In Anbetracht der aufmerksamkeitsgesteuerten medialen Mechanismen ist die von Gaycken ausgerufene Prämisse der Versachlichung in jedem Fall eine gute Richtung. Verschiedene Lager, so sein Argument, führten die Debatte um digitale Überwachung stark emotionalisiert. Dies erschwere Objektivität – notwendig für wegweisende Entscheidungen. Selbstsüchtig würde sich hier Metaphern und Narrativen bedient, die einen progressiven gesellschaftlichen Austausch verhinderten.
Freiheit versus Sicherheit?
Intensiv setzt sich Gaycken mit dem vermeintlichen Spannungsfeld der Grundwerte Freiheit und Sicherheit auseinander – ein wiederkehrendes Leitmotiv der Beiträge. Sie stünden im Konflikt der Art, dass sich wandelnde Sicherheitsansprüche einschränkend auf die Seite der Freiheit auswirken könnten. Und stellt sich indirekt gegen diesen verkürzenden Zusammenhang: Mehr Sicherheit gleich weniger Freiheit. Die Ausgestaltung dieses möglich negativen Mechanismus sei keine Naturgewalt, sondern hänge von rechtlichen Rahmenbedingungen und der sicherheitspolitischen Kultur ab. Die Technik zur Überwachung ist verfügbar. Die Qualität des politischen Willens gebe Art und Ausmass des Einsatzes vor.Den USA und ihrer berüchtigten Geheimdienste das grelle Label des totalitären Überwachungsstaates anzuheften, sei nicht angebracht. Hier lediglich Einzelfälle – oder in seinen Worten „Shit happens“ (S. 21) – vermeintlich überzogener Härte des Apparates hervorzuheben, sieht Gaycken als diskursives Mantra der Kritiker*innen. Unter dem Motiv eine Versachlichung der Debatte auch auf Seiten der Kritiker*innen digitaler Überwachungsmassnahmen anstossen zu wollen, ist der Punkt nachvollziehbar. Doch waren und sind es lediglich Einzelfälle? Allerspätestens durch die Snowden-Leaks wurde deutlich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die Kritiker*innen und ihre „Einzelfälle“ waren und sind mit ihren Vermutungen auf der richtigen Spur gewesen. Und werden es wohl bleiben. Es ist davon auszugehen, dass der Text vor den Leaks entstanden ist. Denn die Enthüllungen des amerikanischen Whistleblowers hätten wohl dazu geführt, dass „Shit happens“ den Redigierprozess nicht überstanden hätte. Eines wird deutlich: Die rasanten Schritte in der digitalen Entwicklung erfordern ein permanentes Update der kritischen Betrachtung.
Der Klassiker: Medien und die Sicherheit
Im Unterkapitel zur Konstitution des Überwachungsdiskurses beleuchtet Kai Biermann die mediale Inszenierung von vermeintlichen Sicherheitsbedrohungen. Dabei wäre das Objekt austauschbar, denn die Eigendynamiken der Medien ziehen im Sinne des Verkaufsarguments im Konkurrenzdruck die Emotion der Information vor. Gut für Quote und Klicks, dramatisch für den sachlichen Austausch von Argumenten. Die Darstellung von Bedrohungen thematisiere nicht die Kontexte, die zu dieser führen, sondern deren gefühlte Effekte – allen voran: Angst. Das verkaufe sich besser.Diese Logik der emotionalen Sensation treffe auch auf die Darstellung von digitaler Bedrohung zu. Stichwort: Konspirative Kommunikation über das Internet, die staatliche Überwachungsinstrumente erfordere. Am Beispiel der konträren Darstellung zweier Tageszeitungen von der Ermittlung rund um die Sauerlandgruppe, einer deutschen Zelle der Islamischen Jihad-Union (IJU), deren Mitglieder am 4. September 2007 festgenommen wurden, wird dies deutlich. Die diametralen Unterschiede der beiden Medien in der Ausdeutung digitaler, staatlicher Ermittlungsinstrumente machen die Wirkmacht und Verantwortung für die Wahrnehmung von Realität und der gefühlten Sicherheit deutlich.
