Publizistische Tätigkeit und Aktivismus
Der Versuch Dolgoffs, sein Leben in Memoiren einzufangen, ist schon ein ganzes Stück. Seine publizistische Tätigkeit war geprägt durch die Gründung oder Mitarbeit an wichtigen libertären Zeitschriften wie Vanguard, Resistance, Views and Comments oder Spanish Revolution. Von den Gruppen, die er entweder mitgründete oder in denen er eine treibende Kraft war, seien hier neben der IWW nur die United Libertarian Organizations und die Libertarian League erwähnt.Sein Engagement rund um die Kubanische Revolution ist gemeinhin bekannt. Als damals der grössere Teil der anarchistischen Szene Castros Kuba tendenziell unterstützend gegenüberstand, engagierte sich Dolgoff mit der Libertarian League und kubanischen Exil-AnarchistInnen gegen diesen vorherrschenden Trend. Sein 1974 erschienenes Buch „The Cuban Revolution: A Critical Perspective“ bewirkte auch ein schrittweises Umdenken bei den AnarchistInnen. Dolgoff kannte das Who is Who der anarchistischen Bewegung – von Goldman, Rocker, Goodman, Bookchin bis hin zu (völlig zu Unrecht) kaum bekannten Anarchisten wie Grigori Maximow (Autor von „The Guillotine at Work: Twenty Years of Terror in Russia“, ein Buch über den bolschewistischen Terror gegen politische DissidentInnen) – und konnte dementsprechend in seinen Memoiren aus einem schier unermesslichen Fundus an Erfahrungen schöpfen.
Er hat natürlich auch einiges an inner-anarchistischer Debatte erlebt. Ob es sich nun um Diskussionen in der IWW oder um Streitigkeiten mit VertreterInnen anderer anarchistischer Strömungen handelt, es war alles dabei. In den 1960er Jahren beispielsweise, als eher organisationsfeindliche „Lifestyle“-AnarchistInnen sich in Gruppen wie Up Against the Wall Motherfuckers formierten, kam es nicht nur zu einem politischen, sondern auch zu einem Generationenkonflikt in der Szene, den er eindrücklich schildert.
Eine der Hauptmotivation Dolgoffs, seine Memoiren zu schreiben, schien paradoxerweise jene gewesen zu sein, an GenossInnen zu erinnern, die er im Laufe seines Lebens getroffen, mit denen er gemeinsam gekämpft, aber auch gestritten hatte. Das ist etwa daran erkennbar, dass viele Unterüberschriften die Namen jener GenossInnen tragen, die er entweder lobend erwähnt oder kritisiert. Dass man seine Memoiren dazu nutzt, um an weniger bekannte MitstreiterInnen zu erinnern, ist sympathisch und ehrt Dolgoff. Wobei, vielleicht liegt der Grund dafür auch ganz woanders: Es ist ein offenes Geheimnis, dass Dolgoff diese Memoiren nicht schreiben wollte und von FreundInnen dazu überredet wurde. Wie dem auch sei, sein Stil hat einerseits Vorteile, vermittelt er doch sehr eingängig einen Eindruck davon, wie viele engagierte AktivistInnen es abseits der bekannten Namen gab.
Das Ganze geht andererseits im Buch manchmal aber auch nach hinten los. Vor allem wenn er ehemalige GenossInnen weniger gewogen ist, driftet er zumeist in Trivialitäten und Polemiken ab und formuliert Kritik zunehmend nicht mehr auf einer politischen, sondern auf einer persönlichen und auffallend oberflächlichen Ebene, was immens schade und stellenweise schlicht ärgerlich ist.
Szene-Gossip ...
