Um diese Frage zu beantworten, verfolgt Schaupp die Selbstoptimierung auf der Grundlage von Feedbackschleifen zu ihren historischen Wurzeln in der kybernetischen Steuerungstheorie zurück und skizziert eine Theorie des kybernetischen Kapitalismus. Dabei wird deutlich, dass die Allgegenwart miniaturisierter vernetzter Computer unsere Gesellschaft grundlegend verändert. Nicht nur verschmelzen Kommunikation und Warenproduktion immer mehr zu ein- und demselben Prozess, sondern es bildet sich auch eine neue Form sozialer Kontrolle heraus, die wesentlich auf permanenten (digitalen) Feedbacks gründet.
Das Self-Tracking wird hier als Ausdruck der Entwicklung hin zu einem kybernetischen Kapitalismus analysiert, die verstehen sollte, wer die Funktionsweise von Herrschaft in hoch technisierten Gesellschaften durchschauen will.
Einleitung: Wenn du den Feind, also dich selbst kennst (Textausschnitt)
Das Ausspionieren politischer Gegner_innen ist beinahe so alt wie die Politik selbst. Schon das älteste Militärhandbuch der Welt, Sunzis "Die Kunst des Krieges" aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., weist die Spionage als einen der sechs Grundpfeiler erfolgreicher Kriegsführung aus. "Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten", heisst es dort. Neben dem blossen Informationsgewinn hat die Überwachung immer auch eine Disziplinarfunktion erfüllt. Wenn wir wissen, dass wir beobachtet werden, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass wir uns so verhalten wie es von uns erwartet wird. Der Google-Manager und Obama-Berater Eric Schmidt brachte dieses Verhältnis mit folgenden programmatischen Worten auf den Punkt: "Wenn es etwas gibt, von dem Sie nicht wollen, dass irgendwer es über Sie weiss, dann sollten Sie es vielleicht erst gar nicht tun." [1]In einer Zeit, in der die geheimdienstliche Totalerfassung digitaler Kommunikation zur Normalität geworden ist und in der Grosskonzerne Profile ihrer Kund_innen anlegen, die an Genauigkeit das kriminologische Profiling noch übertreffen, [2] hat sich eine neue Form der Überwachung herausgebildet. Diese neue Überwachung stellt eine kritische Perspektive vor allem deshalb vor neue Herausforderungen, weil sie die alten Gegensätze von Überwachenden und Überwachten aufzulösen scheint: Die digitale Selbstüberwachung, auch Self-Tracking genannt, die gegenwärtig einen wahren Boom erfährt. Laut einer Emnid Studie aus dem Jahr 2013 wollen 73 Prozent der Briten_innen und 62 Prozent der Deutschen gesundheitsbezogene Parameter mittels Self-Tracking überwachen. Die Hälfte der befragten Deutschen interessieren sich ausserdem für Daten zu sportlichen Aktivitäten und zu ihrer Bilanz von aufgenommenen bzw. verbrannten Kalorien. Insbesondere jüngere Menschen wollen sich dabei nicht nur selbst überwachen, sondern vor allem optimieren: Beinahe zwei Drittel der befragten Jugendlichen wollen auf Grundlage der Daten ihre Leistung steigern oder sogar ihr Leben ändern.
Begonnen hat der Trend mit den Schrittzählern für Jogger_innen, die mittlerweile meist als App ins Smartphone integriert sind, und neben den Schritten auch die Herzfrequenz, verbrauchte Kalorien und allerlei mehr zählen. Da das Smartphone ja gleichzeitig auch MP3-Player, GPS-Peilsender, Wetterstation, Tagebuch und vieles mehr ist, können dabei allerlei Daten korreliert werden. So kann ich nach wenigen Jogging-Runden erfahren, dass ich die beste Leistung erziele, wenn ich bei 16 Grad im Wald laufe, die Toten Hosen höre, in melancholischer Stimmung bin und die letzte Mahlzeit zwei Stunden zurückliegt. Diese Daten können dann ins Facebook-Profil integriert werden oder auf der Website des jeweiligen Anbieters z.B. in Rankings angezeigt werden. Tue ich das, so kann meine Joggingroute live mitverfolgt werden und meine Freund_innen können mich per Facebook anfeuern - was mir über die Kopfhörer meines Smartphones als frenetischer Applaus eingespielt wird.
Das Self-Tracking ist längst nicht mehr auf den Sport beschränkt. Beliebt ist beispielsweise auch die Zeitmanagement-Software. Diese misst, wie viel Zeit die Nutzer_innen mit verschiedenen Tätigkeiten verbringen und errechnet auf dieser Grundlage, wie "effizient" sie dabei sind - und wo sie sich verbessern sollten. Die grössten Anbieter von Zeitmanagement-Software sind RescueTime und TimeDoctor. Alleine RescueTime wird von knapp einer Million Personen genutzt. Den Nutzer_innen werden statistische Auswertungen ihrer Aktivitäten am Computer geliefert. Diese Statistiken werden in sogenannte "Produktivitäts-Punkte" umgerechnet, die dann mit anderen Nutzer_innen in Rankings verglichen werden können. Unter diesen sind dann Kommentare zu lesen wie: "Ich schlafe durchschnittlich nur vier Stunden und 48 Minuten, aber ich habe immer noch zu wenig Zeit. Was soll ich tun?"
Ausserdem verfügen die Programme über "Motivationshilfen" wie Alarme, die ausgelöst werden, wenn zu viel Zeit auf eine bestimmte Aufgabe verwendet wird, oder virtuelle "Orden", die für Hochleistungen freigeschaltet werden. Darüber hinaus können bestimmte "ablenkende" Webseiten gesperrt werden, so lange nicht ein bestimmtes Mass an Arbeit geleistet wurde. Die sogenannten "Team-Versionen" der Programme können zudem von Vorgesetzten dazu genutzt werden, genau zu überwachen, was ihre Untergebenen wann tun und ihnen gegebenenfalls mit der sogenannten "nudge"-Funktion [3] mitteilen, dass ihre mangelhafte Produktivität bemerkt wurde.
Das Einsortiertwerden in Rankings ist ein wesentlicher Bestandteil des Self-Tracking. Einige Anwendungen sind sogar ausschliesslich darauf ausgerichtet - eine Art Rating-Agenturen für Privatpersonen.