Klassifizierung, Konsum, Subversion
Das Systematisierungstool der NATO zeigt ihre koloniale, herrschaftsförmige Art, sich die Dinge in der Welt zu eigen zu machen – ordentlich, sortierbar, verwertbar. Natürlich muss eine weltweite Kriegsmaschinerie samt all ihrer Armeen über ein möglichst genaues Klassifizierungssystem ihrer militärischen Geräte und der mit Kriegshandlungen zusammenhängenden Gegenstände verfügen – „Take this, enemy! Wir haben noch rund 2000 Kriegsschiffe!“ (NSC 1905 – Combat Ships and Landing Vessels, S. 47); oder auch: „Melde, der Bestand an Särgen wird wieder eng!“ (NSC 9930 – Memorials, Cemetarial and Mortuary Equipment and Supplies, S. 204). Aber wie umfassend zeigt sich das hegemoniale Denken des Kriegsbündnisses eigentlich, wenn ihr kryptischer Militärjargon auch für Eiscreme (NSC 8910), lebendige Tiere (NSC 8820), Blumensamen (NSC 8730), Kerzen (NSC 6260) und so weiter gilt? Hier versucht Treister mit ihrer Arbeit, Bewusstsein zu wecken.Systematisches Katalogisieren ist in der westlichen Kunsttradition tief verankert – zahlreiche alte Lexika von Flora und Fauna zeugen beispielsweise davon. Im Band wird dies aber zur Entlarvung genutzt, wie die Künstlerin in ihrer Einleitung schreibt, „mit der dazugehörigen Intention und dem Subtext, dem Memento Mori, den Vorstellungen von Eigentum und Wissen“ (Übersetzung JB, S. 7). Treisters subversiver Blick scheint an den Stellen durch, an denen sie beispielsweise der kolonial triefenden NSC 9915 – Collectors and/or historical Items (Includes Antiques; Artifacts; Coins; Stamps; Rare Books, Works of Art; Collectors and/or Historical Gems; Jewelry and Cut precious Stones; Natural History Items) – ihr gemaltes Aquarellbild von Pablo Picassos Guernica über den Spanischen Bürgerkrieg (1937) hinzufügt. Oder, wenn die Beschreibung des Bildes zu NSC 7820 – Games, toys and wheeled goods – wie folgt lautet: „Der Nordatlantikrat besucht die Ukraine, Minenbeseitigungsanlage in Donezk (2002): Nato-Generalsekretär Lord Robertson erhält als Andenken eines der Spielzeuge, das aus den recycelten Materialien der Landminen hergestellt wurde“ (Übersetzung JB, S. 160).
Insgesamt ist das Werk eine abschreckende Erinnerung an die Unterwerfung unter den militärisch-industriellen Komplex samt seiner Kontroll-, Kommunikations- und Informationssysteme. Treisters Projekt verknüpft das Kodifizierungssystem des mächtigen Kriegsbündnisses mit den Angebots- und Nachfrageketten des kapitalistischen Systems insgesamt.
Sie verweist zudem auf die militärischen Ursprünge vieler wirtschaftlicher Alltagsobjekte (etwa im Bereich der Überwachungstechnologie) oder die Übernahme von Begriffen; „Logistik“ etwa wurde bis vor wenigen Jahren noch rein militärisch genutzt. Marek Kohn, der ein Begleitwort zum Band beigesteuert hat, schreibt, die NATO Maintenance and Supply Agency (NAMSA), also die Agentur, die sich um Angebot und Nachfrage der NSCs kümmert, spräche „nicht die Sprache des Befehls, sondern die des Handels, des Wettbewerbs und ihrer Kunden“ (Übersetzung JB, S. 9). Die Lieferkette der NATO sei „ein Geschäftsvorgang wie jeder andere, bei dem Kisten von den Lieferanten zu den Kunden befördert werden. Es ist weitgehend gleichgültig, ob die Kisten Eimer oder Bomben (buckets or bombs) enthalten.“ (ebd.)