Die Stellen, wo Dolgoff diverse GenossInnen kritisiert, haben in der Regel etwas von grenzwertigem Szene-Gossip, der zwar nicht notwendigerweise uninteressant ist, dessen Sinnhaftigkeit und politischen Zweck man aber teilweise nicht recht verstehen mag. Zwar beschwert er sich zu Beginn (zu Recht) über „Sektierertum und belanglose persönliche Streitigkeiten“ (S. 24) in der Szene, betätigt sich dann aber selbst nicht gerade wenig in dieser zuvor noch gescholtenen Disziplin. Fast scheint es, als sei ein Teil seiner Memoiren der Abrechnung mit alten GenossInnen gewidmet. Das häufig wiederkehrende Motiv ist hier jenes von ehemaligen GenossInnen, die zu „Abtrünnigen“ wurden, während er hingegen stets und bis zuletzt seinen Überzeugungen treu blieb – so zumindest das von ihm gezeichnete Bild. Zu seiner Art zu kritisieren, liessen sich hierzu einige Beispiele aus dem Buch nennen, der Kürze halber sollen aber nur die folgenden exemplarisch angeführt werden:Sich beispielsweise recht polemisch über den Anarchisten Ammon Hennacy lustig zu machen – Dolgoff bedient sich hier nicht gerade harmloser Termini wie „Grössenwahn“ und „Verrücktheit“ (S. 108) –, weil dieser scheinbar zu sehr auf sich selbst und seinen Lebensstil konzentriert war, ist, wenn man ein bisschen eine Ahnung von Hennacys Konzept der One-Man Revolution hat, schwer nachvollziehbar. Sich damit zu rühmen, der christlichen Anarchistin Dorothy Day gesagt zu haben, dass die katholische Kirche scheisse sei, ist, ihre Biografie und Aktivitäten kennend, auch nur bedingt originell, zumal z.B. die Libertarian League (Dolgoff) und die Catholic Workers (Day) häufig auf einer solidarischen Ebene zusammenarbeiteten, was auch Dolgoff in seinen Memoiren nicht verschweigen kann.
Zuletzt erfährt man noch – warum auch immer –, dass „gemunkelt“ wurde, dass „Ammon ihr [Dorothy Day] erfolglos den Hof machte“ (S. 108). Was da in der New Yorker Szene auf der Techtelmechtel-Ebene so alles „gemunkelt“ wurde, ist eine weitere Information, die für Leute, die sich etwas zum Anarchismus Dolgoffs und seiner Zeit erwartet hatten, schlicht irrelevant ist.
Ein weiteres Beispiel: Dolgoff kritisiert nachvollziehbarerweise die politische Kehrtwende von Mark Schmidt vom Anarchisten zum Parteikommunisten, um dann allerdings noch anzuhängen, wie „skrupellos“ und „ohne Rücksicht auf die elementarsten Gebote der Moral“ (S. 37) Schmidt gehandelt hätte. Warum? Weil er einem Genossen scheinbar die Freundin ausspannte, und das, obwohl er sie vorher noch „einfältige Ignorantin“ (S. 37) genannt hatte. Sowas aber auch! Der eigentliche Vorwurf war der, dass Schmidt den namentlich nicht genannten Genossen offenbar als Streikbrecher denunzierte. Wie sich diese Beziehungsgeschichte hinein verirrt und warum sie als Mittel zur Kritik benutzt wird, ist schleierhaft bis skurril.
Was hier zum Ausdruck gebracht werden soll, ist, dass es ja okay ist, wenn Dolgoff ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudert, es aber störend und unfair wirkt, wenn er dazu übergeht, AktivistInnen (oder Gruppen) und ihr Lebenswerk in ein oder zwei spitz und teils unsachlich formulierten Sätzen (vermischt mit irrelevanten persönlichen Geschichten) im Akkord abzukanzeln. Und dazu lässt er sich nicht nur bei Leuten hinreissen, die er klar als politische GegnerInnen begreift.
Bei Murray Bookchin angekommen, macht Dolgoff das, was man sich öfter gewünscht hätte: Er erläutert kurz seine gemeinsame Geschichte mit ihm, geht auf dessen politische Positionen ein und erklärt nüchtern und ohne Polemiken, was die beiden politisch unterschieden hat. Doch bevor man noch anfängt, das Ganze so richtig zu geniessen, liest man nach knapp einer Seite Erstaunliches: „Abgesehen davon liegt es mir fern, an einem Rebellen herumzukritisieren, der neue Wege zur Freiheit sucht.“ (S. 95) Tatsächlich?
