Slave Cubelas Beitrag zu den laufenden Debatten in Bezug auf eine Marxsche Klassenanalyse ist in zweierlei Hinsicht von Relevanz. Cubela wählt einen sozialhistorischen Ansatz, mit dem er sich auch von der „neuen Marx-Lektüre“ distanziert. Mit dem Bezug unter anderem auf Ansätze wie jene E.P. Thompsons und David F. Nobles will Slave Cubela die Marxsche Analyse auch für aktuelle Zeitdiagnose nutzbar machen.
Cubela definiert, mit Thompson, Klasse nicht als homogenes, starres Kollektiv, sondern als ein dynamisches aus dem eigenen, auch individuellen, Tun entstehendes. Ein solcher Klasse-Begriff schützt davor, aus einer abstrakten Klasse ein historisches oder revolutionäres Subjekt zu konstruieren. Cubela warnt entsprechend vor überhöhten Ansprüchen an eine idealisierte Arbeiterklasse und zitiert dazu Sheila Cohen: „Alle, die die Arbeiterbewegung erneut in Bewegung sehen wollen, müssen dort beginnen, wo die Arbeiterklasse ist, statt dort, wo sie sie zu sehen wünschen“ (S. 112).
Stichwortgeber_innen einer aktuellen Klassendebatte
Slave Cubelas Buch besteht in weiten Teilen aus Artikeln und vor allen Dingen Rezensionen, die bereits in der Zeitung express oder in der, leider mittlerweile eingestellten, österreichischen Grundrisse erschienen sind. Neben den bereits genannten Stichwortgebern Cubelas sind dies vor allem Beverly Silver („Forces of Labor“), die Bourdieu-Schüler Stéphane Beaud und Michel Pialoux („Die verlorene Zukunft der Arbeiter“) und Mike Davis („Planet of Slums“). Hinzuzufügen sind, auch wenn ihnen keine eigene Rezension gewidmet ist, Frances Fox Piven und Richard Cloward (deren „Aufstand der Armen“ ebenfalls dringend neu aufgelegt werden müsste).Cubelas Darstellungen dieser, allesamt in der Tat zentralen Werke für eine sozialhistorische Betrachtung von Klassen gehen allerdings weit über reine Zusammenfassungen und Bewertungen hinaus: Er bespricht nicht nur die jeweiligen Themen, sondern macht sich vor allem auch die Ansätze der von ihm favorisierten Autor_innen für eine Gegenwartsanalyse und Einordnung aktueller Problemstellungen nutzbar. Insofern sind seine „Rezensionen“ vielmehr eigenständige Beiträge zu einer aktuellen Debatte, die lediglich im Gewand von Buchbesprechungen daherkommen. Besonders hervorzuheben ist dabei die „Meta-Rezension“ („Politik im kapitalen Überfluss“), die dankenswerterweise die „New Imperialism“-Debatte gekonnt zusammenfasst.
Allerdings, das muss gesagt werden: Auch die vier anderen Beiträge, die aktuelle Ereignisse – insbesondere die Wirtschaftskrise beziehungsweise historische Reflexionen – zum Thema haben, stehen den Buchbesprechungen in nichts nach. Cubelas Reflexionen der Klassenrealität überzeugen nicht nur, wenn er sie, im wahrsten Sinne, nach-denkt, sondern ebenso, wenn er sie vor-denkt.
Klassenanalyse zwischen religiösem Fundamentalismus...
