von StrassenkünstlerInnen zum Sicherheitsrisiko hochstilisieren.

Auch das Thema Bahnhof – Sommer nennt sie „klimatisierte Shopping-Center mit Gleisanschluss“ (S. 46) – ist eines, das man zwangsläufig diskutieren muss, setzt man sich mit Obdachlosigkeit in der Stadt auseinander.

„Obdachlose halten sich immer noch gerne auf Bahnhöfen auf. Obwohl man ihnen alles genommen hat, was ihre Anwesenheit am Bahnhof halbwegs erträglich macht. (…) In modernen Bahnhöfen haben private Uniformierte alle Freiheit der Welt, um die Polizei zu ersetzen und um die Nicht-Teilnahme am Konsumieren im besten Fall ‚nur noch dieses eine mal' zu tolerieren. Warum sich Obdachlose immer noch gerne in und um Bahnhöfe(n) aufhalten, obwohl hier ihre Präsenz schon an den Drehkreuzen der 50-Cent-Toiletten-Eingängen symbolisch zermalmt wird, ist ein Rätsel. Oder auch nicht. Die Unerwünschten haben das prinzipiell feindliche Verhalten der Umgebung in ihren Alltag längst integriert. Sie sind resistent gegen eine Architektur, in denen die Überwachungskameras wie die Pechrinnen der Ritterburgen ausschauen. Aus diesen immer auf die Subalternen gerichteten Kameras tröpfelt das Pech der Verachtung.“ (S. 46)

Bei seinen Reflexionen zum Thema Gefängnisse wird klar, warum sich Sommer auch gerne mal auf den Anarchisten Erich Mühsam bezieht, denn seine Kritik geht stark in Richtung der völligen Überwindung des Gefängnis- und Strafsystems. Den Kriminalsoziologen Wolfgang Stangl zitierend, dass das „Strafrecht und die Psychiatrie die beiden grossen gesellschaftlichen Systeme bilden, die abweichendes Verhalten kontrollieren“ (S. 73), ergänzt der Autor: „[N]achdem sie es erzeugt haben, wie man im Sinne der Intention des vorliegenden Buches ergänzen könnte“ (S. 73).

Sommer ist nicht nur selbst ein brillanter Formulierer, bei dem man Lust hätte in Einem durch zu zitieren, er zitiert auch selbst Passagen, die nicht nur politisch, sondern auch literarisch von hohem Wert sind. So beginnt er sein Kapitel „Der Hammer der Diagnose“ zum Thema Psychiatrie mit einem Zitat von Ernst Kostal: „Psychiatrie – die Avantgarde reaktionärer Aggressivität und aggressiver Ausgrenzung der unter dem Vorwand des Krankheitsbegriffs von ihr zur Nichtzugehörigkeit Verdammten.“ (S. 84)

Bei all den behandelten Themen fädelt der Autor zwar immer wieder ausführlich persönliche Erlebnisse von Augustin-AutorInnen/VerkäuferInnen ein, behandelt derartige Themen aber auch von anderen Blickwinkeln, z.B. von jener der SozialarbeiterInnen. Er fragt hier z.B. in wie fern sich die Sozialarbeit in einem vom Neoliberalismus geprägten Umfeld verändert und entwickelt hat. Hier noch einmal am Beispiel Bahnhof dargelegt:

„In dem Masse, in dem neue Sicherheitsdienste entstehen und in dem ihre Zuständigkeit im öffentlichen und halböffentlichen Raum wächst, wird die Sozialarbeit, wie sie vor ihrer Instrumentalisierung durch die neoliberale Stadt definiert worden war, verdrängt.“ (S. 55)

Das teils überspitzte und scharfe Formulieren trägt zwar viel zur Qualität des Buches bei, der Vergleich von Bettelverboten in mehreren österreichischen Städten mit „neuerlichen ‚Endlösungen der Zigeunerfrage'“, die es „schon im Ansatz“ zu ersticken gelte (S. 152) – also offenbar eine Anspielung an die Ermordung Zehntausender Roma und Sinti in den Konzentrationslagern der Nazis –, ist dennoch ein rhetorischer Griff daneben.

Ähnliches mag man auch beim Vergleich des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (ein Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen) mit dem „Malleus Maleficarum“ (eher bekannt unter dem Namen „Hexenhammer“; eine 1486 veröffentlichte Schrift, die während der spanischen Inquisition zur Hexenverfolgung gebraucht wurde) denken. Wobei: Sommers Argumentation geht in die Richtung, dass Psychiatrie im Grunde genommen nichts anderes sei als ein Instrument zur Sanktionierung von Normabweichung. Dieser Logik folgend, scheint der Vergleich in Ansätzen auch wieder schlüssig – abhängig ist das freilich davon, ob man mit dieser These zu Psychiatrie grundsätzlich etwas anfangen kann oder nicht.

Städteübergreifende Relevanz

„Wie bleibt der Rand am Rand“ ist – inhaltlich und zum Teil auch sprachlich – ein zutiefst wienerisches Buch. Sommers teils bitter-ironische Ausführungen werden hier zur gnadenlosen Anklage und zur politischen Waffe gegen ein System, das an zahlreichen Fronten einen Krieg niederer Intensität gegen seine Marginalisierten führt. Die Überlegungen, die in diesem Buch angestellt werden, haben aber – und das ist wichtig – allgemeine Gültigkeit und städteübergreifende Relevanz. Sie sind für alle da, die schon immer urbane, „reflektierte Wut“ (S. 8) pointiert auf den Punkt gebracht lesen wollten. Und hierfür ist es egal, ob man in Wien, Hamburg, Kopenhagen oder sonst wo wohnt. Darum ist die Lektüre von Sommers Gedanken auch dann mit Nachdruck zu empfehlen, wenn man noch nie einen Fuss nach Wien gesetzt hat.

Sebastian Kalicha
kritisch-lesen.de

Robert Sommer: Wie bleibt der Rand am Rand. Reportagen vom Alltag der Repression und Exklusion. Mandelbaum Verlag, Wien 2011. 152 Seiten, 14.00 SFr, ISBN 978385476-606-3

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