Sicherheit ist vor allem eines: Gefühlte Sicherheit. Politische Akteure können sich dieser Dynamik effektiv bedienen. Denn wenn für die Medien der emotionale Bedeutungsrahmen (frame) der Sicherheit derjenige ist, der instinktive Angst schürt und damit Aufmerksamkeit generiert, kann sich der*die politische Akteur*in darauf verlassen, wenn er „die unnachsichtige Verfolgung von Verbrechern fordert, keine politisch relevante Gruppe [zu] fürchten. Er darf Beifall erwarten“ (S. 71). Biermanns Metapher der „Umwälzpumpe“ ist wohl treffend. Denn Medien, Behörden und Politik können sich gegenseitig instrumentalisieren, eine bewusste Komplizenschaft muss nach dieser Logik nicht unbedingt vorliegen.
Die Technik
Einen Überblick über die komplexe Technik, die staatliche Überwachung ermöglicht, liefert Andreas Dewald in seinem Beitrag zu forensischer Informatik. Onlinedurchsuchung, Quellen-Telekommunikationsüberwachung und Vorratsdatenspeicherung werden ebenso präsentiert wie deren Grenzen: Die verschlüsselte Kommunikation beziehungsweise Datenträger und die Schwierigkeit, IP-Adressen eindeutig zuzuordnen. Ähnliches gilt für Surfsticks und anonyme SIM-Karten. Spannend und für Techniklaien verständlich geschrieben. Ebenso: Der Fokus auf die rechtlichen Grundlagen und Paragraphen, die den Einsatz digitaler, staatlicher Überwachungsinstrumente legitimieren. Natürlich hat man das alles schonmal irgendwo gehört. Ist man bis jetzt jedoch noch nicht tiefer in die Materie eingestiegen, kann man hier so manches mitnehmen.Auch für Dewald und weitere Autor*innen spielt das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit bezüglich des Einsatzes der technischen Instrumente die entscheidende Rolle. Während für Gaycken die Qualität des politischen Willens das entscheidende Kriterium ist, führen sie hier den gesellschaftlichen Konsens ins Feld. Dieser stehe in Abhängigkeit zum Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft. Wohl eher düster, wenn man sich den Beitrag von Biermann vor Augen führt, wie Sicherheit, also auch die digitale, über die Umwälzpumpe und deren Maschinenführer emotional gestaltet werden kann. Düstere Realität, die in den Medien offen zu beobachten ist.
Fusion
Eine inhaltliche Fusion bis hierhin aufgeführter Blickwinkel wagt Nils Zurawski. Sein Text „Der Schatten von Datenschutz und Big Brother“ thematisiert kritisch die Methoden des Kampfes gegen digitale Überwachungstechniken unter dem Label und Argument des „Datenschutz“. Der Kampfbegriff „Datenschutz“ verzerre die Debatte. Reflexartig würden Metaphern zentralisierter Überwachung und Kontrolle hervorgerufen. Der Fokus auf Technik als solche sei ebenfalls hinderlich, um in der Gesellschaft für das Thema „Überwachung“ zu sensibilisieren.Für Zurawski bestimmen soziale Praktiken der Menschen, inwieweit es möglich ist Überwachungstechniken einzusetzen. Für den Überwachenden gilt es, sie in die Alltagspraxis der Gesellschaft einzubetten. Nur so können die Akteur*innen ihr Vorhaben realisieren, ohne sich in der düsteren Sphäre zu bewegen. Das Geschäftsmodells „Kundenkarte“ der Supermarktketten macht dies deutlich. Basierend auf Kenntnissen eigener qualitativer Erhebungen rücke hier die Überwachung des Einkaufsverhaltens in der Wahrnehmung der Kunden in den Hintergrund. Jedoch nicht nur, weil diese unbedingt einen vermeintlichen Vorteil durch versprochene Rabatte suchen. Denn die Kundenkarte sei Ausdruck einer emotionalen Beziehung zu einem wichtigen Eckpfeiler im Alltag des Konsumenten.