Dass dieses Credo im Buch lediglich für Bookchin Gültigkeit besitzt, ahnt man bereits, und es bestätigt sich spätestens, wenn man das Buch zu Ende gelesen hat. Und dieses Credo („Ich kritisiere nicht herum“) ist – wenn Kritik formuliert wird wie bei Bookchin – eigentlich auch schade. Andere AnarchistInnen oder Linke und deren Standpunkte solidarisch zu kritisieren, wenn man mit ihnen in bestimmten Fragen nicht einer Meinung ist, ist völlig in Ordnung, ja sogar förderlich für die Bewegung. Die Frage ist nur, wie man das Ganze tut – und hier zeigt Dolgoff leider immer wieder, wie man es am besten nicht tut.
… und warum Parsons Kommunistin wurde
Dolgoff verdammt Leute, mit denen er politisch nicht einer Meinung ist, aber nicht automatisch. Bookchin war ein Beispiel, Lucy Parsons ist ein anderes. Hier bedient Dolgoff sich einer wenig überzeugenden Erklärung, um Parsons im Sinne des Anarchismus doch noch „zu retten“. Da sich Parsons gegen Ende ihres Lebens immer mehr in Richtung Kommunismus ausrichtete, versucht Dolgoff sich an einer Theorie, warum sie das tat. Er erklärt sich das so, dass Parsons „sehr naiv“ (S. 53) gewesen sei, und „nicht fähig [war], den Unterschied zwischen Anarchismus und Bolschewismus (…) zu begreifen“ (S. 53). Die Behauptung, dass diese engagierte Anarchokommunistin (im übrigen auch IWW-Gründungsmitglied) nicht fähig gewesen sei, einen derartigen Unterschied zu begreifen, ist unerträglicher Paternalismus und wirkt wie eine blanke Verhöhnung dieser grossartigen Revolutionärin.Fernab dieser Szeneauseinandersetzungen, zu denen man stehen kann, wie man will, überschreitet Dolgoff einmal aber gründlich die Linie dessen, was in einer anarchistischen Publikation vertretbar ist. Über seine Israel-Reise und die Friedensbestrebungen jüdisch-israelischer AnarchistInnen rund um die Zeitschrift Problemen berichtend, schreibt er, dass diese nicht auf politische FührerInnen vertrauen, wenn es darum geht, Frieden zu schliessen, sondern dass sie den Frieden direkt mit dem „arabischen Volk“ (S. 168) schliessen wollen. Dazu, so die jüdisch-israelischen AnarchistInnen, müsste sich die arabische Bevölkerung aber zuerst ihren eigenen HerrscherInnen widersetzen.
Dies kommentiert Dolgoff nur lapidar: „Doch dazu sind die rückständigen [!], fanatisch religiösen arabischen Massen, die kein bisschen fortschrittlicher, sondern eher noch reaktionärer sind als ihre Führer, nicht gewillt.“ (S. 168) Diesen Satz liest man unweigerlich mehrere Male, um sich zu vergewissern, dass das tatsächlich so da geschrieben steht. Errico Malatesta ging mit einigen GenossInnen nach Ägypten, um sich antikolonialen Aufständen der lokalen Bevölkerung anzuschliessen. Martin Buber betrachtete die AraberInnen Israel/Palästinas als PartnerInnen für ein egalitäres und friedliches Miteinander. Für Dolgoff hingegen sind „die arabischen Massen“ (S. 168) nur eine homogene Gruppe rückständiger, reaktionärer Barbaren, über die er sich gerade mal abfällig äussert, mehr aber auch schon nicht. Man bleibt rätselnd zurück, was diesen Mann wohl geritten hat, als er diesen Satz zu Papier brachte.