Krieg in Aquarellfarbe
Treisters Arbeit zeigt die Verwobenheit von militarisierter Ideologie und Alltagswelt, vermittelt durch Kunst. The Art of War. Ihr Blick widmet sich auch dem Gedenken an die zerstörten Leben in den Kriegsgebieten des 20. und 21. Jahrhunderts, wenn sie etwa NSC 8730 – Seeds and Nursery Stock (includes: Cut Flowers) – das Bild zweier junger Mädchen zuordnet, die an der Stelle eines Bombenanschlags mit 43 Toten in Sarajevo, Bosnien-Herzegowina, Blumen ablegen.Die technokratische Systematisierung, die Treister in ihrem Werk ins Zentrum rückt, ist gleichzeitig auch sehr konträr zu dem, was Krieg neben Profitgier vor allem ist: Krieg ist zerstörerisch, verheerend, schmutzig; Krieg ist andauernde und erbarmungslose Grenzüberschreitung und qua Definition gegen Land, Leben, Körper und Zukunft von Menschen gerichtet. Treisters Hoffnung, ihre Bilder mögen eine „Matrix des Unbehagens“ (S. 7) mit der heutigen Zeit auslösen, fällt daher, und vor allem angesichts von längst überfälligen Forderungen zur Re-Politisierung von Kunst, zu wenig politisch aus.
Dabei gibt es Kunstschaffende, die den Terror und das Grauen, aber auch die ökonomischen Strukturen der weltweiten Kriegsmaschinerien deutlicher ans Licht tragen. Die Kuratorin und Künstlerin Ezgi Erol beispielsweise hat vor einigen Jahren in Wien unter dem Ausstellungstitel krieg kuratieren einige sehr eindrückliche Werke hierzu zusammengetragen. Die Ausstellung beschäftigte sich mit Fragen danach, wie Krieg organisiert und ideologisch gerechtfertigt wird und wie das Verhältnis von Kunst und Krieg überhaupt darzustellen ist. Die Künstler:innen fragten danach, welche Form der Militarisierung des Lebens (nicht) wahrgenommen wird; und vor allem, welche ökonomischen und ideologischen Verflechtungen sich zwischen Kunstinstitutionen und Kriegstreiber:innen, zwischen Kulturschaffenden und Waffenproduzenten, zwischen Organisationen der Zivilgesellschaft und den Bellizist:innen von heute ausmachen lassen.
Kunst, die sich klar antimilitaristisch positioniert, Kriegsprofiteure benennt und Anklage erhebt, ist angesichts des zunehmenden Kriegsgeheuls innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zentral. Auch, wenn ihr das den Vorwurf der Instrumentalisierung der Kunst einbringt. Vages Unbehagen auslösen reicht nicht, wir brauchen ein kollektives Begreifen davon, dass unser Widerstand gegen Elend und Militarisierung der Welt notwendig ist – auch vermittelt durch Kultur. Wir brauchen wieder mehr politischen Realismus und künstlerische Intervention, die ihrem Namen Ehre macht.
Krieg mit Haut und Haar
Die Arbeit Forensic Body (2018) von Songül Sönmez in Erols Ausstellung thematisierte etwa die Kriegshandlungen der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 in Nordkurdistan. Fünf lange Haarzöpfe in Glashülsen und dazugehörige Soundinstallationen erzählten die (forensischen) Geschichten von fünf Frauen, die (wie viele andere) während dieser Zeit von Militär und Spezialeinheiten der Polizei ermordet wurden. Die Künstlerin thematisiert damit die vom türkischen Staat über Frauen*körper ausgeübte systematische Gewalt, wie sie in einem Interview mit dem migrazine berichtet; aber spezifisch beschreibt sie die „Tötungspolitik, die die türkische Regierung hier verfolgt“ als „Kriegspropaganda, die auf den Körpern von Frauen und Kindern gemacht [wird]“.Diese und weitere Arbeiten der Ausstellung hallen in der Betrachterin nach; auch und insbesondere, weil ihre Aktualität nicht erlischt. Das jahrzehntelange NATO-Bündnismitglied Türkei kann nämlich, ohne jegliche Reaktion der anderen Mitglieder, weiterhin erbarmungslose Repression und Gewalt gegen politische Feinde ausüben – auch gegen Kunstschaffende! – sowie Grenzverletzungen und völkerrechtswidrige Invasionen in seinen Nachbarländern lancieren.
Menschenleben haben keinen eigenen Eintrag in den Kodifizierungssystemen der NATO, mit denen Suzanne Treister uns vertraut macht. Macht uns das damit potenziell zu wertlos Unterworfenen – oder zum Gegenteil davon?