In der Debatte das Wort „Datenschutz“ in den Ring zu werfen, um Überwachung kritisch zu thematisieren, sei demnach zu schwach. Denn die Bereitschaft zur freiwilligen Herausgabe von Informationen liegt tief im menschlichen Selbsterleben verankert: In der Alltagspraxis, der individuell emotionalen Bindung an den Supermarkt, die von „Vertrauen“ (S. 131) geprägt ist. All dies drücke sich in der Kundenkarte aus. Das Label „Datenschutz“ könne da niemanden vom Hocker reissen, denn es greift die emotionale Beziehung zum einen nicht auf, zum anderen ist es im Kontrast zur Emotion zu schwach. Man könnte hier beispielsweise überlegen, dass Datenschützern besser geraten wäre, Kunden darauf hinzuweisen, ihr Vertrauen und die emotionale Bindung werde zur Überwachung ihres Kaufverhaltens ausgenutzt, ohne dass die Kundenkarte nachweislich versprochene Rabatte leistet.
Ebenfalls mahnt er, keine verallgemeinernden Schlüsse über die diffusen Strukturen der überwachenden Akteur*innen anzustellen. Die Analogie des Orwell'schen „Big Brothers“ auf die Realität zu übertragen, sei zum einen in seinem Zentralismus schlicht falsch. Zum anderen führte sie zu einer Hilflosigkeit der Bürger, die jede kritische Tätigkeit im Keim ersticke und zum anderen den Möglichkeiten, wie bereits erzielten Erfolgen bürgerlichen Engagements, nicht gerecht wird.
Mit den privaten Akteuren à la Silicon Valley geht er hart ins Gericht. Deren Vorstellung der Zukunft, die bishin zur Vision, den menschlichen Körper zu überwinden, reichen, lassen Diskussion um den Datenschutz schon seit langem links liegen. Die Frage stellt sich hier gar nicht. Und seien wir ehrlich: Die Realität ist doch schon längst eine ganz andere, als man Facebook, Google und co. mit dem Verweis auf „Datenschutz“ noch wirksam etwas entgegensetzen könnte. User*innen geben diese, ach so zu schützenden, Daten freiwillig her.
Diese „technofaschistische Idee“ (S. 124) gefährde – weit über die Sicherheit unserer Daten hinaus. Nämlich die „Demokratie sowie die Rechte zur Selbstverwirklichung des Menschen“ (ebd.). Fast vier Jahre nach Erscheinen des Sammelbandes mehr Realität als Dystopie. Diese Konzerne stellen in ihrem Selbstanspruch eine Konkurrenz zu Teilbereichen des Staates dar. Zum anderen liefern sie der Menschheit Technik, Handwerkszeug. Steht dies zur Verfügung, kann es genutzt werden. Schenkt man Berichten Glauben, stützen die Kampagnen Donald Trumps und der Brexiters ihren Erfolg unter anderem auf die Verwertung von freiwillig abgetretenen Facebook-Daten, verarbeitet mit der Methode der Psychometrik und entsprechenden Algorithmen zur gezielten, granularen Werbung, so existieren Methoden, die ein neues Zeitalter der politischen Kommunikation einleiten. Und somit als ein weiterer Faktor die Beschaffenheit der repräsentativen Demokratie herausfordern.
Für den Leser vermittelt der gut umgesetzte Anspruch der Interdisziplinarität ein vielschichtiges Bild des Themas „Überwachung“ durch den Staat. Die Unterteilung in Oberkapitel von den Grundbegriffen und Konstitution des Diskurses über die Strukturen der Überwachung hin zur Begründung selbiger verspricht ein komplettes Bild. Allerdings wird man trotz der Lektüre ein Gefühl nicht los: Die Welt der Algorithmen ist nach wie vor diffus und schwer zu fassen. Hier erweist sich die interdisziplinäre Umsetzung als mangelnde Tiefe im Detail. Denn dem Leser hätten vor allem im Oberkapitel zu Strukturen der Überwachung ruhig mehr grundlegende Vorgänge der Informatik und digitalen Technik vermittelt werden können, wenn man sich in den Beiträgen kritisch auf diese bezieht.
Der Fokus liegt zwar auf dem Staat als überwachenden Akteur. Jedoch sind es heute vor allem private Unternehmen, die im grossen Stile Daten sammeln und sich dabei öffentlicher Regulation entziehen. Ein Versäumnis, dass dieser Punkt nur an einigen wenigen Stellen Erwähnung und dann aber keine Tiefe findet.