Rudolf Czernin: Vom Liberalismus zur Anarchie Hardcore-Konservatismus is getting grumpy
Sachliteratur
Vor einer Weile habe ich mir ein richtig merkwürdiges Buch bestellt. Beim reisserischen Titel Vom Liberalismus zur Anarchie war mir bereits klar, dass ich es mit einem ultra-konservativen Autoren zu tun hatte.
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7. August 2024
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Korrektur
Im Unterschied jedoch etwa zum neofaschistischen Alain de Benoist, den er auch zitiert, vertritt er einen traditionalistischen, autoritären politischen Katholizismus. Deswegen bezieht er sich auch eher auf aristokratisch gesinnten Konservativen wie Eric Voeglin, Alexis de Toqueville oder Edmund Burke. In deren Sinne wettert Czernin gegen den „Multikulturalismus“, „Globalisierung“, die „Massengesellschaft“ sowie den Verfall der katholischen Kirche (womit er keineswegs deren Pädophilen-Skandale, sondern ihre ansatzweise Demokratisierung meint) und bezieht sich dabei auf den „Kampf der Kulturen“ von Samuel Huntington. Im gesamten Kulturbetrieb ist Czernins Ansicht nach ohnehin „Anarchie“ ausgebrochen (S. 109-148). Als Kur empfiehlt er schliesslich die Besinnung auf konservativ interpretierte Werte aus einem „Prinzipienfonds“, davon abschliessend passenderweise „Ordnung und Autorität“ (S. 161-175).
Doch einen skurrilen „Schriftsteller“ zu charakterisieren, war selbstverständlich nicht der Grund, warum ich mir dieses Buch organisiert hatte. Vielmehr erhoffte ich, Erkenntnisse über die ultra-konservativen Wahnvorstellungen von der Anarchie zu gewinnen. Langweiligerweise fielen diese mir sofort in die Augen. Ein besonderes Unbehagen hat Czernin mit den „Freimauern“, die er immer wieder erwähnt. Bis er endlich auch die „Protokolle der Weisen von Zion“ (vgl. Norman Cohn 1967) erwähnt, muss man sich aber etwas gedulden (S. 149-158). Hierbei scheint es nicht einmal ein cleverer Schachzug, sondern schlichtweg Blödheit, dass der Autor sofort feststellt, dass es sich hierbei um eine Verschwörungstheorie und Fälschung handelt – deren vermeintlichen Wahrheitsgehalt er aber nichtsdestoweniger suggeriert und damit seine antisemitische Grundeinstellung zur Schau stellt.
Vom philosophischen Rationalismus, über die Aufklärung, Rousseau, die Französische Revolution, den Deutschen Idealismus, hin zu Friedrich Nietzsche, dem Existenzialismus und Herbert Marcuses vermeintlichem „Anarcho-Nihilismus“ verwirft der Autor im Grunde genommen alle Errungenschaften der modernen Gesellschaftsform. In seinen Worten schreibt er zwischendurch zusammenfassend:
Das gemeinsame Kennzeichen dieser […] aufgezeigten Entwicklung vom Rationalismus Descartes bis zum Nihilismus ist die progressive Degradierung der Idee Gottes sowie die Säkularisierung kultureller Werte. Es begann mit dem (kartesianischen) Zweifel an allem und dem neuen Glauben an die Allmacht der menschlichen Vernunft. Damit setzte die geistige oder, besser gesagt, metaphysische Revolution ein. Sie deutete Gott ‚Vernunftgemäss' um, was zwangsläufig zur Abstrahierung und Entpersönlichung des christlichen Gottesbegriffs sowie zur Entstellung des wahren Menschenbildes führte. In der weiteren Folge lehnte sie sich gegen Gott auf. Am Wege dieser Auflehnung schritt sie weiter, bis auch das, was noch an Göttlichem in den Ideen und Prinzipien übrigblieb, verwandt. Auflehnung, Hass und schliessliches Versinken in völlige Bedetungslosigkeit stehen am Ende – das Ganze im Zeichen einer sich ständig steigernden Forderung nach ‚Mündigkeit', nach Unabhängigkeit und Freiheit des Menschen, der sich in zunehmendem Masse durch Gott beeinträchtigt fühlte. Bis schliesslich zur letzten Alternative: Freiheit des Menschen, oder Existenz Gottes. Denn wird die Freiheit absolut aufgefasst, so führt sie nicht nur zwangsläufig zur Anarchie, sondern sieht auch zwangsläufig im Gottesglauben ihr grösstes und letztes Hindernis. S. 100f.