Es sind vor allem zwei Beispiele, die aufzeigen, wie Cubela den Einsatz der klassenanalytischen Sozialgeschichte für heutige Problemstellungen nutzbar macht. Mit Mike Davis und E.P. Thompson im Gepäck findet Cubela Erklärungsansätze für die Zunahme von islamischem und christlichem (evangelikalem) Fundamentalismus. Cubela vergleicht den (spezifischen!) englischen Industrialisierungsprozess mit den gegenwärtigen Industrialisierungs-, Proletarisierungs- und Akkumulationsprozessen in Asien, Südamerika und Afrika.Sowohl im historischen Beispiel Englands wie in den aktuellen Beispielen ist eine Gleichzeitigkeit von Industrialisierung, zunehmendem Freihandel und politischer Repression zu konstatieren – Cubela spricht von einem „psychosozialen Schock der kapitalistischen Modernisierung“ (S. 170). Und so, wie Thompson den Methodismus als Folge der englischen Industrualisierung beschreibt, fragt Cubela: „Sind es etwa diese psychosozialen Erschütterungen, die [...] heute im Islamismus und Evangelikalismus neue ‚Chiliasmen der Verzweiflung' produzieren?“ (S. 170f.) Am Anfang emanzipatorischer Strömungen können also durchaus fanatisch-religiöse Endzeiterwartungen (Chiliasmen) stehen, die sich erst in der sozialen Praxis, also historisch, wandeln. In seiner Reflexion des Davis'schen „Planet of Slums“ wird Cubela deutlicher:
„der einzig nachhaltige und internationale Beitrag der beiden letztgenannten Akteursgruppen [die „anmodernisierten Arbeiter“ und die „informell Beschäftigten“, Anm. T.B.] gegen die für sie bedrohliche Weltmarktkonstellation liegt in der Wiederbelebung der Religion als sozialem Widerstandspotential. Dass diese Wiederbelebung keine dauerhafte Alternative für die Zukunft des Widerstands darstellt, bedarf hoffentlich keiner weiteren Ausführung [...]. Da das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des Besiegtseins etwa in den riesigen Slums von Gaza, Bagdad, Kairo, Karatschi oder Teheran Alltag ist, kann da die Entstehung und Dynamik des Islamismus überraschen?“ (S. 99)
Diese Zeilen sind 2007 geschrieben und würden vermutlich 2015 angesichts der Aktivitäten des so genannten „Islamischen Staats“, Boko Harams und des Pariser Anschlags in Richtung Islam skeptischer ausfallen. Dabei sind die mit religiösen Fundamentalismus verbundenen Ereignisse der vergangenen acht Jahre zwar zunehmend beunruhigend, heben die These jedoch nicht auf – Evangelikalismus und Islamismus sind nach wie vor vergleichbar. Silvia Federici hat darauf hingewiesen, dass etwa das Phänomen der Hexenverfolgung in Afrika wächst – importiert vor allem durch evangelikale Missionierung. Auch ein Blick nach Latein- und Südamerika klärt darüber auf, dass dort ein christlicher Fundamentalismus oft dieselbe Funktion – eine „Religionisierung“ sozialer Konflikte – erfüllt wie der Islamismus in Afrika und dem Nahen Osten.
Die Folgerung, dass aktuell die Religion das deutlichste Widerstandspotential ausmacht, wurde schon früher geschlossen: Die aus der RAF hervorgegangenen „Antiimperialistischen Zellen“ (AIZ) wechselten in den frühen 1990ern die Ideologie vom Leninismus zum Islamismus und waren damit wohl die ersten islamistischen Terroristen in Deutschland. Selbstverständlich meint Cubela etwas anderes und liefert einen äusserst bedenkenswerten Handlungsvorschlag:
„so schwer es auch fallen mag, so ist es gerade für die metropolitane Linke doch wichtig eine analytische Position jenseits der ideologischen Dämme des Bürgertums zu behaupten, d.h. auch wenn es problematisch scheint den religiösen Chiliasmus der Verzweiflung angesichts seiner Gewalttätigkeit und Intoleranz nicht einseitig zu verdammen, gilt es sowohl die materiellen Gründe für diesen Chiliasmus zu benennen wie auch die Rolle der Hinterhofpolitik der westlichen Demokratien bei seiner Entstehung und politischen Funktionalisierung, um dadurch die entscheidenden Bedingungen für die Überwindung dieses Chiliasmus nicht aus den Augen zu verlieren“ (S. 102 – keine Angst, solche Bandwurmsätze sind in dem Buch nicht die Regel).
