Es geht aber eben auch darum, den Zusammenhang zwischen Deklassierung und Ressentiments zu belegen: Denn das eine wie das andere – die Deklassierung der Ostdeutschen und ihr Groll gegen die Institutionen ebenso wie gegen Geflüchtete – sind für ihn Realität. Es ist dabei durchaus positiv festzuhalten, dass er zwar mitunter auch von „Gefühlen“ spricht, etwa dem Gefühl des Zukurzkommens, die tatsächlich vorhandene ökonomische Ungleichheit und kulturelle Abwertung, diese aber nicht als blosse Befindlichkeiten abtut, wie es die Rede von Deklassierungsgefühlen und Abstiegsängsten sonst so oft suggeriert.
Für Mau sind die Probleme Ostdeutschlands nicht einfach das Erbe der DDR, die sich mit der Zeit auswachsen werden. Anhaltende Strukturschwäche und niedrige Produktivität, Misstrauen gegenüber der Politik und nicht zuletzt eine Anfälligkeit für rechte Polemik, sind nicht allein auf Staatssozialismus und DDR-Sozialisierung zurückzuführen. Zweifellos sind sie auch nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Vor allem aber, so Mau, wurden sie in der Nachwendezeit reproduziert und sogar verstärkt.
Einer von uns
Damit ist auch schon die Anlage des Buches umrissen. Der erste Teil befasst sich mit dem Leben in der DDR als dem Ausgangspunkt für den Wandel der ostdeutschen Gesellschaft. Der zweite Teil widmet sich dem Umbruch in der Transformationsphase bis heute – und dazwischen, wie ein Relais, steht ein kurzes Kapitel über die Wende.Das Bemerkenswerte an dem Buch ist nicht so sehr die These, und nur bedingt die Durchführung, sondern die Darstellungsweise. Mau verwebt die makrosoziologische Argumentation und statistische Evidenz gekonnt mit eigener Anschauung und Selbsterlebtem. Über weite Strecken stützt die eigene Erfahrung die wissenschaftliche Argumentation und die von ihm durchgeführten Interviews steuern illustrative O-Töne bei. Auf diese Weise gelingt es ihm, ein sehr anschauliches Bild der ostdeutschen Teilgesellschaft zu zeichnen.
Vermutlich bedarf es des Blickes eines Soziologen, um das eigene Leben so in Einklang mit den Daten zu bringen – und wo es das nicht ist, dies als unwahrscheinlichen Ausnahmefall anzuerkennen, etwa als Ostdeutscher eine Professur innezuhaben. Nur an ganz wenigen Stellen passt sich das Erlebte oder Beobachtete nicht ohne Weiteres ein, um die generellen Aussagen und Befunde zu konkretisieren. Wo dies aber doch einmal passiert, vermag sich Generalisierung an Erfahrung zu reiben. Die Stellen setzen kleine Kontrapunkte, die zwar nicht zu Irritation von quantitativer Analyse und Typenbildung führen, aber doch daran erinnern, uns vor vorschnellen Pauschalisierungen zu hüten und zumindest genau hinzusehen.
Früher war alles gleich
In gewisser Weise ist Steffen Mau damit ein Wagnis eingegangen. Er kommt selbst aus Lütten Klein und doch ist er einer, der weggegangen ist. Es gibt da eine Ambivalenz, die eben nicht vollständig aufzulösen ist:„Zu vielen und zu vielem habe ich sowohl Distanz als auch Nähe empfunden. Distanz, weil mein eigenes Leben heute mit dem Lütten Kleiner Alltag so wenig gemein hat; Nähe, weil mir die Art, auf die Welt zu schauen, und das mentale Gepäck vieler Bewohner dann doch vertraut waren.“ (S. 20)
Zudem gilt es dabei, den professionellen Abstand zum Gegenstand zu wahren. Mau findet hier meist den richtigen Ton zwischen Sympathie und Reserviertheit, ohne in zynischen Soziologenjargon zu verfallen. Gegen Vereinnahmungsversuche ebenso wie gegen zweifelhafte Etikettierungen etwa als „Ossiversteher“ wappnet er sich, indem er mitunter überdeutlich Stellung bezieht.
Seine Charakterisierung der DDR-Gesellschaft fällt dann auch recht harsch aus: Die offiziell proklamierte und auch heute noch von vielen erinnerte (grössere) Gleichheit erweist sich bei ihm in erster Linie als Gleichförmigkeit. Sozialstrukturell war die DRR „eine gedeckelte und nach unten gedrückte Gesellschaft“ (S. 245), die auch keine Diversifizierung von Lebensstilen kannte oder zuliess; sie war geprägt durch eine „arbeiterliche Kultur“ (S. 14), ohne eine besondere Verfeinerung des Geschmacks hervorzubringen. Ausserdem war es eine ethnisch homogene Gesellschaft, die kaum Anlass gab, sich mit anderen Kulturen zu befassen. Anders als in ihrer Frühphase zeichnete sie sich zum Ende hin durch eine „starre Sozialstruktur“ (S. 15) aus, bei der die soziale Mobilität durch verstopfte Aufstiegskanäle blockiert war.
Dies festzustellen hindert ihn aber keinesfalls daran, das Problem der strukturellen Ungleichheit heute ebenso klar zu benennen. So einiges davon setzt sich, so Maus Analyse, nach dem Systemwechsel fort, wenngleich aus ganz anderen Gründen. Diesmal finden sich die Ostdeutschen unter den Vorzeichen der Marktwirtschaft erneut „auf [den] untere[n] Rängen“ (ebd.) der Gesellschaft zusammengedrückt, ohne Aussicht auf sozialen Aufstieg. Denn die gehobenen Positionen sind nun – durch einen umfassenden Elitentransfer von West nach Ost – besetzt und deckeln gewissermassen die soziale Mobilität in Ostdeutschland.
Ungleichheit für alle
Ohne Frage ist „Lütten Klein“ ein lesenswertes Buch. Aber ist es auch ein nützliches? Da ist zum einen die Ankündigung, der Autor wolle nur eine „nüchterne Bestandsaufnahme“ (S. 16) liefern. Tatsächlich bleibt er dabei stehen und gibt „keine konkreten Reparaturempfehlungen“ (S. 248). Dies ist nicht blosse Rhetorik, denn das Buch bietet kaum Ansatzpunkte, von denen eine veränderungswillige Praxis ausgehen könnte.Zum anderen wäre da noch die Bedeutung der sozialen Mobilität. In diesem Begriff findet das Buch ganz offensichtlich seinen theoretischen Angelpunkt zur Beschreibung und Bewertung von Ungleichheit. Sie sei der zentrale Mechanismus für die soziale Integration der unterschiedlichen Schichten in die Gesellschaft. Aus dieser Perspektive ist nicht Ungleichheit selbst das Skandalon, sondern ein nicht eingelöstes Aufstiegsversprechen. Es scheint fast, das Problem bestünde nicht darin, dass weite Teile der Gesellschaft systematisch einen geringeren Lebensstandard haben.
Zum Problem wird es nur, wenn die Leute realisieren, dass es auch so bleiben wird. Eine Ungleichheitsforschung, die ihren Untersuchungsfokus so verschiebt, büsst ihr kritisches Potential weitgehend ein. Aber vielleicht dokumentiert sich in diesem Buch auch nur der generelle Trend, der Gleichheit längst zur „Chancengleichheit“ umdefiniert hat. Da wäre es dann allerdings kein Wunder, wenn sich die Benachteiligten von solch einer affirmativen Wissenschaft abwenden.