Ein umfassender Auflösungsprozess greift um sich, indem es in unserem Leben fast nichts mehr zu geben scheint, was absolute Gültigkeit besässe, was feststeht, was nicht in Frage gestellt wäre oder gestellt werden könnte. Alle objektiv-sittlichen Werte und Normen, die dem Leben des einzelnen, der Familie, der Gemeinschaft und der Gesellschaft Sinn, Richtung, Ordnung und Gehalt verleihen, werden einem Lebensrationalismus geopfert, der allein in der Zweckmässigkeit und im materiellen Nutzen den eigentlichen Lebenssinn sieht. Der Wert des ganzen Lebens scheint nur mehr im praktischen Nutzen zu liegen. Er allein wird zum Wahrheitskriterium einer Lehre, einer Idee, eines Programms. Ob dieser Nutzen, der sich immer der Familie, der Gruppe, der Partei, der Klasse, der Rasse, der Nation zugute kommt oder nicht, lautet die einzig entscheidende Frage – der Nutzen auf dieser Welt ohne Transzendenz, dieser säkularisierten Welt, in der kein Platz mehr ist für objektiv-sittliche Werte. S. 102
Leider enttäuschend ist Czernins Vorstellung von Anarchie. Da er sie nicht definiert, bleiben nur wahnhafte Gedankenfetzen von ihr zu erhaschen. Dass es sich bei ihr um etwas ganz Schlimmes und Böses, ja, Krankes handelt, lässt sich zwischen den Zeilen permanent herauslesen. Und recht hat er: Wie krank ist es, aus Kirchen „Tempel der Vernunft“ zu machen – anstatt sie einfach zu ignorieren, zu Museen oder Theater umzufunktionieren? Selbstverständlich ging die Überwindung der Feudalgesellschaft mit der Entstehung der modernen Massengesellschaft, des atomisierenden Individualismus, der Zunahme von Entfremdung und neuen politischen Ideologien einher, welche das Sinn-Defizit der überkommenen Gesellschaftsform nur notdürftig ausfüllen konnten – und dabei selbst phasenweise äusserst problematische Ausprägungen annahmen. Das wissen wir aber alles und also stellt sich die Frage, was uns der Autor damit sagen will…
Was Czernin bei seiner Panik nicht begreift, ist jedoch, dass sein eigenes Denken und Sehnen ganz (verschrobener) Ausdruck seiner Zeit ist – während es überzeitliche, „objektiv-sittliche Werte und Normen nun einmal gar nicht gibt. Somit begründet er die konservativen Wert-, Ordnungs- und Gesellschaftsvorstellungen lediglich in Abgrenzung zum gefährlichen Verfall der konstruierten „christlich-abendländischen Kultur“ – und verdeutlicht damit, dass der Konservatismus gar nicht ohne Sozialismus und Liberalismus gedacht werden kann, sondern selbst ein Produkt der modernen Gesellschaftsform ist, wenngleich er ausserhalb von ihr stehend imaginiert wird.
Eine gewisse Wahrheit besteht darin, dass der Liberalismus konsequent weitergedacht werden und in den Anarchismus überführt werden sollte. Leider versteht Czernin darunter aber auch nicht viel mehr, als das Jugendliche nicht mehr auf Autoritäten hören, „die Grünen“ die Homo-Ehe einführen wollen und die ganze schöne Bonzen-Kultur zu Grunde geht, während sich in der untergehenden „Zivilisation“ das Faustrecht ausbreitet und die Muslime den Kulturkampf zu gewinnen drohen, weil der Westen so dermassen heruntergekommen und dekadent ist… Das ist eben das wirklich Enttäuschende an diesem Buch: Das man einfach nichts geboten bekommt, ausser super ausgelutschte Phrasen, präsentiert in der selbstherrlichen Angewohnheit, Zitate ohne Quellen anzugeben, so als wenn belesenen Menschen klar sein müsste, wo diese zu finden wären.
Die eigentlich spannende Frage also, wie Anarchist*innen Linksliberale anarchisieren können, kann mit dem Buch von Czernin leider nicht beantwortet werden. Bis man das Privateigentum vom ihm und seinesgleichen endlich vergesellschaften kann, bleibt vorerst nur, sich über ihn lustig zu machen, Autoritäten zu verhöhnen, die Kultur weiter zu Grunde zu richten und sich – einfach nur aus Gemeinheit – antichristlich zu benehmen. Leider bin ich nicht so optimistisch wie der Autor, dass sich die Anarchie dermassen weit verbreitet hat, wie er unterstellt bzw. kommen sieht… Für die eigene Verortung verweise ich noch mal auf mein Schema zu politischen Ideologien:
Rudolf Czernin: Vom Liberalismus zur Anarchie. Leopold Stocker Verlag 2002. 182 Seiten. ca. SFr. 18.00. ISBN: 978-3702009670.