... und Rechtspopulismus
Ist religiöser Fundamentalismus die eine regressive Antwort auf die Wirtschaftskrise, so ist die andere das zunehmende rechtspopulistische bis extrem rechte Denken, das sich in ganz Europa und global bedenklich verbreitet. Die deutschen Beispiele hierfür sind in erster Linie die AfD und Pegida samt den zahlreichen lokalen und regionalen Ablegern. Auch dieser Aspekt ist sozialhistorisch keineswegs einmalig und lässt sich mit einem entsprechenden Instrumentarium analysieren und verstehen.Slave Cubela schildert dies am Beispiel der Studie „Die verlorene Zukunft der Arbeiter. Über die Peugeot-Werke in Sochaux-Montbélliard“ von Stéphane Beaud und Michel Pialoux: Im Zentrum steht ein Generationenwechsel in der Fabrik in den 1990er Jahren, der, einhergehend mit den entsprechenden Umstrukturierungen von Unternehmensseite aus (Arbeitsgruppen, neue Fabrik, sinkende Aufstiegs- und steigende Abstiegschancen), auch zu einem Bruch in der Kultur des Widerstands führt: Die alten, kollektiven Formen werden abgelöst durch individuelle Formen, die sich in Anpassung und „Flucht aus der Fabrik“ (S. 43) erschöpfen.
Ergebnis ist eine neue Generation, die sich von der Identität „Arbeiter“ und den Methoden der Arbeiterbewegung distanziert hat und sich zwar besser ausgebildet, aber doch mit weniger sozialen Aufstiegschancen konfrontiert sieht. Daraus folgt nicht nur eine „Krise der politischen Arbeiterschaft“ (S. 46), sondern auch eine doppelte Distanzierung (vom Establishment und von der Arbeiterherkunft). Patriotismus und Rechtspopulismus machen sich diese Leerstelle zunutze – die Zustimmung zum Front National steigt in den 1990er Jahren auf 20-25 Prozent, obwohl gleichzeitig bei Betriebsratswahlen die parteikommunistische Gewerkschaft CGT erheblich dazugewinnt.
Diese Ambivalenz beschreiben Beaud und Pialoux als spezifischen „Arbeiter-Rassismus“, der von strukturellen und konkreten historischen Entwicklungen beeinflusst ist, entstanden sowohl aus einem Misstrauen in die eigenen sozialen Umwälzungspotentiale als auch aus einer Ablehnung der „humanistischen“ Ideale einer sozialdemokratisch, ökologischen, demokratisch-sozialistischen und autonomen Linken. Letztlich also hat „nicht nur in Frankreich die Linke von ihrer Abwendung von der Arbeiterschaft mit einer sich stetig verschärfenden Marginalisierung ihrer selbst und der Herausbildung eines Bündnisses zwischen Arbeitern und konservativ-rassistischen Populisten bezahlt“ (S. 49).
Das ist sicherlich höchstens ansatzweise auf AfD und Pegida übertragbar, denn soweit es überhaupt ein Wissen über die soziale Zusammensetzung dieser beiden neuen Akteure gibt, sind diese eher aus einer abstiegsverängstigten „Mittelschicht“ (zu der aber eben auch durchaus qualifizierte Arbeiter_innen gehören) rekrutiert. Die Attraktivität dieser Ansätze resultiert auch daraus, dass sich die etablierten Akteure der Parteienlandschaft und auch der Gewerkschaften in den Augen vieler Arbeiter_innen diskreditiert haben (Stichwort „Agenda 2010“, Hartz I–IV, binnenimperialistischer Raubzug in den neuen Bundesländern Anfang der 1990er Jahre, aber auch dogmatischer Weltanschauungskommunismus). Auf der anderen Seite hat auch die „akademisch-kulturelle Linke“ (S. 50) kaum noch einen Bezug mehr zur Arbeiterklasse. Diesbezüglich ist eine strategische Wende unumgänglich.