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Starhawk: Wilde Kräfte

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Starhawk: Wilde Kräfte Von allen guten Geistern besessen…

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Sachliteratur

In diesem Moment weiss ich nicht mehr recht, was mich geritten hat, als ich mir zwei Bücher der US-amerikanischen Hexe Starhawk bestellte.

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Datum 28. August 2024
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Vermutlich lag es im Wesentlichen daran, dass sie als Anarchistin gilt und sich weiterhin dem Thema der Entfremdung widmete, was mich interessiert.

Denn Entfremdung ist gleichermassen die Folge von Herrschaftsverhältnissen, wie sie zu ihrer Aufrechterhaltung beiträgt. Das Buch Dreaming the Dark erschien 1982 im Original und dann erst 1993 in deutscher Sprache mit dem Titel Wilde Kräfte. Damit stellt die Lektüre auch eine Zeitreise dreissig Jahre und mehr zurück dar – was insofern interessant ist, als dass es ebenso deutliche Parallelen wie auch Unterschiede in diesem Genre zu geben scheint. Dass Spiritualität auch in einigen anarchistischen Kreisen durchaus auf Interesse stösst, ist Grund genug, sich mit dem Thema zu beschäftigen.

Dabei mag es dem Verlag geschuldet sein, dass es weit weniger um Sex geht, als der Untertitel und der Klappentext behaupten. Sexualität ist für Starhawk zwar ein omnipräsentes Thema, ebenso wie die Rede von verschiedenen „Energien“, welche die Welt durchziehen – zugleich geht sie auf die sexuelle Interaktion im engeren Sinne kaum ein. Die neun Kapitel stellen vielmehr als eine Verbindung zwischen Selbstreflexion, Wiederentdeckung einer magischen Sprache, Fragmenten von Erfahrungsberichten aus neuheidnischen Ritualen, Lebensberatung, Tipps für die Organisation und Gestaltung anarchistischer Gruppen und Erlebnissen aus einer Blockade gegen den Neubau eines Atomkraftwerkes, dar. Etwas anstrengend, aber zum proklamierten flow der Autorin sicherlich passend ist, dass sie immer wieder zwischen den Ebenen springt.

Starhawk widmet sich ausserdem den feministischen Themen und tritt etwa konsequent für das Recht auf Abtreibung, freie Liebe ein, die Option der Verweigerung von Mutterschaft, sowie die Betonung der weiblichen Körperlichkeit ein. In Bezug auf Letzteres scheint ein dualistisches Denken auf, wie es in „spirituellen“ Szenen nach wie vor weit verbreitet ist – und damit gerade ein Abbild der westlich-modernen, kapitalistisch-industrialisierten Gesellschaftsform ist, zu welcher man glaubt ein Gegenmodell zu bilden. Allerdings reflektiert die Autorin dies und betont, dass es bei Weiblichkeit/Männlichkeit um im Kosmos angelegt Facetten der von uns wahrgenommenen Welt geht, was wiederum die Mythenbildung unterschiedlichster Kulturen beeinflusste. Insofern würde sie sich auch offen für queerfeministische Erweiterungen zeigen, ist aber als Kind ihrer Zeit massgeblich vom Differenzfeminismus geprägt.

Was die Neuentdeckung des Neuheidentums angeht, war ich immer skeptisch. So sehr mich mythologische Erzählungen interessierten und ich es wichtig finde, den reduktionistischen Materialismus einer marxistischen Linken zu hinterfragen und zu erweitern, erschienen mit neue Hexenkulte und dergleichen eher verdächtig. Dabei beziehe ich mich auf jene Gruppen, Rituale, Denkweisen usw., bei denen es sich nicht lediglich um esoterische Geldmaschinen mit der Zielgruppe gelangweilter Hausfrauen handelt. So geht Starhawk beispielsweise davon aus, dass es überall auf der Welt spirituelle Kulte gab und gibt, die sich erstaunlich ähnlicher Methoden und Rituale bedienten. Abgesehen davon, dass der Synkretismus in Hexenkulten sicherlich weit verbreitet ist, scheint es ein besonders US-amerikanischer move zu sein, verschiedene kulturelle Elemente auch munter nebeneinander her stehen zu lassen – Hauptsache die Rituale funktionieren und irgendetwas fühlt sich „magisch“ an.

Allerdings muss ich zugeben, dass Starhawk hier einige valide Punkte trifft. Die Offenlegung dessen, dass Menschen sich stets in symbolisch-imaginären Welten bewegen, macht es möglich, diese zu gestalten. Unser daraus abgeleitetes Selbst- und Weltverhältnis ist nicht in Stein gemeiselt, sondern gerade von emanzipatorischen sozialen Bewegungen mitzubedenken und zu thematisieren. Damit wird auch denkbar, dass Entfremdung graduell überwunden werden kann – was zugleich Voraussetzung für emanzipatorische Kämpfe und ihr Ziel ist. Analog dazu sehe ich auch die anarchistische Erzählung einer notwendigen Regeneration der Welt, welche sich etwa bereits im Denken von Elisée Reclus finden lässt.

Mit anderen Worten: Hexenrituale und -erzählungen sind meines Erachtens danach zu bemessen, was sie den Einzelnen bringen und welche Handlungen sich daraus ableiten. Wenn wir Kulte erschaffen, in denen Nazis verdammt werden, öko-feministische Anliegen thematisiert werden, der Kapitalismus angeprangert und sich von Staatlichkeit distanziert wird – warum nicht? An die Lächerlichkeit und Gefährlichkeit völkischer Anastasia-Sekten wird man damit niemals herankommen. Rituale können dazu beitragen, emanzipatorischen Gruppen oftmals zu Kontinuität, Verbindlichkeit, Konsensfähigkeit und Zielorientierung zu verhelfen. Worauf wir uns beziehen und wie wir sie gestalten, liegt dabei in unseren eigenen Händen.

Erwähnenswert ist ein Beitrag im Anhang mit dem Titel Die Zeiten der Verbrennungen: Notizen über eine entscheidende Periode der Geschichte. Lange vor Silvia Federicis Caliban und die Hexe (2004) beschäftigt sich Starhawk mit einem dunklen Kapitel der europäischen Geschichte, stellt heraus, dass die Hexenverfolgungen gerade zum Anbruch der Neuzeit geschahen, mit Vertreibungen und Enteignungen von Gemeingut verbunden waren und zur staatsterroristischen Niederhaltung der Volksklassen bei der Durchsetzung des kapitalistischen Staates dienten.

Einige ins Deutsche übersetzte Texte von Starhawk finden sich HIER. Darüber hinaus betreibt sie eine eigene Homepage. Das Hexendasein wäre nichts, wenn man nicht auch herzlich darüber lachen sollte. So etwa in einem fiesen Kommentar zu einem Auftritt von Starhawk in Berlin von 1988 in der TAZ.

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Starhawk: Wilde Kräfte. Goldmann 2010. 328 Seiten. ca. SFr. 11.00. ISBN: 978-3442121694.